4.

11. August

Am Donnerstagmorgen sprachen die meisten Sommerstudenten auf Trents kleinem, von der Sonne verwöhntem Campus über den Mord; die meisten mit einem gerüttelt Maß an morbider Neugier, soweit Cathy es beurteilen konnte.

Aber keiner – und das konnte Cathy beinahe garantieren – hatte auch nur die leiseste Ahnung, wovon sie sprachen. Keiner von ihnen kannte den Schrecken und die hässliche Brutalität, die mit einem Mord verbunden waren.

Sie schon.

Sie wusste so viel darüber, dass sie bisweilen das Gefühl hatte, ihr Verstand sei gänzlich vom Blut und den Qualen in ihren Erinnerungen erfüllt, als wären sie zu einem Teil von ihr geworden.

Als Grace noch nicht Cathys Adoptivmutter, sondern lediglich die Kinderpsychologin Dr. Grace Lucca gewesen war, hatte sie versucht, Cathy davon zu überzeugen, dass sie würde weitermachen können; dass sie die Hässlichkeit weiter von sich schieben und Kraft aus ihrem eigenen Überleben würde ziehen können.

Aber trotz Grace’ Freundlichkeit und Geduld war es Cathy nicht leichtgefallen. Inzwischen hatte Cathy ein tiefes Zugehörigkeitsgefühl zu Grace und Sam entwickelt. Schon seit langem verspürte sie nicht mehr das Bedürfnis, täglich Geheimnisse in ihr Computertagebuch abzuladen, auf das sie in schlechten Zeiten immer wieder zurückgegriffen hatte. Doch noch immer hegte sie insgeheim Verlustängste, und ihre ständige Unsicherheit hatte ihr den Kampf um gute Noten erheblich erschwert; dennoch hatte sie es geschafft, an der Trent University angenommen zu werden, und hoffte nun, in der Sozialarbeit ihre Erfahrungen zum Wohle anderer einsetzen zu können.

Das Laufen klappte noch immer bei Cathy. Es war besser als Trinken oder Dope oder Tony Roma’s Rippchen, besser als zu Born to be Wild zu tanzen, besser sogar als Sex … nicht, dass Sex auch nur annähernd an Steppenwolf herangekommen wäre. Laufen war schon immer wie eine Befreiung für Cathy gewesen. Dass sie im Gefängnis nicht hatte laufen können, war eine der größten Entbehrungen für sie gewesen. Wann immer sie etwas bedrückte oder ängstigte, zog sie die Laufschuhe an und rannte los.

Die Nachricht vom Mord an dem Hausmeister hatte sie zwar nicht ausrasten lassen, denn sie hatte den armen Mann nie kennen gelernt; aber die Tatsache blieb bestehen, dass ein Mann ermordet worden war – ein menschliches Wesen mit Familie und Freunden, deren Welt nun vermutlich zusammenbrach. Das kannte Cathy nur allzu gut. Und darüber nachdenken wollte sie nun wirklich nicht; also war sie heute Morgen zur Uni gefahren, hatte ihren Mazda geparkt (Grace’ ehemaliger Wagen, bis Sam ihr einen neuen Toyota gekauft hatte), hatte sich ein paar Stunden in der Bibliothek abgeplagt und war dann auf die Aschenbahn gewechselt.

Erst, nachdem sie ihre Runden gedreht, sich bei Dehnübungen abgekühlt und ihre Trainingshose wieder angezogen hatte, bemerkte Cathy, dass sie beobachtet wurde.

Fotografiert.

Es war das Funkeln der Linse, das Cathys Aufmerksamkeit erregte.

Dann wurde die Kamera gesenkt, und Cathy sah, wer das Foto aufgenommen hatte.

Kez Flanagan.

Wenn Cathy eine Heldin an der Trent University hatte, war es Kerry »Kez« Flanagan, der einundzwanzigjährige Mittelstreckenstar der Tornados, der Hochschul-Leichtathletikmannschaft.

Kez Flanagan stand unter einem Palisanderbaum.

»Hi«, sagte sie.

»Hi.« Cathy zog sich trotz der Hitze die Jacke an.

»Ich hoffe, das macht dir nichts aus?« Kez Flanagan deutete auf die Kamera, die um ihren Hals hing. Es war die Art von Kamera, die Cathy als »echt« betrachtete, nicht eines dieser kleinen digitalen Dinger, die heutzutage jeder mit sich herumtrug. »Ich habe gerade einen Film vollgeknipst und …«

»Und ich bin dir dabei zufällig vor die Linse gelaufen«, sagte Cathy verlegen.

»Mir gefällt dein Laufstil.« Flanagans Stimme klang heiser.

»Wirklich?« Cathy hörte die Überraschung in ihrer eigenen Stimme, was sie noch verlegener machte.

»Schöne, geschmeidige Schritte«, sagte Flanagan.

»Danke.« Cathy war froh, dass sie vom Laufen ohnehin schon einen roten Kopf hatte.

»Ich bin Kez Flanagan.« Die andere Frau streckte die Hand aus.

