XII.

 

Die Felswand ragte wie eine riesige Mauer vor der venezianischen Handelsgaleere auf, und dennoch fanden Bäume und Sträucher genug Platz, um den Berg Athos in einen grünen Mantel zu hüllen, der nur an einigen Stellen von den schlichten Gebäuden eines Klosters durchbrochen wurde. Marie hatte inzwischen erfahren, dass Schiffe an speziellen Plätzen anlegen durften. Da sich an Bord des ihren jedoch Frauen befanden, musste die Galeere sich einen Pfeilschuss weit vom Ufer entfernt halten. Den Erzählungen der Matrosen nach, die der Russisch sprechende Steuermann für Marie übersetzte, duldeten die Mönche nicht einmal weibliche Tiere auf Athos und mussten daher auf Milch und Eier verzichten. Eine so strenge Haltung erschien ihr arg übertrieben, und sie fragte sich, wie Pantelej, der sowohl in Worosansk wie auch in Konstantinopel die Freuden der Tafel genossen hatte, in einer solch kargen Umwelt glücklich werden sollte. Doch er hatte diesen Weg nun einmal gewählt und das Boot, mit dem er in sein neues Leben treten würde, wurde bereits auf sie zugerudert.

Der Priester trat aus der Kabine unter dem Achterdeck, die er sich mit Andrej geteilt hatte, und trug in der einen Hand einen Stock und in der anderen ein kleines Bündel. Beides legte er an Deck ab, kam dann auf die Kinder zu und zeichnete jedem das Kreuz auf die Stirn. Über seine Wangen liefen Tränen und verfingen sich in seinem langen Bart, der weitaus grauer wirkte, als Marie es in Erinnerung hatte. Nun segnete der Pope Gelja, die vor ihm auf die Knie sank, und wandte sich dann Alika zu, die er zu Beginn so stark bekämpft hatte. Auch ihr malte er das Kreuz auf die Stirn. Nun war Anastasia an der Reihe. Die Fürstin weinte so herzzerreißend, als verlöre sie einen lieb gewordenen Verwandten.

Pantelej legte ihr die Hand aufs Haupt und rang sich ein Lächeln ab. »Vertraue auf Gott, meine Tochter, und auf die Heilige Jungfrau. Sie werden dir den rechten Weg weisen. Und dir auch, Andrej. Beschütze die Fürstin!«

Der Priester umarmte den jungen Recken und blieb dann vor Marie stehen. »Du bist stark, Frau aus dem Westen, und wirst diesen verlassenen Seelen ein Leitstern sein in einer ihnen fremden Welt. Gott sei mit dir!«

Sein Daumen berührte ihre Stirn und formte das Kreuz, dann drehte er sich um und blickte wehmütig auf das Boot des Klosters hinab. Marie schluckte ihre Tränen hinunter und folgte dem Priester bis zur Reling. »Möge Gott auch mit dir sein, Pantelej Danilowitsch. Bete auch für mich!«

»Das werde ich tun. Gott segne euch alle!« Der Priester grüßte noch einmal die Menschen, mit denen er zweimal die Gefahren der Flucht geteilt hatte, und ließ sich von den Matrosen über Bord heben.

Unten wurde er von starken Armen empfangen. Marie sah zu, wie er sich in der Mitte des Bootes hinsetzte und starr zu der von Pinien gekrönten Halbinsel blickte. Offensichtlich hatte er seine Vergangenheit abgestreift wie ein altes Hemd. Ein wenig beneidete sie ihn deswegen, denn ihr graute vor dem Weg, der noch vor ihr lag, und vor dessen ungewissem Ende.

Eine Hand stahl sich in die ihre. Als sie sich umwandte, stand Anastasia neben ihr. Das Gesicht der Fürstin war bleich und ihre Lippen zitterten. »Es kommt mir so vor, als hätte ich meine Heimat nun endgültig verloren.«

Andrej ergriff die andere Hand der Fürstin und drückte sie sanft.

»In Gedanken wird Pantelej immer bei uns sein. Möge er hier den Frieden finden, der ihm weder in Russland noch in Konstantinopel vergönnt war.«

Anastasia blickte lächelnd zu ihm auf. »Du hast Recht. Pantelejs Geist wird uns immer leiten, wohin wir uns auch wenden werden.«

Wie auf einen geheimen Befehl blickten beide Marie an, auf deren Rat und Wirken sie nun angewiesen waren. Sie besaßen weder genug Geld, um in einem der westlichen Länder standesgemäß auftreten zu können, noch kannten sie einen Menschen, der bereit gewesen wäre, ihnen beizustehen.

Das Vermächtnis der Wanderhure
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