24.

Sam war im Büro, und Cathy – die noch immer ihren Knöchel schonte – war schwimmen gegangen. So war Grace allein zu Hause, als David anrief und ihr mitteilte, dass Gregory gestorben sei, vermutlich an einer Überdosis Drogen.

»Ich hätte dir das gern erspart«, sagte er, »aber Jay glaubt, dass du Annie vielleicht irgendwie helfen könntest. Vielleicht kannst du sie ja überreden, ein Beruhigungsmittel zu nehmen. Ich habe es versucht, aber sie ist …« Seine Stimme klang müde. »Du kannst es dir ja vorstellen.«

»Nein«, erwiderte Grace zutiefst erschüttert. »Gott sei Dank kann ich mir das nicht vorstellen.«

Als Gregorys Arzt war David die erste Person gewesen, die Jay Hoffman angerufen hatte, da er gewusst hatte, dass die Sanitäter ohnehin nichts mehr für seinen Sohn tun konnten. David hatte Jay gesagt, er käme sofort, aber Jay müsse auch sofort die Polizei anrufen, denn dem nach zu urteilen, was er gesagt hatte, war es kein natürlicher Tod gewesen, was bedeutete, dass die Cops die Gerichtsmedizin würden einschalten müssen.

»Weißt du, was er genommen hat, David?«, fragte Grace nun.

»Das kann ich nicht sagen«, antwortete er. »Ich habe ihn nicht untersucht, aber …«

»Aber was?«

»Spekulationen sind sinnlos, Grace. Aber wenn du es ertragen kannst, zu ihnen …«

»David, bitte«, unterbrach Grace ihn. »Du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass ich niemandem auch nur eine Silbe von dem sagen würde, was du mir erzählst.« Sie hielt kurz inne. »Es könnte einen winzigen Unterschied machen, was die Hilfe für Annie betrifft.«

»Kein Wort, okay? Das ist Sache der Gerichtsmedizin, nicht meine.«

»Ist klar.«

»Wir haben es definitiv mit Drogen zu tun, möglicherweise mit Kokain. Gott sei Dank bin ich kein Experte auf dem Gebiet. Aber ich habe ein wenig Silberpapier neben dem Jungen gesehen und eine dieser verdammten Plastiktüten, und …« Er zögerte erneut. »Es hat vermutlich nichts zu bedeuten, aber es sah so aus, als wäre das, was er genommen hat, verdorbener Stoff gewesen.«

»Mein Gott!« Grace’ Entsetzen wuchs.

David klang wütend. »Gregorys Gesicht war grässlich verzerrt, vermutlich von einer Art Krampf, der die unterschiedlichsten Ursachen gehabt haben kann, aber …«

Diesmal wartete Grace, dass er weitersprach.

»Aber es war nicht nur sein Gesicht«, fügte David hinzu. »Sein ganzer Leib sah verkrampft aus.«

»Du glaubst, die Drogen waren mit etwas Giftigem verschnitten?«

»Das passiert doch ständig, oder? Dass Drogen versetzt werden, um mehr ›Bumm‹ zu haben? Mit Rattengift, Insektiziden oder Gott weiß was.« Der Kinderarzt seufzte traurig. »Verrückt.«

Beide schwiegen eine Weile, während Grace ihren Mut zusammennahm, um die Frage zu stellen, die ihr im Augenblick am unerträglichsten vorkam.

»Dann war es kein Selbstmord?« Sie spürte das Baby treten und legte die freie Hand auf den Bauch.

»Was das betrifft, kann ich mich nicht festlegen, Grace.«

»Ich weiß nicht, ob Jay es dir erzählt hat«, sagte sie. »Vergangene Woche hatte ich zwei Sitzungen mit Greg.«

»Doch. Das hat er mir erzählt«, erwiderte David in sanftem Ton.

»Ich konnte ihm nicht helfen«, sagte Grace. »Ich habe ihm nicht geholfen.«

»Du hast es versucht«, entgegnete David.

