14.
Cathy war nicht sicher, warum sie Grace an diesem Morgen nicht erzählt hatte, dass sie mit Kez Flanagan Lauftraining machte. Aus Verlegenheit, nahm sie an. Vielleicht, weil sie deswegen so nervös war.
Cathy hatte noch immer so empfunden, als sie zur Aschenbahn in Trent gekommen und Kez beim Aufwärmen gesehen hatte. Sie hatte auf Cathy gewartet.
Kez trug leuchtend orangene Shorts, deren Naht am rechten Schenkel gerissen war, ein schwarzes, ärmelloses T-Shirt, das ein kleines Libellentattoo auf ihrer Schulter enthüllte, alte Nikes und eine Wiley-Sonnenbrille. Die Farbe der Shorts biss sich mit dem rostroten Haar. Sie sieht richtig funky aus, dachte Cathy, einfach erstaunlich, und sie wünschte sich, sie selbst hätte nicht ihre fast neuen Adidas-Klamotten angezogen.
»Hi.« Kez machte sich weiter warm.
»Tut mir leid, dass ich so spät bin«, sagte Cathy.
»Bist du nicht.« Kez schaute sie an. »Du siehst gut aus.«
»Ein bisschen overdressed vielleicht.« Cathy spürte, wie sie errötete. »Bist du sicher, dass du mit mir laufen willst?«
»Na klar. Wieso nicht?«
»Ich werde dich aufhalten.«
»Wir laufen doch kein Rennen«, sagte Kez leichthin.
Cathy stellte ihre Tasche ab, holte ihre blaue Trent-Baseballcap mit den roten Nähten heraus, zog sie auf den Kopf, steckte ihren Pferdeschwanz hindurch und begann mit Dehnübungen.
»Ich habe es dir ja schon gesagt«, fuhr Kez fort. »Ich halte dich für sehr vielversprechend.«
Cathy spürte schon wieder, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Sie griff erneut in ihre Tasche, um ihre eigene Sonnenbrille herauszuholen – wahrscheinlich ebenso zur Tarnung wie zum Schutz.
»Und um ehrlich zu sein«, sagte Kez, »mag ich Gesellschaft.«
»Es muss doch massenweise Leute geben, die mit dir laufen wollen.« Cathy machte mit dem Aufwärmen weiter, obwohl sie wusste, dass Kez bereit war loszulaufen.
»Natürlich gibt es Leute, mit denen ich laufen könnte«, sagte Kez.
Cathy hörte einen Unterton in der lebhaften Stimme und hob den Blick, um Kez’ Gesichtsausdruck einzuschätzen, musste jedoch feststellen, dass es unmöglich war, solange die Wileys Kez’ Augen versteckten.
»Allerdings gibt es nicht viele Leute, mit denen ich trainieren will.« Kez zog eine schwarze Baseballcap aus der Tasche und setzte sie auf.
Cathy glaubte für einen Moment, den Unterton erkannt zu haben, kam dann aber fast genauso schnell zu dem Schluss, dass das nicht sein konnte.
Bedürftigkeit. Das war es, was sie gehört zu haben glaubte.
Verrückt.
Cathy schaute Kez Flanagan an, ließ den Blick über ihre schlanke, sehnige Gestalt schweifen und beobachtete, wie sie sich in Bewegung setzte. Mit leichten Armschwüngen lief sie auf ihren langen, geschmeidigen, starken und doch schlanken Beinen, wie viele Läufer sie hatten. Ihre Muskeln und Sehnen waren klar definiert, selbst im Ruhezustand. Cathy erinnerte sich, wie sie Kez in Tampa hatte laufen sehen – »Tampa war etwas Besonderes«, hatte Kez gestern gesagt –, und sie erinnerte sich an Kez’ außergewöhnliches Selbstvertrauen und an den Respekt und die Bewunderung, die ihr die Mannschaftskameraden entgegengebracht hatten, und an den Applaus der Zuschauer.
Nein, Kez war bestimmt nicht bedürftig.
Schon immer war das Laufen für Cathy bestenfalls eine einsame Erfahrung gewesen. Es war in vieler Hinsicht gut, mit einer Gruppe oder in einer Mannschaft zu laufen, doch ihr Mangel an Selbstvertrauen hatte stets verhindert, dass sie ein wertvolles Teammitglied geworden war und dass sie ihr volles Potential ausschöpfte. Wenn Cathy alleine und unbeobachtet lief, fühlten ihre Beine sich stärker an, und ihr Herz pumpte kräftiger Blut und verbreitete Lebenskraft in ihrem ganzen Körper bis in die Zehenspitzen. Als einsame Läuferin fühlte sie sich wie eine richtige Wettkämpferin, doch wann immer Coach Delaney versucht hatte, ihr Können zu wecken, war die Siegerin in Cathy verschwunden. Schließlich hatte der Trainer es aufgegeben.
Doch mit Kez zu laufen war ganz anders.
Sie aus der Ferne zu beobachten war großartig gewesen, doch Schulter an Schulter mit einer Top-Leichtathletin zu laufen – nahe genug, um ihren scharfen, steten Atem zu hören und die Hitze zu spüren, die von ihr ausging – machte die Erfahrung für Cathy noch intensiver. Sie hörte das Scharren von Kez’ Spikes als eine Art Kontrapunkt zu ihren eigenen Schritten. Sie hatte das Gefühl, als würde sie fliegen, als würde das Laufen ihr keinerlei Mühe mehr bereiten.
»Kommst du klar?« Kez verlangsamte das Tempo nach der ersten Viertelmeile.
»Großartig …«, keuchte Cathy.
»Ich leg dann mal los«, sagte Kez plötzlich und eilte davon.
Eine halbe Sekunde lang dachte Cathy darüber nach, ihr hinterherzulaufen.
Keine Chance.
Cathy schaute Kez hinterher, beobachtete, wie sie davonflog, wie sie sich vom toten Gewicht ihrer Laufpartnerin löste. Cathy sah, wie das Rot, Schwarz und Orange mit der Entfernung und der Geschwindigkeit verschwamm, und sie wurde immer langsamer. Ein seltsames Gefühl erfasste sie, breitete sich in ihrer Brust aus, bis sie erkannte, dass sie sich überanstrengt hatte. Cathy blieb stehen, stützte die Hände auf die Knie, rang nach Atem und versuchte, ihren Puls herunterzubekommen, bis sie schließlich wieder aufblicken und Kez sehen konnte. Sie beobachtete das Ende von Kez’ Sololauf, während sie, die drittklassige Sterbliche, mit ihren Abschlussübungen begann.
»Lust auf noch einen Lauf?«, fragte Kez, nachdem sie sich literweise Wasser in den Hals gekippt und eine Weile unter dem Palisanderbaum ausgeruht hatten, an dem sie vergangene Woche zum ersten Mal miteinander geredet hatten.
»Ja«, sagte Cathy, »wenn du wirklich willst.«
»Warum nicht?«, entgegnete Kez. »Mir hat es Spaß gemacht. Das ist mal eine nette Abwechslung vom Solotraining.«
Sie sagte, sie würde nächstes Wochenende die 800 und 1500 Meter beim Trio Club Meeting in West Palm Beach laufen.
»Es muss doch ein paar Jungs geben, mit denen du trainieren kannst«, sagte Cathy in beiläufigem Tonfall.
»Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich nicht mit denen trainieren will«, sagte Kez.
»Wie wär’s, wenn wir das nächste Mal am Strand laufen?«, schlug Cathy vor.
»Klar, gern«, antwortete Kez.