67.
»Wo gehen wir hin?«, fragte Cathy um sieben Uhr dreißig, als ein Schilderwald vor ihnen erschien.
»Warte ab. Du wirst schon sehen«, antwortete Kez.
»Es ist nur … Ich will heute wirklich nicht die Stadt verlassen.«
Der Golf bog auf den Florida Turnpike ein.
»Kez, bitte, sag mir doch einfach …«
»Wie ich gesagt habe«, unterbrach Kez sie, »wirst du bald wieder zurück sein.«
Cathy ärgerte sich allmählich. »Ich bin weder ein kleines Kind noch ein Stück Gepäck.«
»Ich weiß.«
»Dann sag mir bitte, wo wir hinfahren.«
»Naples.«
»O nein«, protestierte Cathy. »Ausgerechnet Naples.«
»Ich weiß«, sagte Kez erneut, legte Cathy kurz die rechte Hand aufs Knie und umfasste dann wieder den Schaltknüppel. »Vermutlich ist das der letzte Ort, an den du …«
»Damit hat es nichts zu tun«, warf Cathy ein. »Ich gebe der Stadt ja nicht die Schuld an dem, was Saul passiert ist. Aber ich hab dir gesagt, dass ich die Stadt nicht verlassen will, und ich mag es nicht …«
»Hey.« Kez schaute sie an. »Schon gut.«
»Nein, ist es nicht.«
»Wenn du willst, drehe ich um und fahre direkt zum Miami General.« Kez’ Blick huschte zwischen Cathy und der Straße vor ihnen hin und her. »Tut mir leid.«
»Schon gut.«
»Ich hätte nicht davon ausgehen dürfen, dass es dir nichts ausmacht, einfach so entführt zu werden.«
»Na ja, normalerweise macht mir das ja auch nichts aus.« Cathy bedauerte ihre Überreaktion bereits.
»Es ist nur … Dieser Ort, den ich dir zeigen will, bedeutet mir sehr viel, und wir bleiben nicht lange. Aber du hast recht: Wir können genauso gut ein andermal dorthin fahren.«
Nur dass Cathy sich schmerzhaft bewusst war, dass es Zeiten wie diese, Nächte wie die letzte, solch eine Magie nur selten gab. Tatsächlich hatte sie so etwas noch nie erlebt.
»Wenn ich kurz zu Hause anrufen könnte«, sagte sie.
»Klar«, antwortete Kez, »wenn das hilft. Wir können aber noch immer umkehren.«
»Nein.« Cathy holte ihr Handy aus der Tasche. »Das ist schon okay.«
»Gut«, sagte Kez.
Sie fuhren Richtung Alligator Alley.
Grace saß in ihrem Wagen auf dem Krankenhausparkplatz, und die Klimaanlage blies ihr bereits angenehm kühle Luft entgegen. Das Handy hielt sie schon in der Hand.
Ihre Tränen hatten sie überrascht wie ein alter Freund, der sich plötzlich an sie heranmachte. Sie waren im selben Augenblick gekommen, da sie sich hinters Steuer gewuchtet und die Tür geschlossen hatte. Seit sie zum ersten Mal von dem Überfall auf Saul erfahren hatten, hatte sie sich keine Tränen erlaubt. Nun aber waren de die guten Neuigkeiten von Saul, und Sam hatte seinen Glauben an Terri mit ihr geteilt. Er hatte ihr verziehen, und sie war so erleichtert gewesen … und dann war ihr eigener Unmut aufgeflackert. Das war ein bisschen zu viel für eine werdende Mutter im achten Monat.
Der kurze Tränensturm hatte sie ein wenig mitgenommen, aber er hatte auch geholfen.
Er hatte ihr genug Druck genommen, dass sie nun, da sie die Tränen abgewischt und einen Schluck aus der kleinen Evian-Flasche im Handschuhfach genommen hatte, bereit war, Cathy anzurufen.
Sie drückte per Schnellwahltaste die Nummer ihrer Tochter.
Sie liebte es noch immer, Cathy ihre »Tochter« zu nennen.
Die Adoption war das Beste, was sie je getan hatten.
»Tut mir leid, dass ich Ihren Anruf nicht entgegennehmen kann«, sagte Cathys Stimme.
Mailbox.
»Süße, ich bin’s«, sagte Grace. »Ich habe wunderbare Neuigkeiten.« Kurz stellte sie sich vor, wie sehr Cathy sich freute, diese Worte zu hören. »Saul ist wach, und den Ärzten zufolge geht es ihm den Umständen entsprechend gut.« Sie wollte schon auflegen, da fügte sie noch hinzu: »Es gibt aber keinen Grund, dass du dich beeilst, ins Miami General zu kommen. Die Ärzte wollen, dass Saul sich ausruht, was uns alle ein bisschen fertig macht, aber sie werden schon wissen, was sie tun.«
Das Baby versetzte ihr einen kräftigen Tritt. Sie lächelte und fuhr fort:
»Ich wünsche dir eine wunderbare Zeit, was immer du gerade tust. Und bestell Kez schöne Grüße von uns allen. Wir lieben dich, Cathy.«
»Es ist der Anrufbeantworter«, sagte Cathy zu Kez.
»Dann hinterlass eine Nachricht«, erwiderte Kez.
»Und wenn etwas nicht stimmt?« Cathy beendete das Telefonat.
»Es ist nicht mitten in der Nacht.« Kez klang verärgert.
»Ja, sicher. Sam wird zur Arbeit gegangen sein«, sagte Cathy, »aber Grace sollte eigentlich zu Hause sein.«
»Vielleicht ist sie shoppen«, meinte Kez.
»Dafür ist es zu früh. Außerdem ist das nicht Grace’ Ding.«
»Dann duscht sie vielleicht gerade«, sagte Kez, »oder ist mit dem Hund spazieren.«
»Könnte sein, nur dass für gewöhnlich Sam morgens mit Woody geht.«
»Es ist sein erster Arbeitstag«, sagte Kez. »Vermutlich ist er früher gegangen als gewöhnlich.«
»Ich nehme an, Grace duscht wirklich gerade oder sie geht mit dem Hund Gassi.« Cathy hielt kurz inne. »Manchmal macht sie morgens auch Hausbesuche.«
»Na also«, sagte Kez. »Kein Grund zur Sorge.«
»Ich werde ihnen eine Nachricht hinterlassen.«
Cathy wählte erneut und wartete einen Moment.
»Hi, ihr. Ich bin’s. Ich hoffe, Saul ist okay. Ich hoffe, ihr alle seid okay.« Sie dachte kurz darüber nach, sich für ihr Fernbleiben zu entschuldigen, entschied sich dann aber dagegen. »Ich wollte euch nur wissen lassen, dass Kez und ich für ein paar Stunden in Naples sind … Ja, ich weiß, dass ich gerade erst von da zurückgekommen bin, aber wir müssen uns dort etwas Wichtiges ansehen. Sollte es irgendwelche Veränderungen bei Saul geben, würdet ihr mich dann bitte, bitte sofort anrufen?« Erneut hielt sie kurz inne. »Ich liebe euch.«
Sie beendete das Telefonat und steckte das Handy wieder in die Tasche.
»Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte Kez.
»Ich nehme es an«, antwortete Cathy.