148.

Grace hörte das Bellen ungefähr drei Sekunden, bevor das Telefon klingelte.

Sie war noch immer ein wenig groggy und wartete darauf, dass Sam abhob, doch nach dreimaligem Klingeln wurde ihr klar, dass er rausgegangen sein musste, und so hob sie selber ab.

»Ich habe dich geweckt.« Es war Davids Stimme. »Tut mir leid.«

»Schon okay.« Grace verspürte einen Hauch von Sorge. »Ist mit Saul alles in Ordnung?«

Unten bellte immer noch Woody.

»Ja, alles bestens«, versicherte ihr David. »Er hat sich gefreut, dich zu sehen und dass es dir gut geht.« Er hielt kurz inne. »Es ist Sam, hinter dem ich her bin.«

»Ich weiß gar nicht, ob er hier ist.« Grace beschloss, nach unten zu gehen, um Woody zu beruhigen, bevor Cathy auch noch aufwachte. »Möchtest du dranbleiben, während ich mal nachsehe?«

»Könntest du ihm einfach sagen, dass ich mir Sorgen um Terri mache?«, bat David. »Saul hat mich vor einer Weile gebeten, sie anzurufen, um zu sehen, wie es ihr geht; aber sie geht nicht ans Telefon. Vielleicht hat sie es abgeschaltet, aber solange Saul im Krankenhaus liegt, halte ich das eher für unwahrscheinlich.«

»Das sehe ich genauso«, stimmte Grace ihm zu.

»Vielleicht kann Sam jemanden von ihrer Einheit bitten, mal an ihre Tür zu klopfen. Sie wohnt ja nicht weit weg von der Arbeit, und …«

»Ich werde es ihm sagen.«

Der Schrei zerriss die Luft.

»Mein Gott.« Grace kletterte aus dem Bett. »David, es ist etwas passiert!«

»Grace …?«

Doch Grace hatte den Hörer bereits fallen lassen und war durch die Tür. »Cathy, ich komme!«

»Es ist Sam!«, schrie Cathy. »Ruf die 911!«

Der Schrecken fühlte sich wie eisige Lava an, die ihr Inneres mit jedem Schritt mehr füllte, je weiter sie die Treppe hinunterstieg. Eine Sekunde lang erstarrte sie, als sie das Bild sah: Woody, der noch immer bellte und herumraste, und Cathy auf den Knien vor dem Badezimmer.

Sam lag auf dem Boden neben ihr.

»O Gott!« Grace lief zu ihnen, so schnell sie konnte. »Sam!«

»Ruf einen Rettungswagen.« Cathys Erste-Hilfe-Ausbildung hatte das Kommando übernommen. »Grace, ruf an!«

Grace eilte zum Telefon, den Blick auf Sam gerichtet, während Cathy ihn in eine stabile Seitenlage brachte.

»Cathy, atmet er?«

»Ja, aber nur schwach.« Cathy hatte furchtbare Angst. »Und da ist Erbrochenes.«

Grace drückte die Tasten – und hörte die Stimme ihres Schwiegervaters. Sie hatte ganz vergessen, dass er noch immer in der Leitung war.

»Sam ist zusammengebrochen. Du musst einen Rettungswagen rufen. David, schnell … Nein, ich weiß es nicht … Ja, ich bin sicher … Cathy, ist seine Luftröhre frei?«

»Ja, aber sein Puls rast wie verrückt.«

»David, schick sie her. Jetzt!«

Grace legte auf, schleppte sich durch den Flur, kniete sich auf der anderen Seite neben Sam und schob den aufgeregten Hund beiseite. »Sam, ich bin da.«

Er stöhnte und öffnete die Augen.

»Sam, Liebling, gleich kommt Hilfe«, sagte Grace, und Dankbarkeit stieg in ihr auf. »Beweg dich nicht.«

Er versuchte, etwas zu sagen.

»Nicht sprechen, Liebling«, sagte Grace. »Ruh dich einfach aus.«

»Kaffee …«, sagte er.

»Kaffee?« Verwirrt starrte Cathy Grace an.

»Sam, Schatz, bitte.« Grace streichelte ihm übers Haar. »Bleib ganz ruhig. Gleich ist Hilfe da.«

Sein rechter Arm bewegte sich; seine Hand griff nach ihr, schien sie aber nicht zu finden.

Kaffee.

Plötzlich erinnerte Grace sich an Lucias Worte kurz vor dem Ende des gestrigen Albtraumnachmittags. Sie erinnerte sich daran, was Lucia über Sam und Terri gesagt hatte und dass sie verstehe, warum sie getan hatten, was sie getan hatten. Aber sie würde ihnen nie vergeben können.

»Großer Gott.«

»Was ist?« Cathy riss die Augen auf.

Grace starrte auf Sam und sah, dass seine Bewegungen bereits schwächer wurden. Seine Haut fühlte sich feucht und kalt an, und er atmete gequält. Verzweifelt versuchte Grace, sich zu erinnern, was man im Fall einer Vergiftung tun sollte.

