145.

»Ich war da«, sagte Lucia. »In Naples.«

Ein kleines weißes Boot mit einer braun gebrannten Frau am Steuer, die Sonnenbrille auf das glänzende goldene Haar geschoben, fuhr gelassen an der Christina vorbei und warf kleine Wellen gegen ihren Rumpf.

»Ich habe gesehen, was geschehen ist«, fuhr Lucia fort. »Was sie mit Kez gemacht haben.«

»O Gott.« Grace war entsetzt. »Oh, Lucia, das tut mir schrecklich leid.«

So war es wirklich, trotz der Umstände. Es war erstaunlich, wie schnell ihr Mitgefühl zurückgekehrt war, auch wenn ihr Herz gleichzeitig so verrückt schlug und Angst das Mitgefühl bereits wieder zu verdrängen drohte.

»Sauls junge Freundin und Detective Becket«, sagte Lucia.

Jetzt war ihre Feindseligkeit unverkennbar. Aber wenn man an Sams knappen Bericht über die Ereignisse dachte, die zu Kez’ Tod geführt hatten, wie hätte sie da nicht feindselig sein sollen?

»Ja, mir tut es auch leid«, sagte Lucia. »Für Cathy und Saul. Ich habe gebetet, dass er sich erholen und mit seinem Studium weitermachen würde. Und ich kann sogar verstehen, warum seine Freundin und Ihr Mann getan haben, was sie getan haben … Ich nehme an, in gewisser Hinsicht kann ich das sogar besser verstehen als die meisten.«

Sie trank aus ihrer Tasse und stellte sie dann ab.

»Aber ich kann ihnen niemals verzeihen«, sagte sie.

»Sie haben Cathy beschützt«, erklärte Grace.

»Vielleicht haben sie das ja geglaubt«, sagte Lucia. »Aber niemand wird je mit Sicherheit wissen, ob Cathy Schutz überhaupt brauchte. Und wenn Kez solch eine große Gefahr für sie dargestellt hat, warum ist Cathy dann neben ihr auf die Knie gesunken, als sie gefallen ist? Warum hat Cathy über meiner Nichte geweint, als sie dort sterbend lag?«

»Weil sie ihr am Herzen lag«, antwortete Grace.

»Wenigstens war sie am Ende für Kez da.«

Grace hörte die Bitterkeit.

»Warum sind Sie nicht zu ihr gegangen, Lucia?« Nun war es an ihr, ihr Gegenüber ein wenig herauszufordern. »Wenn Sie dort waren, wenn Sie gewusst haben, dass alles vorbei war, wenn Sie nichts mehr haben tun können, um Kez zu beschützen, warum haben Sie sich dann nicht gezeigt und Ihre Verwandtschaft dort an Ort und Stelle gestanden?« Grace wusste, dass sie ein Risiko einging, aber das war ihr egal; sie wollte eine Antwort. »Warum haben Sie Naples wieder verlassen und sind hierher zurückgefahren?«

»Weil ich noch einige Dinge für sie tun musste«, antwortete Lucia.

»Was für Dinge?«

»Private Dinge.«

Sie schaute auf Grace’ Tasse.

»Sie haben Ihren Tee ja gar nicht getrunken, Frau Doktor.«

»Nein.«

»Haben Sie Angst, ich könnte etwas hineingegeben haben«, fragte Lucia.

»Der Gedanke ist mir gekommen«, antwortete Grace.

»Ich habe genug zur Auswahl.« Sie deutete auf die Pflanzen und das Gewächshaus. »Nux vomica. Ich bin sicher, Sie haben schon davon gehört.«

»Ja«, sagte Grace.

Ihr Herz schlug nun noch schneller, zu schnell, und obwohl sie im Schatten saß, begann sie zu schwitzen. Sie musste aufstehen und weggehen, solange sie noch konnte! Runter von dieser Veranda und zurück durch das weiße Haus und in ihren Wagen.

Grace dachte wieder an Greg, und ihr zog sich der Magen vor Trauer und Wut zusammen.

Noch einige Dinge zu erledigen.