Aber ich habe mir nicht genug Mühe gegeben, ging es ihr durch den Kopf, doch wütend über sich selbst schob sie den Gedanken beiseite. Hier ging es nicht um sie; hier ging es um einen vierzehnjährigen Jungen, seine Eltern und seine kleine Schwester.

»Ich werde gehen«, sagte Grace. »Sofort.«

Sie fuhr die vertraute Route die Collins hoch, vorbei am Haulover Park, an Dutzenden Apartmentblocks und Hotels, und stählte sich die ganze Fahrt über für das Verhör durch die verzweifelten Eltern, das wahrscheinlich kommen würde – wenn nicht jetzt, dann später.

Vor einigen Jahren hatte eine ihrer Patientinnen, eine depressive junge Frau, Selbstmord begangen. Grace hatte nie den Ausdruck der Qual in den Gesichtern der Eltern vergessen, ebenso wenig wie ihre eigenen Selbstvorwürfe.

Und Cathy. Vergiss nicht Cathy.

Die selbst einmal vor langer Zeit um Hilfe gerufen hatte, die versucht hatte …

Nicht jetzt.

Mit aller Gewalt verdrängte Grace die Erinnerung und konzentrierte sich auf Gregory.

Bitte, lass es ein Unfall gewesen sein.

Ihr verzweifelter Wunsch, der Tod des Jungen möge kein Selbstmord gewesen sein, gründete sich vor allem auf die Sorge um die Familie; aber es gab auch selbstsüchtige Gründe dafür, wie Grace erkannte, als sie im Geiste noch einmal die beiden letzten Sitzungen mit dem Teenager durchging.

Verstört, verletzt, gehetzt und vor allem verängstigt.

Aber nicht selbstmordgefährdet.

Jedenfalls war er das nicht gewesen, als Grace ihn gesehen hatte, aber das schloss natürlich keine plötzliche Verschlechterung aus.

Wenn der unbekannte Grund für seine Angst sich jedoch ungewöhnlich verstärkt haben sollte, war es durchaus möglich, dass Gregory es mit einem Mal als unerträglich empfunden hatte – unerträglich genug, um die Substanz zu benutzen, die David neben dem Leichnam gesehen hatte, was immer es gewesen sein mochte.

Grace erinnerte sich an das Ende ihrer letzten Sitzung mit Greg.

An die Worte, die sie kaum hatte verstehen können.

»Er hat mich gesehen.«

Greg hatte zutiefst verängstigt ausgesehen, als er das gesagt hatte.

Mehr als verängstigt. Panisch.

War das vielleicht nur das Fantasieprodukt eines von Drogen vernebelten Geistes gewesen? Etwas aus seinen Albträumen, das ihn an der Kehle gepackt hatte? Einer von jenen furchtbaren Träumen, die seine Mutter dazu bewegt hatten, ihn wieder zu Grace zu bringen?

Sie hatte ihm nicht geholfen.

Schrecken auf Schrecken wartete hinter den Palmen und Begonien des hübschen Vorgartens am Haus der Familie Hoffman an der North Bay Road.

Die Leiche war bereits fortgeschafft worden, doch im Haus wimmelte es noch immer von Polizei und Spurensicherung. Die Beamten gingen im Schlafzimmer des Teenagers ein und aus und wanderten über die Veranda. Beweistüten wurden versiegelt; Kameras blitzten, und auf der Pegasus waren blau uniformierte Beamte zu sehen. Der Frieden der Bucht war auf Übelkeit erregende Art zerstört.

Das ist mehr wie der Tatort eines Mordes, dachte Grace, nicht wie die Stelle eines Unfalls oder Selbstmords.

Dann erinnerte sie sich daran, dass David gesagt hatte, die Drogen seien vielleicht verschnitten gewesen.

Giftig genug, um zu töten.

»O Gott, Annie«, sagte Grace, als sie Gregs Mutter sah.