»Ich weiß.« Cathy spürte den kräftigen Druck der braun gebrannten Hand, schaute nach unten, als sie sich von ihr löste, und sah die langen Finger und die lackierten Fingernägel … fast wie die der verstorbenen Sprinterin Flo-Jo, nur deutlich kürzer, ähnlich den Nägeln eines Gitarristen. »Ich bin Cathy Becket.«

Aus der Nähe betrachtet war Flanagans kurzes, stacheliges Haar fast von der feuerroten Farbe des Eisenholzbaums im Hof ihres Hauses auf der Insel. Ihre Augen waren ein grün-geflecktes Haselnussbraun, ihr Kinn spitz, der Mund ebenmäßig und die Nase gerade, aber aggressiv – wie eine Pfeilspitze.

»Ich weiß«, sagte Kez Flanagan. »Ich habe dich schon ein paarmal laufen sehen.«

»Hast du?« Cathy fiel es schwer, Flanagan nicht anzustarren.

»Du bist nicht schlecht.«

»Na ja …« Cathy war verlegen. »Aber ich laufe keine Rennen oder so.«

»Vielleicht solltest du das aber«, sagte Flanagan. »Mit ein wenig Training und Disziplin könntest du ziemlich gut werden.«

Die Stimme klang nun fast so rau wie die eines Rauchers, obwohl Cathy sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass eine engagierte Leichtathletin wie Flanagan, deren Körper sowohl aus der Nähe wie aus der Ferne drahtig und hart wirkte, irgendwelchen Müll in ihre Lunge saugte.

»Du läufst«, fuhr Flanagan fort, »als würdest du vor jemandem fliehen.« Sie sah Misstrauen in den Augen der jüngeren Frau. »Das ist cool … solange du die Kontrolle darüber hast.«

»Ja, so ist es wohl«, sagte Cathy.

»Aber das geht mich nichts an.«

»Nein.« Cathy errötete erneut. »Ich meine … Es macht mir nichts aus, nicht, wenn es von dir kommt.«

»Ich bin keine Expertin.«

»Du bist die Beste.« Cathy hörte die Ehrfurcht in ihrer Stimme, konnte aber nicht anders.

Kez Flanagan zuckte mit den Schultern. »Ich bin vielleicht ein großer Fisch, aber in einem kleinen Teich.«

»Du hast in Sarasota Gold für unsere Uni geholt.«

»Nur weil Jackson sich den Knöchel verstaucht und Valdez Mist gebaut hat.«

»Was ist mit dem Silber in Tampa?«

Flanagan lächelte. »Tampa war etwas Besonderes.«

»Du bist etwas Besonderes«, sagte Cathy.

»Na ja, ich hab meine guten Augenblicke.« Flanagan hielt kurz inne. »Was ich vorhin gemeint habe, über deine Art zu laufen …«

Cathy wartete.

»Bist du sicher, dass es dir nichts ausmacht, wenn ich darüber rede?«, fragte Flanagan nach.

»Ganz und gar nicht«, antwortete Cathy. »Ich kann alle Hilfe brauchen, die ich bekommen kann.«

Sie verließen die Aschenbahn und gingen gemeinsam von der Leichtathletikanlage über einen von Palmen beschatteten Pfad zum Parkplatz, zwei Athletinnen im Trainingsanzug – die rothaarige, hochgewachsene Kez Flanagan und die ein wenig schlankere und fünf Zentimeter kleinere Cathy mit ihrem blonden Haar. Beide gingen unbewusst im gleichen, federnden Schritt.

»Ich bin keine Trainerin«, sagte Flanagan in sachlichem Tonfall. »Aber ich weiß, dass es wichtig ist, die Kontrolle über sich selbst zu haben. Wegzulaufen mag sich ja großartig anfühlen, aber wenn du läufst, zählt nur, wohin du läufst.«

»Das Ziel.«

»Und wie du dorthin gelangst«, fügte Flanagan hinzu. »Du musst auf deinen Körper achten und darfst dich nicht verletzen.«

»Klar«, sagte Cathy.

»Du könntest jemanden brauchen, der dir noch das ein oder andere beibringt«, erklärte Flanagan.

»Wir haben Delaney«, erwiderte Cathy.

Mike Delaney war der Lauftrainer an der Trent University, ein netter Kerl. Allerdings waren einige Studenten der Meinung, dass er nicht der Richtige sei, ihre Mannschaft zur Meisterschaft zu führen.

»Delaney ist in Ordnung«, sagte Flanagan. »Und er war gut zu mir.«

»Er nennt dich seinen Star«, sagte Cathy.

»Er hat mich auch schon anders genannt.« Wieder zuckte Flanagan mit den Schultern. »Und er hatte recht.«

Sie waren nun fast am Parkplatz, der nur zur Hälfte mit den Wagen der Sommerstudenten und Angestellten gefüllt war. »Falls du interessiert bist«, fuhr Flanagan in beiläufigem Ton fort, »könnten wir ja mal zusammen laufen.«

Cathy war mehr als nur interessiert.

»Das fände ich toll«, sagte sie.

Letzter Weg
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