143.
»Das muss ein schrecklicher Schlag für Sie gewesen sein«, sagte Lucia. »All die Jahre, die Sie in Ihrem gemütlichen Büro gehockt und geglaubt haben, Sie würden Ihren Patienten helfen. Doch in Wirklichkeit hatten Sie von nichts eine Ahnung, nicht wahr?«
»Manchmal ist es so«, bestätigte Grace in gleichmütigem Tonfall.
»Das ist sogar sehr oft so«, stellte Lucia klar. »Sie haben mehr als zwei Jahre lang mit mir in der Praxis gesessen, haben meinen Tee getrunken, mir für meine Arbeit gedankt und auch nicht vergessen, mich höflich nach Tina und meinem Wochenende zu fragen. Aber Sie hatten nie auch nur den Hauch einer Ahnung von meinem Schmerz, von der schrecklichen Spirale, die mich immer tiefer nach unten gezogen hat.«
Es war das erste Mal, dass Grace das volle Ausmaß der Feindseligkeit dieser Frau erkannte.
»Ich mache noch Tee«, sagte Lucia, stand auf und ging ins Haus.
Grace blickte auf ihre Tasse.
Sie erinnerte sich, dass Lucia ihn ihre »Spezialmischung« genannt hatte.
Grace schaute sich die Pflanzen an. Sie waren überall: im Haus, draußen, im Gewächshaus.
Lucia hatte gesagt, dass viele von ihnen giftig seien, dass sie darüber nachgedacht habe, ihren Mann mit Fingerhut zu töten, sich dann jedoch für Digitalis entschieden habe.
Gregory war an mit Strychnin versetztem Kokain gestorben.
Grace versuchte sich zu erinnern, ob Strychnin von einer Pflanze stammte.
Nicht von einer Pflanze.
Ganz ruhig, ermahnte sie sich selbst. Mach dich jetzt nicht verrückt.
Sie erinnerte sich daran, wie scheußlich sie sich vor sechs Jahren gefühlt hatte, als sie Grund zu der Annahme gehabt hatte, vergiftet worden zu sein. Später war sie nie ganz sicher gewesen, ob sie sich die Symptome nicht vielleicht nur eingebildet hatte.
Die Übelkeit entsprang vermutlich nur ihrer Einbildungskraft. Diese Frau war immer noch Lucia, die stets freundlich zu ihr und ihren Patienten gewesen war. Vielleicht hatten die wirren, verrückten Geschichten ihren Verstand beschädigt. Vielleicht bildete sie sich nur ein, Lucia sei ihr gegenüber feindselig. Schließlich hatte Lucia sich ihr anvertraut, hatte sich alles von der Seele geredet, weil sie ihr, Grace, vertraute, so wie Cathy gesagt hatte, dass Kez ihr vertraut habe, was in gewisser Hinsicht sogar ein Kompliment darstellte.
Nur dass diese Frau nicht die Lucia war, die Grace zu kennen geglaubt hatte.
Grace war nicht mehr ganz so benommen, fühlte sich aber immer noch unwohl.
Du hast dich gestern schon schlecht gefühlt, und das ohne Lucias Tee.
Wenn man im achten Monat schwanger war und das alles durchstehen musste, würde sich wohl jede Frau schlecht fühlen.
Aber nur für den Fall: kein Tee mehr.
Lucia war in der Küche und kochte welchen.
Aber das hieß ja nicht, dass Grace ihn trinken musste.
Grace dachte wieder an ihr Handy und sagte sich, dass jetzt der Moment sei, es zu holen. Sie wollte aufstehen …
… als Lucia wieder aus dem Haus kam, in jeder Hand eine Tasse.
Eine stellte sie vor Grace hin und brachte die benutzte, aber noch nicht leere Tasse zu einem Tisch neben dem Gewächshaus. Dort stand auch ein Teller mit roten und schwarzen Weintrauben sowie ein Krug Wasser und noch mehr Pflanzen, alle in weißen Töpfen.
»Er ist besser, wenn er heiß ist«, sagte Lucia.