»Ich glaube«, sagte Grace, »nux vomica enthält Strychnin.«

»Aber nicht das, was ich benutzt habe, um den armen Gregory zu töten.« Lucia wusste, in welche Richtung Grace’ Gedanken gingen. »Aber das wissen Sie ja bereits. Gewöhnliches Rattengift war einfacher und effektiver.« Sie schaute sich um. »All das steht mir zur Verfügung, und was benutze ich? Einfaches Rattengift.« Sie deutete wieder auf das Gewächshaus. »Ich habe eine beachtliche Sammlung. Es ist mehr eine Faszination als ein Hobby. Allerdings noch keine Leidenschaft.«

»Wie lange schon?«, fragte Grace.

»Ich habe kurz nach Christinas Tod damit begonnen. Der Natur eigene Pharmazie und tödliche Apotheke, und kein Kind wird mehr davon verlockt und geschädigt, und viele der Pflanzen sind sehr hübsch.« Lucia hielt kurz inne. »Wollen Sie sie sich das ein bisschen näher anschauen?«

»Nicht unbedingt«, antwortete Grace.

»Oh, und ich liebe auch ihre Namen.« Lucias Augen funkelten. »Fingerhut, Bilsenkraut, Nachtschatten, Paternostererbse und Engelstrompete … und ich habe auch meine eigene Kakaoplantage. Und wissen Sie was, Grace? Dieser Tee aus Mistelbeeren hat schon Menschen getötet …«

»Lucia, ich will nicht …«

»Haben Sie gewusst, dass Rhododendron lähmen kann? Oder dass Pfirsichkerne Zyankali enthalten?«

»Ja.« Grace fühlte sich plötzlich ein wenig sicherer. Nun hatte sie es eindeutig mit einer psychischen Krankheit zu tun, und das kannte sie. »Auch Aprikosenkerne, wenn ich mich recht entsinne.«

Lucia lächelte sie an. Es war ein seltsames, trauriges, kleines Lächeln. »Sie haben nicht wirklich noch Angst vor mir, oder, Grace?« Wieder legte sie diese Pause ein. »So war es nämlich eine Zeitlang, aber jetzt nicht mehr.«

»Nein, jetzt nicht mehr«, sagte Grace und stellte fest, dass es stimmte.

In ihrem Leib trat das Baby, und schützend legte sie den rechten Arm darüber.

Lucia lächelte wieder. Dasselbe traurige Lächeln.

»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte sie. »Ich würde Ihrem Kind kein Leid zufügen.« Das Lächeln bekam einen schmerzhaften Zug. »Ich habe schon genug Kindern Leid zugefügt. Gott verzeih mir.«

Sie erhob sich von ihrem Stuhl und ging rasch zu dem Tisch neben dem Gewächshaus.

Dort steckte sie die Hand in den Weingummi, holte drei, vier Stück heraus und stopfte sie sich in den Mund …

Grace fiel auf, wie seltsam sie sich bewegte.

Lucia presste die Lippen aufeinander, drückte die Hand auf den Mund und packte mit der anderen die Tischkante, bis die Knöchel weiß hervortraten. Kraftvoll biss sie zu und schrie unwillkürlich auf.

Das war kein Weingummi.

»Nein!«, schrie Grace.

Lucias Gesicht war nur noch eine verzerrte Maske, während sie heftig kaute und stöhnte.

Grace rappelte sich auf. »Lucia, nein!«

Die ältere Frau war bereits auf die Knie gesunken, die Hand noch immer auf den Mund gedrückt, während sie schluckte und würgte und gegen ihre Reflexe ankämpfte.

»Lucia, was haben Sie getan?« Grace ließ sich neben sie auf die Veranda nieder. »Lucia, um Himmels willen …!«

Lucias Lächeln wurde zu einer grässlichen Grimasse. »Ich musste … sicher … sein«, sagte sie.

Lodernde Wut erfasste Grace.

»O nein!«, sagte sie. »Das lasse ich nicht zu!«

Sie stand auf und ging zum Telefon, so schnell sie konnte.

Letzter Weg
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