Kapitel 26
Zwei Abschiede und eine schockierende Bitte, auf welche Victoria und Max eingehen
Max«, sagte Victoria und trat auf die beiden zu. Er hielt Sebastian an der Kehle fest und hatte den Pflock griffbereit in der Hand. »Lass ihn los.«
Sie brauchte seine Hilfe ohnehin nicht, aber es bestand auch keine unmittelbare Gefahr mehr.
Sie hatte gesehen, dass das glühende, begehrliche Rot aus seinen Augen verschwunden war, und er hatte jetzt wieder seine eigentliche Augenfarbe. Deshalb wusste sie, dass der Moment der Schwäche vorbei war. Ob die Versuchung ihn wieder überkommen würde, musste abgewartet werden, aber im Moment hatte er sie unter Kontrolle.
Ehe sie ihn zur letzten Ruhe bettete, wollte sie wissen, warum er es getan, warum er diese Last auf sich genommen hatte.
Max ignorierte ihren Befehl und drückte Sebastian weiter an die Wand, sodass dieser sich nicht rühren konnte. Stattdessen fragte er: »Hat er von deinem Blut getrunken?« Seine Worte klangen gepresst und noch abgehackter als sonst. »Oder sonst etwas getan?«
»Nein.« Sie nahm sich einen Moment lang Zeit — nur einen Moment, jetzt, wo die Gefahr gebannt war -, um Max in seiner Wildheit zu bewundern. Schließlich war sie immer noch eine Frau. Und sie war völlig vernarrt in den Mann.
Max rückte seinen Pflock zurecht, als würde er zögern, ihn ungenutzt wegzustecken; dann ließ er die Hand fallen und wandte sich von Sebastian ab. Er schaute sich im Raum um, wobei sein Blick Victoria nur flüchtig streifte, als hätte er Angst, ihn sonst nicht mehr von ihr abwenden zu können. Er verhielt sich genauso wie nach seiner bestandenen Prüfung, als er sie auch nicht beachtet hatte. Doch dieses Mal meinte sie zu verstehen, warum er es tat. »Lilith?«
»Sie ist tot«, antwortete Sebastian. Wie man es von ihm kannte, trat er nun von der Wand weg und richtete seine Kleidung, als wäre nichts Traumatischeres vorgefallen als das Verrutschen eines Halstuches.
»Tot?« In Max' Stimme schwang Überraschung mit; eine für ihn ungewohnte Regung. »Wirklich?«
»Natürlich war es Victoria, die sie vom Leben in den Tod befördert hat. Haben Sie je daran gezweifelt, dass die Frau etwas nicht schaffen könnte, das sie sich vorgenommen hat?« Ware nicht erst vor wenigen Augenblicken noch diese schreckliche Situation gewesen, Victoria hätte nicht gewusst, dass Sebastian sich verändert hatte; denn er schlug den gleichen lässigen Tonfall an, den man von ihm gewohnt war.
Sein leerer Blick war verschwunden. Wahrscheinlich weil es Lilith nicht mehr gab, die ihn in ihren Bann gezogen hatte. Außerdem schien er seine Umgebung wieder bewusster wahrzunehmen.
Angesichts dieser Erkenntnis schien Max den Mut zu haben, sie endlich direkt anzuschauen; doch als er es tat, wurde seine ohnehin schon strenge Miene noch finsterer. »Himmel noch mal, Victoria. Bedeck dich.«
Sie sah nach unten und stellte fest, dass durch ihr zerrissenes Hemd der halbe Oberkörper und eine Brust zu sehen war. Die andere Brust war im Begriff, aus der Leibbinde zu rutschen, sollte sie ihren Pflock heben. Es erstaunte sie, mit wie viel Blut Haut und Hemd bedeckt waren, und während sie den Stoff zusammenraffte, so gut es ging, schaute sie Sebastian an.
