27.
25. August
Da Gregorys Leiche noch nicht freigegeben war, hatte es noch keine Beerdigung gegeben und somit auch keine konventionelle Shiva, an der die Verwandten und Freunde der Familie Hoffman hätten teilnehmen können. Doch fürsorgliche Menschen um sich herum zu haben schien im Augenblick das Einzige zu sein, das Annie und Jay davon abhielt, in ihrem Leid zu ertrinken. Also hatten Michael und Lynne Hoffman, Jays Bruder und Schwägerin aus New York, einen Tisch voll Drinks und Snacks für den steten Strom entsetzter Besucher aufgebaut, obwohl die meisten nach jüdischer Tradition selbst etwas zu essen mitbrachten.
Annie und Jay aßen jedoch so gut wie nichts mehr.
Die Leute versuchten, sie mit freundlichen, gut gemeinten, aber dummen Worten zu verführen.
»Gregory hätte nicht gewollt, dass ihr euch zu Tode hungert.«
»Ihr werdet euch schon besser fühlen, wenn ihr was im Magen habt.«
»Ihr müsst stark bleiben – um Janies willen.«
Dem letzten Argument konnten Annie und Jay sogar einen Sinn entnehmen, obwohl Annie bereits zu dem Schluss gekommen war, dass ihr Sohn niemals Drogen genommen hätte und glücklich wäre, hätte sie als Mutter nicht versagt.
Trotzdem bedeutete ihnen Janie nun alles, und sich selbst zu zerstören wäre grausam dem Kind gegenüber gewesen. Und da die Leute ihnen immer wieder Essen unter die Nase hielten, knabberten sie an Crackern, tranken endlos Kaffee und Tee und zwangen sich, ein paar Löffel Suppe zu essen, um die nervenden Gäste zufrieden zu stellen. Jay schenkte sich überdies ein paar J&Bs zu viel ein, und Annie versteckte sich in der Küche und trank gewässerten Weißwein, während Michael und Lynne ihnen auf Schritt und Tritt folgten, vor allem, wenn sie das kleine Mädchen in den Arm nahmen, aus Angst, sie könnten das Kind fallen lassen.
Grace und Sam besuchten die Hoffmans am Donnerstagnachmittag.
Jay und Annie waren nur noch Schatten ihrer selbst, und die Verwirrung der kleinen Janie war schmerzhaft deutlich zu sehen. In der einen Minute wurde sie ihren Eltern von Verwandten abgenommen, damit sie außer Sicht spielen konnte, in der anderen trugen Mutter oder Vater sie herum. Vor allem Annie drückte sie so fest an sich, dass Janie einmal sogar schrie.
»Eine üble Szene«, bemerkte Sam leise.
»Die schlimmste«, stimmte Grace ihm zu.
Auch junge Leute halfen – ein paar von Gregorys Freunden, wie Grace vermutete. Mit seinen Eltern zu reden war ihnen sichtlich unangenehm, und wenn sie miteinander sprachen, dann nur im Flüsterton. Dann und wann aber vergaßen sie allen Anstand und hoben die Stimmen auf eine natürlichere, jugendliche Lautstärke. Bisweilen lachten sie sogar und schauten sich dann schuldbewusst um. Grace hatte Mitleid mit ihnen. Sie wusste, was es bedeutete, in so jungen Jahren bereits mit Tod und Schmerz konfrontiert zu werden.
Grace war gerade im Badezimmer gewesen, um sich die Nase zu pudern, und ging nun durch den Flur zum Wohnzimmer, als sie zwei der Teenager mit gedämpften Stimmen reden hörte.
»Er war am Strand, Mann, in der Mordnacht. Er war da.«
Grace blieb stehen und verhielt sich vollkommen ruhig.
