117.

Es war neun Uhr durch, als Grace endlich ihre Stimme hörte.

»Gott sei Dank«, sagte sie.

Sie stand in der Küche. Plötzlich wurden ihr die Knie so weich, dass sie sich setzen musste. David war vor einer Weile gekommen und hatte ihr dringend geraten, ins Bett zu gehen. Sie hatte es ihm versprochen. Dann war er wieder gegangen, um Saul zu besuchen; doch Grace war noch immer nicht nach oben gegangen, denn Sam hatte ihr zwar gesagt, dass Cathy in Sicherheit war, aber solange sie, Grace, noch nicht mit ihr gesprochen hatte, zählte das nicht.

»Alles in Ordnung?«, fragte Cathy.

»Nicht ich bin durch die Hölle gegangen«, erwiderte Grace. »Und ich werde dich auch nicht fragen, ob mit dir alles in Ordnung ist, denn ich weiß, dass es nicht so sein kann

»Ich weiß gar nicht so richtig, wie ich mich im Augenblick fühle«, sagte Cathy. »Ich bin schrecklich müde vom vielen Reden, bin aber auch froh darüber, denn so empfinde ich nicht so viel. Verstehst du?«

»Ja«, antwortete Grace. »Es tut mir leid um Kez.«

»Mir auch«, sagte Cathy.

Grace wollte sie nach Sam fragen, aber plötzlich schien die Tatsache, dass Sam Cathys vermutliche Geliebte erschossen hatte, eine Kluft zwischen ihnen zu öffnen, und sie hatte wieder Angst.

»Sam spricht gerade mit einem Anwalt«, sagte Cathy. »Und soviel ich weiß, sollen wir irgendwohin gebracht werden, um zu schlafen – zumindest wollen sie mich irgendwohin bringen. Was Sam betrifft, bin ich nicht sicher, aber er kommt schon zurecht, Grace. Mach dir keine Sorgen.«

»Ich sollte zu euch rüberfahren«, sagte Grace. »Sam hat zwar gesagt, ich solle hier bleiben, aber nur, weil er geglaubt hat, sie würden dich schon heute Abend gehen lassen.«

Woody tapste in die Küche und legte sich vor ihre Füße.

»Er hat nicht gewusst, wie viel ich den Cops zu erzählen habe«, erklärte Cathy. »Und sie halten mich nicht fest, ich will hier bleiben. Ich muss ihnen alles erzählen.«

»Über Kez?« Grace war vorsichtig.

»Kez hat mir schreckliche Dinge gestanden. Dinge, die sie getan hat.«

»Darfst du es mir erzählen?«, fragte Grace.

»Ich glaub schon«, antwortete Cathy. »Nur bin ich im Augenblick todmüde.«

»Kein Problem«, sagte Grace. »Das kann warten.«

Cathy schwieg einen Moment und fragte dann: »Du weißt das mit Saul schon, oder?«

»Ja«, erwiderte Grace. »Saul hat es Terri erzählt. Er hat ihr den Namen buchstabiert.«

Cathy schwieg.

»Cathy, Süße«, sagte Grace. »Wenn du nicht mehr reden willst …«

»Sie hat diese Leute umgebracht, Grace.« Cathys Stimme klang dünn und verwirrt. »Den Hausmeister von der Trent University und die beiden Frauen. Kez hat gesagt, sie hätte es getan, weil die anderen sie ausgelacht hätten. Sie war verrückt … Sie glaubte, alle würden sie verspotten. Das war schon als Kind so, denn sie hat sich immer für hässlich gehalten. Sie hat geglaubt, ihr Körper sei hässlich, aber so war es nicht, Grace. Sie war nicht hässlich.«

»Nein, das war sie nicht«, sagte Grace.

»Ich glaube, sie hat mich nach Naples gebracht«, erklärte Cathy, »nur um mir zu beichten. Sie hat mich in ein Apartment gebracht, von dem sie sagte, es gehöre ihr … nur dass ich nicht das Gefühl hatte, dass es ihre Wohnung war. Aber sie nannte es ihre ›Zuflucht‹, und es war sehr hübsch. Überall Blumen und …«

Sie verstummte.