Sein Blick war wieder durchdringend geworden, und sie sah, wie seine Augen erneut anfingen zu glühen. Sein Atem ging ein bisschen schneller, und sein Mund öffnete sich.
»Sebastian«, sagte sie mit scharfer Stimme.
Ihr früherer Liebhaber sah sie an, und sie spürte den leichten Sog, den sein Blick auf sie ausübte. Es war mehr als nur der Versuch, sie zu verlocken.
»Er braucht Blut«, ertönte eine vertraute — doch völlig unerwartete — Stimme.
Victoria drehte sich um und erblickte Wayren. Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Überraschung oder ihre Freude über die Anwesenheit der Frau zu verbergen. Es gab keinen Grund dafür.
»Er muss Blut trinken«, sagte Wayren und trat in die Mitte des Raumes. Sie schaute sich um, als wäre sie neugierig, wie der Unterschlupf aussah, der der dämonischen Lilith gehört hatte. Victoria nahm an, dass das bei einem so wissenschaftlich interessierten Engel wohl nicht sonderlich überraschte.
»Ich fühle mich wirklich ein bisschen hungrig«, gestand Sebastian. »Ich glaube, ich muss wohl tatsächlich etwas zu mir nehmen, und zwar bald. Ein empörender, aber notwendiger Aspekt meines neuen... sagen wir... Lebens?« Seine Lippen verzogen sich in unangenehmer Weise, ehe er wieder sein gewohntes selbstironisches Lächeln aufsetzte. »Ich entschuldige mich für die Szene eben, Victoria. Meine niederen Instinkte sind mit mir durchgegangen.«
Er sprach zwar leichthin, doch sie sah eine Mischung aus Hunger und Enttäuschung auf seinem Gesicht. Victoria überlief ein leichter Schauer. Sebastian stand ein schwerer Weg bevor, wenn er sich dafür entschied, so zu bleiben, wie er war. Hatte er diese Entscheidung wirklich aus freien Stücken gefällt?
War es nicht besser, ihn von seinem Elend zu erlösen, ehe er seinem Verlangen nachgab? Um seine Seele zu retten, wie sie es auch schon bei Phillip getan hatte? Sie hob die Hand mit dem Pflock, um den Gedanken in die Tat umzusetzen.
In dem Moment kam Michalas mit gezücktem Pflock in den Raum gestürmt. Brim war dicht hinter ihm. Als sie der überraschenden Szene ansichtig wurden, blieben beide stehen und verneigten sich kurz vor der alterslos scheinenden blonden Frau.
Und dann stellte Michalas die Frage, die Victoria unterdrückt hatte: »Wayren, wie bist du hier hereingekommen?«
Der Engel bedachte ihn mit einem strahlenden Lächeln. »Ich wusste, dass es an der Zeit war. Sebastian brauchte mich.«
Max unterdrückte ein Schnauben, und Victoria konnte sich vorstellen, was er dachte. Ein Vampir, der der Führung eines Engels bedarf. Welch eine Untertreibung.
Wayren bedachte Max mit einem Blick, der das schaffte, was Victoria nicht gelungen wäre: den arroganten Ausdruck von seinem Gesicht zu vertreiben. Dann glättete sich ihr blasses Gesicht wieder, und sie sagte zu den Neuankömmlingen: »Solltet ihr es nicht bereits am Frösteln im Nacken bemerkt haben, Sebastian hat seine Umwandlung zugelassen. Er braucht Blut, andernfalls muss Victoria sich weiterhin gegen ihn zur Wehr setzen. Michalas?«
Sollte Michalas der Gedanke gekommen sein, dass das eine seltsame Bitte an einen Venator war, so zeigte er es nicht. Tatsächlich verließ er den Raum — wahrscheinlich, um für Sebastian etwas zu trinken zu finden —, und Wayren wandte sich wieder zu den anderen um. »Sebastian hat seine Verwandlung im Gegensatz zu dir, Victoria, als du mit derselben Situation konfrontiert warst, bereitwillig in Kauf genommen. Seine Lage ist jedoch eine ganz andere, sie hat nichts mit dem Kampf zu tun, den du mit Beauregard ausgefochten hast. Dafür gibt es einen Grund.«
Victoria nickte. Sie erinnerte sich daran, wie sie damals aus dem Schlaf erwacht war, nachdem sie fast in eine Untote verwandelt worden war, und feststellen musste, dass Max mit einem Pflock in der Hand neben ihrem Bett stand, bereit, ihn in ihre Brust zu stoßen. Sie würde das Gleiche für Sebastian tun... hätte es sogar bereits getan, wäre ihr Bedürfnis nicht so groß gewesen zu verstehen, warum er es getan hatte. Und um sicherzustellen, dass die Aufgabe wirklich erledigt war, die er sich vorgenommen hatte.
