56.

7. September

»Nichts Neues, Sam«, berichtete Martinez am Mittwochmorgen.

»Nichts?«

»Jedenfalls nichts, was du nicht bereits wüsstest. Ein Arschloch von Vater und eine Säuferin als Mutter. Die Oma hat sie gerettet – wie du gesagt hast. Und ja, natürlich könnte das der Ausgangspunkt für eine üble Psychose sein, aber das glaube ich nicht. Schließlich hat das Mädel sich zusammengerissen und ist Cop geworden wie ihr Opa, oder etwa nicht?«

»Ja«, bestätigte Sam.

»Kann ich jetzt also damit aufhören?«

»Ich nehme es an«, antwortete Sam.

»Himmel noch mal, Mann! Willst du etwa, dass sie eine Serienmörderin ist?« Martinez klang genervt. »Wäre es dir lieber, wenn sie es gewesen wäre, die deinem Bruder das Hirn aus dem Schädel geprügelt hat?«

»Nein«, antwortete Sam, »natürlich nicht.«

»Dann kannst du dich ja jetzt auf Saul, Grace, Cathy und deinen Dad konzentrieren, und die Untersuchung überlässt du den Jungs in Naples, okay?«

»Sicher«, sagte Sam.

»Warum nehme ich dir das nicht ab?«, sagte Martinez.

»Habe ich etwas getan, das dich ärgert?«

Cathy stellte Grace diese Frage, als sie am Nachmittag im Krankenhausgarten spazieren gingen. Es gab hier prächtige Bäume und Blumen, alles typisch Naples. Das Gras sah aus, als wäre jeder Grashalm einzeln getrimmt worden, und entlang der Gehwege standen schön geschnitzte Bänke.

Keine der beiden Frauen hatte ein Auge für diese Schönheit.

Sie hatten zu viele Dinge im Kopf.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Grace.

»Ich weiß nicht«, antwortete Cathy. »Ich meine, wir fühlen uns alle mies wegen Saul, aber du scheinst …«

»Was?« Grace blieb stehen und schaute Cathy an. »Süße, sag es mir bitte. Was habe ich getan, dass du glaubst, ich sei wütend auf dich?«

»Nichts Schlimmes.« Cathy nahm ihre Hand und drückte sie. »Aber seit wir hierhergekommen sind, wirkst du irgendwie, als … als wärst du tausend Meilen weit weg.« Sie schüttelte den Kopf. »Und nicht nur von mir. David empfindet genauso. Was Sam betrifft, kann ich nichts sagen; er macht sich viel zu sehr verrückt wegen Saul.«

»Tut mir leid.« Scham trieb Grace die Röte in die Wangen. »Ich schwöre dir, Cathy, das hat nichts mit dir zu tun. Ich versuche bloß, irgendwie mit allem zurechtzukommen.«

»Das kauf ich dir nicht ab.« Cathy schaute sie mit ihren klaren blauen Augen herausfordernd an. »Wenn es andersherum wäre, würdest du dann nicht wollen, dass ich meine Probleme mit dir teile?«

»Natürlich, aber …«

»Warum tust du dann nicht das Gleiche?«

Einen Moment lang war Grace in Versuchung, denn Cathy hatte natürlich recht, und sie war kein Kind mehr; sie war eine Erwachsene mit mehr Lebenserfahrung als die meisten in ihrem Alter.

Trotzdem konnte sie es ihr nicht sagen, konnte es nicht mit ihr teilen: weder ihre Zweifel in Bezug auf Terri noch Sams Wut auf sie, weil sie das vor ihm verheimlicht hatte. Schließlich hatte Grace Sam dann ja doch ihre Sorgen mitgeteilt, und nun mussten sie zum Wohle aller privat bleiben, besonders zum Wohle Sauls. Was nun den Ärger zwischen ihr und Sam betraf, war das genauso privat, und es war an ihr, einen Weg zu finden, die Kluft zwischen ihnen zu überbrücken.

»Weil es nichts zu teilen gibt«, sagte sie nun. »Außer dem, was du bereits weißt, und das ist eine Menge, meinst du nicht auch?«

Cathy gab auf. Schweigend gingen sie weiter. Grace war nicht die Einzige, die unter Schuldgefühlen litt. Cathy war sich durchaus bewusst, wie heuchlerisch sie war; schließlich hatte sie ihre eigenen emotionalen Probleme ja auch nicht mit Grace geteilt.

»Alles okay jetzt?«, fragte Grace in sanftem Ton.

»Alles okay«, antwortete Cathy.

Sie kehrten ins Krankenhaus zurück.

Zwei Stunden später, als Cathy erneut eine Pause einlegte, diesmal allein, überprüfte sie ihr Handy und sah Kez’ Festnetznummer unter den eingegangenen Anrufen.

Kez hatte eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen.

Von ihr.

»Ich habe gerade deine Nachricht über Saul bekommen. Ich war oben in Jacksonville. Ich dachte, ich hätte dir davon erzählt, aber das ist ja auch nicht wichtig. Ich hoffe, deinem Bruder geht es gut. Hätte ich das gewusst, hätte ich sofort angerufen.«

Ein Gefühl von Wärme und Erleichterung durchströmte Cathy.

»Wie kann ich dir helfen?«, fuhr die rauchige Stimme fort. »Möchtest du, dass ich zu dir rüberkomme, oder ist das eine reine Familienangelegenheit?« Es folgte eine kurze Pause. »Was immer du willst, ruf mich einfach an.«

Cathy verließ die Cafeteria, ohne ihren Saft getrunken zu haben. Sie ging aus dem Krankenhaus zum Parkplatz und rief von dort an. Kez nahm sofort ab. Ihre Stimme war voller Sorge, und sie hörte aufmerksam zu, als Cathy sie rasch auf den neuesten Stand brachte.

»Also musst du nicht rüberkommen, denn sie reden schon die ganze Zeit davon, ihn nach Miami zu verlegen, sobald sein Zustand länger als vierundzwanzig Stunden stabil ist.«

»Oh«, sagte Kez. »Okay, das ist gut.«

»Aber allein zu wissen, dass du für mich da bist …«, plapperte Cathy aufgeregt weiter. »Das hilft mir schon, denn jetzt weiß ich, wie sehr ich dich wirklich brauche.«

»Ich hab lange darauf gewartet, das zu hören.«

Cathy hörte deutlich die Freude in Kez’ Stimme.

Sie empfand genauso.

David bemerkte sofort die Veränderung an ihr. Er sagte ihr, sie sehe besser aus. Als er sie daraufhin erröten sah, nahm er sie beiseite.

»Könnte das zufällig etwas mit Kez zu tun haben?«, fragte er leise.

»Woher weißt du das?« Cathy war verlegen, aber beeindruckt.

»Ich freue mich einfach für dich, Liebling.« David drückte sie sanft. »Als ich sie kennen gelernt habe, war mir sofort klar, dass Kez eine besondere junge Frau ist.«

Cathy löste sich von ihm und lächelte ihn an. »Danke.«

»Ist mir ein Vergnügen«, sagte er.

Dann kam Sam. Grace folgte ihm. Und allein zuzusehen, wie Sam seinem Bruder über die Wange strich, mit so viel Zärtlichkeit in seiner großen, starken Hand, ließ Cathy gerührt schlucken. Doch dann kam Terri herein, weniger als eine Minute später, und Cathy sah, wie Grace’ Blick zu ihr wanderte und ihr Gesicht plötzlich einen misstrauischen Ausdruck annahm. Das passte so gar nicht zu Grace.

Irgendetwas geht hier vor, dachte Cathy.

Irgendetwas Übles.

Letzter Weg
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