»Cathy?«, fragte Grace. »Ist was?«

»Alles in Ordnung«, sagte Cathy. »Ich habe mich nur an etwas erinnert. An eine seltsame Kleinigkeit, als ich die Wohnung zum ersten Mal gesehen habe.«

»Was für eine Kleinigkeit?«

»Es war eigentlich nichts, nur dass sie mir irgendwie vertraut vorkam. Aber dann ist sehr viel geschehen, und ich hab’s wieder vergessen. Doch jetzt weiß ich, woher das Gefühl kam … Grace, erinnerst du dich an das Foto, das Lucia immer auf ihrem Schreibtisch hatte? Direkt neben dem Foto ihres Mannes?«

»Das mit ihrer Nichte.« Grace erinnerte sich verschwommen daran, hauptsächlich, weil Lucia es kürzlich weggebracht hatte, um den Rahmen reparieren zu lassen. Jetzt beunruhigte es sie, dass Cathy inmitten all des Schreckens ausgerechnet darauf zu sprechen kam.

»Es war das, was mir so vertraut vorkam«, erklärte Cathy. »Auf dem Foto standen sie auf einem Balkon, und er sah genauso aus wie der von Kez’ Wohnung. Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich das erwähne. Es ist nichts. Sicher sehen Tausende von Balkonen so aus … mit Klematis und anderen Blumen, die sich hübsch um das Geländer ranken. Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt noch darüber plappere, wo die arme Kez tot ist.«

»Hey«, sagte Grace sanft, »beruhige dich.«

»Ich muss gleich gehen.«

»Ist schon okay«, sagte Grace. »Es war wunderbar, von dir zu hören.«

Sie dachte über Familien nach, über die Gefühle, die Menschen miteinander verbanden.

»Lebt Kez’ Mutter noch? Weißt du das?«

»Ich glaube schon«, antwortete Cathy. »Aber Kez hatte schon seit Jahren nichts mehr mit ihr zu tun, obwohl sie irgendwas von einer Tante erzählt hat, die ihr immer geholfen habe. Ich glaube, es ging um Hilfe, nachdem Kez diese schrecklichen Dinge getan hatte. Ich nehme an, die Tante wusste, dass Kez krank war.«

Grace hörte ein Geräusch im Hintergrund, das wie eine sich schließende Tür klang, und dann die Stimme eines Mannes – Sams Stimme –, und in diesem Augenblick versetzte das Baby ihr einen harten Tritt, als hätte es seinen Vater gehört. Grace legte die linke Hand auf den Leib und lächelte zum ersten Mal seit langer Zeit.

»Sam ist hier«, sagte Cathy. »Er möchte mit dir reden.«

»Versuch, dich ein wenig auszuruhen«, sagte Grace. »Du kannst mich jederzeit anrufen.«

Und dann war Sam am Apparat.

»Schön, sie zu hören, nicht wahr?«

»Kann sie mich jetzt auch noch hören?«, fragte Grace.

»Nein«, antwortete Sam. »Sie hat gerade das Zimmer verlassen.«

»Ich möchte, dass du mir ehrlich antwortest«, sagte Grace.

»Natürlich.«

»Glaubt irgendjemand, dass sie etwas mit Kez’ Taten zu tun gehabt haben könnte?«

»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Sam. »Aber die Tatsache, dass Cathy Kez’ Wagen in Naples gefahren hat und mit ihr am Strand laufen war, bevor …«

»Sie sagt, Kez habe ihr die Morde gestanden«, sagte Grace.

»Aber nur ihr«, sagte Sam. »Im Augenblick wird Cathy lediglich als Zeugin der Schießerei behandelt, und bis jemand etwas Handfestes ausgräbt, um ihre Geschichte zu untermauern, bleibt es genau das: eine Geschichte.«

»Braucht sie einen Anwalt?«, fragte Grace.

»Noch nicht«, antwortete Sam. »Aber mach dir keine Sorgen, Grace. Selbst wenn ein paar Leute Cathy eine Zeitlang beschnüffeln, wird es nicht lange dauern, bis erwiesen ist, dass Kez Flanagan schon mordete, lange bevor sie Cathy getroffen hat.«

»Aber sie waren beide schon eine Zeitlang an der Trent University, als sie sich kennen gelernt haben«, sagte Grace.

»Keine Bange«, beruhigte Sam sie. »Erst haben sie noch einen anderen Becket am Haken – einen, der es vielleicht sogar verdient.«

»Sprich nicht so«, ermahnte ihn Grace. »Bitte.«

»Ich kann nicht anders«, seufzte Sam.

»Du hast das Leben unserer Tochter gerettet«, sagte Grace.

»Ja, vielleicht«, erwiderte Sam, »aber vielleicht hätte ich auch nicht tun müssen, was ich getan habe.«

»Sam, bitte«, sagte Grace mit Nachdruck.

Und sie legte wieder auf.

Letzter Weg
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