»Er hätte nicht umgewandelt werden müssen«, sagte sie und sprach damit aus, was ihr die ganze Zeit durch den Kopf gegangen war. »Konnte er nicht den Platz mit Max tauschen, aber darauf vorbereitet sein... auf sich aufzupassen?«
»Lieber sterben, als sich in einen Vampir verwandeln zu lassen«, meinte Max. »So wie ich bereit gewesen wäre zu sterben, hätte sich die Notwendigkeit ergeben.«
Wayren trat neben Sebastian, der sich in ihrer Nähe etwas unbehaglich zu fühlen schien. »Er hat sich dafür entschieden, weil er ein Opfer bringen wollte. Indem er Max' Platz einnahm, gab er seine Freiheit auf, und dann verzichtete er zu Gunsten von Giulia auch noch auf seine Seele. Ihre Verdammnis wird aufgehoben sein, sobald er seine Aufgabe beendet hat.«
»Seine Aufgabe?«, fragte Victoria. »Könnten wir ihn nicht einfach pfählen, damit er nicht wieder in Versuchung geführt wird?«
»Ah«, wurden sie von Sebastian unterbrochen, »ich würde es wirklich begrüßen, wenn hier nicht so nebenbei über mein Ableben diskutiert wird. Aber ich hätte eine Frage, Wayren, wenn es erlaubt ist. Ich habe Rosamundes Prophezeiung gelesen und sie so verstanden, dass sie sich auf mich bezieht oder beziehen könnte. Aber wie lang ist dieses >lang gegebene Versprechens und wann wird meine Aufgabe wohl vollendet sein?«
Wayren lächelte, und die Wärme dieses Lächelns schien den ganzen Raum zu erfüllen; nicht in dieser drückenden, erstickenden Weise, wie Liliths Feuer und ihre Gegenwart es getan hatten, sondern auf eine sanfte, angenehme Art. »Du wirst wissen, wann es so weit ist«, sagte sie zu ihm. »Aber ich vermute, die Venatoren werden deine Hilfe noch ein Jahrhundert lang oder mehr brauchen und willkommen heißen. Insbesondere, weil es für mich jetzt an der Zeit ist, sie zu verlassen und nach Hause zurückzukehren.«
Victoria sah sie mit großen Augen an. »Du verlässt uns?«
»Und Vioget soll deinen Platz als Ratgeber einnehmen?« Max klang so, als hätte man ihm vorgeschlagen, er sollte sich ebenfalls in einen Untoten verwandeln lassen.
Wayren zuckte die Achseln, und ihr Lächeln wärmte weiter den Raum. Sie schien sich eindeutig über die Entwicklung der Ereignisse zu freuen. »Er weiß mehr über Vampire als sogar du, Max, und er wird noch lange nach dir, Victoria und euren Kindern da sein. Ich bin sicher, dass er eine Möglichkeit finden wird, den Venatoren behilflich zu sein.«
»Keine Angst, Pesaro«, meinte Sebastian mit gedehnter Stimme. »Ich werde mich in Kürze nach Amerika begeben. Ich bezweifle, dass ich hier bin, wenn das Kind kommt.«
Victoria bedachte ihn mit einem wütenden Blick. Sie wusste genau, dass Sebastian dieses kleine Detail absichtlich hatte fallen lassen, um Max zu zeigen, dass er ihm mal wieder um eine Nasenlänge voraus gewesen war.