»Grace«, sagte Annie. »Danke, dass Sie gekommen sind.«

Grace stand unsicher da. Am liebsten hätte sie die andere Frau umarmt, doch sie rechnete beinahe damit, dass Annie sich wütend auf sie stürzen würde – auf jene Person, an die sie sich mit der Bitte um Hilfe gewandt hatte.

Schließlich war es Annie, die ihr die Arme entgegenstreckte.

»Ich weiß, Grace«, sagte sie und weinte leise. »Ich weiß.«

»Sie werden nie darüber hinwegkommen«, sagte Grace später zu Sam. »Ich werde ja schon nie vergessen, was Annie mir erzählt hat. Wie sollen sie das ertragen?«

Sie schien unauslöschlich in ihren Geist gebrannt zu sein: die Beschreibung von Gregorys Leichnam, verkrümmt, die dunkle Farbe seines Gesichts, das Blut, die schreckliche Fratze. Unerträglich.

»Überall standen Fotos von ihm«, fuhr Grace fort, »und überall lagen seine Sachen herum, als würde er noch leben. Und Annie und Jay waren wunderbar zu mir.«

Es war früh am Abend. Sie waren hinaus auf die Veranda gegangen und ließen die Sorgen des Tages über sich hinwegfließen.

»Sie waren so freundlich, dass ich es kaum glauben konnte«, sagte Grace.

»Es sind feine Leute«, bemerkte Sam.

»Ich hatte eigentlich erwartet, dass sie mich fertigmachen«, fuhr Grace fort. »Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie das Gefühl gehabt hätten, ich hätte Greg im Stich gelassen … was ich ja auch getan habe.«

»Nein«, widersprach Sam ihr mit fester Stimme. »Das stimmt nicht.«

»Ich habe ihn vergangene Woche zweimal gesehen.« Grace machte sich nicht einmal die Mühe, sich die Tränen der Wut aus den Augen zu wischen. »Zwei Stunden, und ich habe nichts erreicht.«

»Sie sind nicht immer bereit, sich helfen zu lassen«, sagte Sam. »Das hast du mir selbst gesagt.«

»Ich hätte ihn mehr unter Druck setzen müssen.«

»Womit du riskiert hättest, ihn dir zu entfremden.«

»Das ist mir ohnehin gelungen, oder?« Grace versuchte, schnell aufzustehen, doch das Gewicht des Babys hielt sie unten; also ließ sie sich stattdessen wieder auf den Stuhl zurückfallen und schlug die Hände vor die Augen. »Tut mir leid.«

»Gracie.« Sam war aufgestanden, kniete vor ihr und nahm sie in die Arme. »Tu dir das nicht an. Du hast dein Bestes getan, wie immer, wie bei allen deinen Patienten.« Er nahm ihr die Hände vom Gesicht und schaute ihr in die Augen. »Das muss das Härteste auf der Welt für dich sein …«

»Vergiss mich.« Grace befreite eine Hand und rieb sich die Augen. »Der arme, arme Junge.«

»Und seine armen Eltern.«

»Tut mir leid«, sagte Grace erneut.

»Genug davon«, erklärte Sam.

Grace schüttelte den Kopf und riss sich zusammen. »Jay hat mir ein paar Fragen über die letzten beiden Sitzungen gestellt, und ich hatte schrecklich wenige Antworten für ihn. Aber ich konnte trotzdem sehen, dass er Angst hatte, diese Antworten zu hören.«

»Vielleicht hatte er Angst davor«, erwiderte Sam, »dass du ihm etwas zeigen könntest, was er selbst hätte sehen sollen.« Er schaute in den dunkler werdenden Himmel hinauf. »Das ist das ultimative Versagen für einen Vater.«

Sampsons kleiner Sarg kam ihm wieder in den Sinn, und er schauderte.

»Nicht.« Grace beugte sich vor und schlang die Arme um ihn.

Er versuchte zu lächeln. »Keine Angst. Wenn du es nicht tust, tue ich es auch nicht.«

»So einfach ist das aber nicht, nicht wahr?«, fragte Grace.

»Ich nehme an, so muss es auch sein«, sagte Sam.

Letzter Weg
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