»Hat er Kaffee getrunken?«, fragte sie. »Bevor das passiert ist?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe geschlafen.«

»Sieh nach. Wenn du eine Tasse findest, lass sie für den Notarzt stehen.«

»Du glaubst …?« Cathy stand auf.

»Ich glaube, dass Lucia ihn vergiftet hat«, sagte Grace. »Rühr die Tasse nicht an, wenn du sie findest.«

Lucias Worte stürmten nun wieder auf Grace ein, die Namen der giftigen Pflanzen: Nachtschatten, Fingerhut … sollte Lucia nicht bereits tot sein, schwor sich Grace, sie umzubringen. Sie würde ein Kissen nehmen und es ihr aufs Gesicht drücken, bis diese Mörderin sich nicht mehr rührte!

Sam stöhnte, zuckte und übergab sich wieder.

Grace stützte seinen Kopf, damit er nicht am eigenen Erbrochenen erstickte. Sie wollte nach Cathy rufen, sie solle ein Handtuch bringen, ließ es dann aber, denn es war wichtiger, die Tasse zu finden – den Grund für diese Tragödie, da war sie sicher.

»Ich hab die Tasse gefunden«, rief Cathy. »Sein üblicher Espresso.«

»Ist sie leer? Hat er sie leer getrunken? Fass sie nicht an!«

»Halbvoll…« Cathy kam in den Flur zurück. Sie sah, was geschehen war, rannte ins Bad und holte ein feuchtes Handtuch. Dann kniete sie sich auf Sams andere Seite und wischte ihm Mund und Gesicht ab.

Sam stöhnte. Er war zu schwach, um auch nur die Hand zu heben. Grace streichelte ihm übers Haar, fühlte seinen Puls, der schnell und unregelmäßig ging, und wünschte sich, der Notarzt wäre bereits hier.

»Gleich ist Hilfe da«, sagte sie ihm erneut.

Sams Stöhnen war die einzige Warnung vor dem Anfall. Er schien förmlich durch seinen Körper hindurchzurasen. Die Wirkung war erschreckend. Sam wurde so heftig durchgeschüttelt, als würde ein sadistischer Puppenspieler an seinem Kopf und den Gliedern reißen.

»Was sollen wir jetzt tun?« Cathy war mit ihrem Wissen am Ende. »Was sollen wir nur tun?«

Es hörte so plötzlich auf, wie es begonnen hatte.

Erleichtert tastete Grace wieder nach Sams Puls und erstarrte, von Entsetzen erfüllt, denn da war nichts mehr, und Sam rührte sich nicht. Dann aber fühlte sie den Puls wieder, wenn auch schwach und unregelmäßig. »Gott sei Dank.«

»Wo bleiben die nur?« Cathy weinte jetzt.

»Sie sind gleich da«, sagte Grace. »Sie müssen gleich da sein.«

Sie beugte sich über Sam, streichelte das dunkle Haar, das sie so sehr liebte, und versuchte, nicht zu weinen. Stattdessen gab sie ihm drei sanfte Küsse auf seine feuchte, kalte Stirn.

»Du wirst wieder«, sagte sie ihm erneut. Sie hörte, dass ihre Stimme klang, als würde sie es wirklich so meinen, obwohl der Schrecken wie ein Fels auf ihr Herz drückte, die unaussprechliche Angst, dass es zu spät sein könnte, wenn nicht bald Hilfe kam.

Und dann traf es sie wie eine alles zerschmetternde Welle.

Es breitete sich von ihrem Uterus bis in den Rücken aus, warf sie zurück und hätte sie fast zu Boden geschleudert.

»O Gott«, stieß sie hervor. »Nicht jetzt!«

»Grace, was ist?«

Es hörte wieder auf.

»Nichts.« Grace schüttelte den Kopf. »Alles in Ordnung.«

»War es das Baby?«, fragte Cathy verängstigt.

»Vielleicht. Aber jetzt ist es wieder vorbei.«

»Du solltest dich hinlegen.«

»Ich werde nirgendwohin gehen.« Grace schaute auf Sam hinunter, dachte, wie schlimm er aussah, wie krank, und wieder überkam sie der Wunsch, Lucia dafür zu bestrafen. Das Verlangen war so stark, dass sie schwankte.

Die Sirene heulte durch die Nacht. Sie war noch ein gutes Stück entfernt, kam aber rasch näher.

»Gott sei Dank«, seufzte Cathy.

Erneut kam ein so gewaltiger Schmerz, dass Grace unwillkürlich aufschrie und vergeblich versuchte, sich von den Knien zu erheben. Das konnte doch unmöglich jetzt passieren …

»Das ist zu früh!«, schrie sie.

Es war zu früh, und Sam brauchte sie, wie er sie noch nie gebraucht hatte. Das durfte nicht geschehen. Sie würde es nicht zulassen.

Doch sie konnte es nicht aufhalten.

Letzter Weg
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