55.
»Ich habe es schon oft gesagt«, sagte Grace zu Lucia am Telefon, spät am Dienstagabend, »aber es war noch nie so wahr wie jetzt. Ich weiß nicht, was ich ohne Sie machen würde.«
»Sie kämen schon zurecht«, erwiderte Lucia.
Sie hatte eine Nachricht auf Grace’ Mailbox hinterlassen. Vordringlich wollte sie natürlich wissen, wie es Saul ging, aber sie wollte ihre Chefin auch wissen lassen, dass sie alle Termine für nächste Woche abgesagt hatte. Also musste Grace sich keinerlei Sorgen um ihre Patienten machen, und ja, Lucia hatte sich auch daran erinnert, dass die Fragileren zu Dr. Shrike geschickt werden mussten – Magda Shrike, Grace’ alte Mentorin und eine der besten Psychologinnen, die sie kannte.
»Sie brauchen jetzt also nur noch an Saul, an Ihre Familie und an sich selbst zu denken«, fuhr Lucia fort. »Und bitte, Dr. Lucca, versprechen Sie mir, dass Sie auf sich und Ihr Baby aufpassen. Und Tina ist natürlich nicht im People’s Hospital, aber falls es irgendetwas gibt, womit sie Ihnen helfen könnte, lassen Sie es mich wissen, und ich werde Kontakt zu ihr aufnehmen.«
Bei all dem Schrecken hatte Grace Lucias Lieblingsnichte ganz vergessen.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte sie, »aber im Augenblick fällt mir nichts ein.« Sie wollte wieder rauf zu Saul, doch Lucia hatte auch ein wenig Aufmerksamkeit verdient. »Falls Tina irgendetwas hat, das wir Ihnen mitbringen sollten, oder falls Ihnen noch was einfällt …«
»Sie können sofort damit aufhören, Frau Doktor«, tadelte Lucia sie. »Habe ich Ihnen nicht gerade gesagt, Sie sollen sich um sich selbst kümmern?«
Grace brachte ein Lächeln zustande, spürte, wie das Baby sich bewegte, und dachte an den Kleinen wie an einen Anker in all der dunklen Verzweiflung – und wie unbezahlbar Freunde in der Not waren.
»Fast hätte ich es vergessen«, sagte Lucia. »Claudia hat gestern angerufen.«
Eine neue Welle der Schuld brach über Grace herein.
»Sie haben ihr doch nicht von Saul erzählt«, sagte Lucia.
»Nein«, erwiderte Grace. »Haben Sie …?«
»Natürlich nicht«, antwortete Lucia. »Es ist nicht an mir, mich einzumischen, und ich weiß, dass Sie glauben, Ihre Schwester habe schon genug um die Ohren; dennoch halte ich es für angebracht, wenn Sie sie es wissen lassen würden. Probleme hin oder her, sie gehört zur Familie. Sie sollten ihr zumindest die Möglichkeit geben, ins Flugzeug zu steigen.«
»Sie haben recht«, sagte Grace.
»Ich weiß«, erwiderte Lucia.
Grace rief sofort an, doch im selben Augenblick, da sie die Stimme ihrer Schwester hörte, vernahm sie auch die Mattheit, die ihr in letzter Zeit so häufig aufgefallen war. Grace wusste, dass Claudia ihr nicht die ganze Wahrheit sagen würde.
»Was ist los?«, fragte Claudia. »Wo bist du?«
»Wir sind in Naples«, sagte Grace. »Saul liegt im Krankenhaus.«
»Was ist passiert?« Sorge vertrieb die Mattheit. »Es ist doch alles in Ordnung mit ihm?«
»Er wird schon wieder«, sagte Grace. »Er ist überfallen worden, Schwesterherz. Ein paarmal hatten wir Angst, aber er wird schon wieder.«
Claudia feuerte eine ganze Salve von Fragen ab: Was genau war passiert und wann? Warum hatte Grace ihr nicht sofort Bescheid gesagt? Dann wäre sie sofort rübergeflogen und hätte ihr durch diese schreckliche Zeit helfen können. Es gebe nichts, was sie hätte tun können, erwiderte Grace, und offen gesagt könne sie sich nur noch verschwommen an die letzten Tage erinnern.
Sie erzählte ihr nicht, wie schlecht es Saul ging, sondern sagte Claudia, sie könne nicht mit ihm sprechen, weil er die meiste Zeit schlafe.
»Ich buche sofort einen Flug«, sagte Claudia.
»Dazu gibt es keinen Grund«, erwiderte Grace. »Sie werden Saul vermutlich schon bald verlegen …«
»Ihn entlassen?« Claudia stürzte sich sofort darauf.
»Nein, erst verlegen, nehme ich an«, korrigierte Grace sie, »zurück nach Miami.«
»Warum können sie ihn denn nicht entlassen, wenn es ihm wieder besser geht?«
»Weil er mehrere Brüche hat und operiert werden muss.« Grace versuchte krampfhaft, Wahrheit und Notlüge miteinander zu verschmelzen. »Er hat eine gebrochene Schulter.«
»Mein Gott, der arme Saul«, sagte Claudia. »Er muss schreckliche Schmerzen haben.«
»Jedenfalls …« Grace lenkte das Thema wieder auf Claudia. »Es ist ja nicht so, als könntest du einfach den nächsten Flug nehmen.«
»Für die Jungs finde ich schon einen Babysitter«, sagte Claudia. »Falls nicht, muss Daniel ausnahmsweise mal von zu Hause aus arbeiten. Früher hat ihm das immer Spaß gemacht.«
»Ja, bevor er die neue Praxis aufgemacht hat«, sagte Grace. »Jetzt muss er sich nicht mehr nur um sich selbst kümmern, sondern hat einen Berg neuer Verantwortungen.«
»Ich habe immer gedacht, das wären vor allem ich und die Jungs«, sagte Claudia.
Grace verließ der Mut immer mehr, wie es häufig der Fall war, wenn sie heutzutage mit ihrer Schwester sprach. Es war also nicht nur Einbildung, dass es zwischen Claudia und Daniel seit dem Umzug nicht mehr so gut lief. Vielleicht sollte sie sich nach der Geburt des Babys mal aufraffen und nach Seattle fliegen, um zu sehen, was sie tun konnte.
Jetzt aber hatte sie erst einmal beide Hände voll zu tun, und offen gesagt würde Claudia hier ohnehin keine große Hilfe sein – nicht so, wie sie klang.
Also sagte Grace ihrer Schwester, dass sie sie liebe und vermisse und dass es ihr und dem Baby gut gehe, aber sie wolle ihr, Daniel und den Jungs keinen unnötigen Stress machen. Sie habe ja noch Sam, Cathy und David, die sich um sie kümmerten, also kein Grund zur Sorge. Und Claudia klang zwar traurig, aber auch ein wenig erleichtert.
»Aber versprich mir, dass du mich anrufst, wenn sich irgendwas verändert oder wenn du mich brauchst«, sagte sie.
»Sofort«, erwiderte Grace.