»Ryan, um Himmels willen, hör auf.«
»Ich kann nicht anders.«
Grace versuchte, die beiden nicht anzustarren, sondern so gelassen wie möglich auszusehen. Der Junge, der als Erster gesprochen hatte – der mit Namen Ryan, der so offensichtlich verängstigt war –, war groß, mit breiten Schultern und einem runden, frischen Gesicht. Grace schätzte ihn ungefähr auf Gregorys Alter.
»Er hat sich ausgeschossen, Mann.« Der andere Junge war einen Kopf kleiner, dürrer und hatte rotes Haar und Akne. Er packte Ryan am Arm und versuchte, ihn wegzuziehen. »Er hat bloß Pech gehabt.«
Einen Augenblick lang war Grace nicht sicher, was sie mehr erschreckte: der Bezug zu dem Mord am Strand oder zu hören, wie ein Teenager eine Überdosis Drogen abtat wie einen gewöhnlichen Unfall.
»Er war am Strand.«
Gütiger Gott.
Grace wartete eine Weile. Sie sah, dass Sam mit Jay und dessen Bruder sprach. Annie war nirgends zu sehen. Vermutlich hatte sie sich versteckt, um wenigstens für kurze Zeit Erholung zu finden – was wahrscheinlich nicht funktioniert hatte.
Der große Teenager mit dem frischen Gesicht ging alleine auf die Veranda hinaus.
Grace nutzte die Gelegenheit und folgte ihm.
»Ryan?«
Er drehte sich um. »Ja?«
»Ich bin Dr. Grace Lucca. Tut mir leid, dass ich dich störe.«
»Kein Problem«, sagte Ryan.
»Könnten wir wohl einen Moment miteinander reden?« Grace ging ein paar Schritt näher ans Wasser, weg vom Haus, und der junge Mann folgte ihr verwirrt.
»Ich schulde dir eine Entschuldigung.« Sie sprach leise. »Aber ich konnte nicht anders, als vor ein paar Minuten das Gespräch mit deinem Freund zu belauschen.«
Ryans Blick schoss an ihr vorbei. Er suchte nach einer Fluchtmöglichkeit.
»Ist schon gut«, beruhigte ihn Grace. »Du steckst nicht in Schwierigkeiten, aber es ist offensichtlich, dass du wegen Gregs Tod sehr beunruhigt bist …«
»Wer nicht?«, entgegnete Ryan defensiv.
»Nicht jeder weiß«, sagte Grace, »dass Greg vielleicht einen Mord gesehen hat.« Sie sah Ryans Sorge. »Wirklich, es ist okay. Ich will nur helfen, wenn ich kann.«
»Da gibt es nichts zu helfen«, entgegnete er.
»Das glaube ich aber doch«, sagte Grace. »Aber solltest du beschließen, mir nicht zu sagen, worüber ihr da drinnen gesprochen habt, muss ich vielleicht die Cops bitten, dir ein paar ernste Fragen zu stellen.«
»Das ist keine so große Sache.« Ryans Wangen waren heiß, und erneut zuckte sein Blick zur Tür und dem Zimmer dahinter. »Aber wenn meine Mom und mein Dad herausfinden«, seine Stimme war kaum noch ein Flüstern, »dass ich etwas mit dem Zeug zu tun gehabt habe, auf das Greg so gestanden hat … die bringen mich um.«
»Deine Eltern müssen das nicht herausfinden«, sagte Grace, »obwohl ich es dir nicht garantieren kann.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber dir ist doch klar, dass du jede Information weitergeben musst, die für die Untersuchung von Gregorys Tod von Bedeutung ist, oder?«
»Verdammt«, sagte der Teenager, »das ist nicht fair.«
»Ich weiß.« Mitfühlend, aber sachlich. »Ich nehme an, Greg war ein Freund von dir?«
»Sicher.« Ryan schaute sie sich zum ersten Mal genauer an. »Sie sind Doktor? Sind Sie Ärztin?«
»Ich bin auch eine Freundin von Gregs Eltern.« Grace lächelte sanft. »Ryan, bitte.«
»Okay.« Er seufzte. »Es ist nur … Greg hat eigentlich Dope geraucht, wissen Sie?«
»Ich weiß«, sagte Grace.
Ein Paar mittleren Alters kam heraus, und Ryan wartete, während die beiden in die Bucht hinausschauten, traurig den Kopf schüttelten und wieder hineingingen.
»Sprich weiter«, forderte Grace Ryan auf. »Du hast gesagt, Greg habe Dope geraucht.«
Er winkte Grace, ihm ein Stück weiter weg von der Glastür zu folgen, näher an den Rand der Veranda. »Vor einiger Zeit«, sagte er leise, »hat er mit Koks angefangen. Ich habe ihn davor gewarnt, und nicht nur ich, auch ein paar andere Jungs. Wir alle haben ihm gesagt, er soll damit aufhören … Ich meine, wir wussten alle, in was für eine Scheiße … ’tschuldigung, in was für Schwierigkeiten er ohnehin schon steckte.«
»Erzähl es mir, Ryan.«
»Na ja, Greg wollte nicht hören. Er ist so auf das Zeug abgefahren, dass er nicht mehr aufhören konnte, wissen Sie? Wenn er es sich reinziehen wollte, ist er spät in der Nacht aufgestanden, wenn seine Eltern längst schliefen, hat sich sein Rad geschnappt und ist weit weg gefahren, um … na, Sie wissen schon. Dann hat er entweder am Strand geschlafen oder ist schwimmen gegangen und anschließend wieder nach Hause gefahren.«
»Was ist in der Mordnacht geschehen?« Grace glaubte, die Erleichterung des Jungen zu sehen, sich das alles endlich von der Seele reden zu können. »Ich nehme an, du meinst den Mord am Strand nahe Surfside?«
»Diesen Muller.« Ryan nickte. »Ich hab Greg am nächsten Tag gesehen, und er war total komisch. Ich meine, er war echt daneben, und er wollte mir nicht sagen, warum. Er wollte es keinem von uns sagen. Aber das war an dem Tag nach dem Mord, und ich weiß, dass Greg immer mit dem Rad da runtergefahren ist, in der Nähe vom Park, denn er hat sich immer hinter den Bäumen versteckt, wenn er …«
»Ich verstehe«, sagte Grace.
»Also hab ich mir meine Gedanken gemacht, wissen Sie?«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Er war total daneben, und jetzt ist er …«
Ryan wandte sich ab, und Grace glaubte, dass er gleich in Tränen ausbrechen würde.
»Ist schon gut«, sagte sie.
»Gut? Gar nichts ist gut«, sagte er.
»Das stimmt«, bestätigte sie.
Ryan drehte sich wieder zum Haus um. Seine Augen waren gerötet. »Aber ich war nicht da. Also macht es auch keinen Sinn, den Cops was von mir zu sagen, oder? Ich kann ihnen nämlich wirklich nichts mit Sicherheit sagen.«
»Okay.« Grace wartete einen Herzschlag lang. »Ryan, ich werde das nur einer Person gegenüber erwähnen, und zwar meinem Mann. Er ist Detective in Miami Beach …«
»O Gott!«
»Keine Bange«, versuchte sie, Ryan abermals zu beruhigen. »Aber er untersucht den Muller-Mord, und das bedeutet, dass er davon erfahren muss.«
»Aber da gibt es nichts zu erfahren«, flehte Ryan.
»Vermutlich nicht.« Sanft legte Grace ihm die Hand auf den Arm. »Aber selbst wenn Detective Becket dir ein paar Fragen stellen will, Ryan, gibt es nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.« Sie hielt kurz inne. »Es sei denn, du weißt, wo Greg seine Drogen herbekommen hat.«
»Nein«, beeilte Ryan sich zu versichern. »Nein.«
»Okay«, sagte Grace. »Dann ist das in Ordnung.«