Woher wusste er, dass sie es Max noch nicht erzählt hatte? Wahrscheinlich weil Sebastian klar war, dass Max' Beschützerinstinkte deutlich ausgeprägter gewesen wären, hätte er gewusst, dass sie schwanger war.
Er grinste sie in der ihm eigenen Art an, die immer noch ein Kribbeln in ihrem Bauch auslöste. Und das war der Moment, in dem es ihr endlich klar wurde. Glasklar.
Sebastian war fort. In jeder Hinsicht.
Er hatte sein Leben für sie und für Giulia hergegeben und sich auf eine weit gefährlichere und schwierigere Aufgabe eingelassen als sie und Max. Sie hatte nur für kurze Zeit gegen dieses unbändige Verlangen, die instinktiven Bedürfnisse, gegen das Böse des Vampirbluts kämpfen müssen.
Wie konnte Sebastian nur glauben, dass er in der Lage wäre, diesen niederen Instinkten Jahre, Jahrzehnte, vielleicht sogar noch länger nicht nachzugeben?
Ihre Blicke trafen sich, und er ließ seine Augen leicht aufglühen, als wollte er sie daran erinnern, was sie miteinander geteilt hatten... und was sie immer noch miteinander teilen könnten, wenn sie nur bereit dazu wäre. Ein Überrest seiner leicht diabolischen Ader.
In dem Moment traf Victoria eine Entscheidung. »Ich werde jemanden aussuchen, der dich begleitet, Sebastian. Jemand, der zumindest... zumindest eine Weile bei dir bleibt.«
Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Mein eigenes Tutela-Mitglied?«
Sie erkannte seinen Versuch, witzig zu sein, und ließ es ihm durchgehen. »Einen Venator-Beschützer. Du bist immer noch ein Venator, Sebastian. Du trägst die vis.«
»Das tue ich. Und das werde ich auch in Zukunft tun. Obwohl ich nicht weiß, ob das genügt.« Trauer überschattete seinen Blick, und Victoria spürte ein Ziehen im Herzen.
Lass ihn stark sein.
»Und der Ring«, sagte Wayren. »Der Ring, den du trägst, wird dir auch Kraft geben.«
In dem Moment kehrte Michalas zurück, und Sebastians Blick wurde wie magisch von ihm angezogen. Seine Nasenflügel weiteten sich, als versuchte er das Blut zu wittern, und sogar Victoria nahm den leicht metallischen Geruch wahr. »Komm mit«, sagte Michalas.
Sebastian nickte und murmelte dabei etwas über die Vorzüge von Kalbsblut gegenüber dem von Rinderblut, und Victoria war froh, dass er das Blut des Tieres, welches Michalas für ihn besorgt hatte, nicht vor ihren Augen trinken würde.
Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke, und sie schaute erst Michalas an, um dann Wayren einen bedeutungsvollen Blick zuzuwerfen. Der Engel nickte. Ja, er wäre der Richtige, um Sebastian zu begleiten, so seltsam die Aufgabe auch für einen Venator zu sein schien.
Sebastian verließ den Raum, und Stille breitete sich aus. Victoria spürte, wie ihr plötzlich Tränen in den Augen brannten, und wütend auf sich selbst wischte sie sie weg. Als sie aufsah, bemerkte sie, dass Brim gerade dabei war, sich unauffällig aus dem Zimmer zu entfernen, während Wayren ihm in ihrer leisen Art folgte.
Als sie zu Max schaute, wusste sie warum.
Er schäumte vor Wut.
»Kämpfen wir jetzt miteinander?«, fragte sie dreist.
»Sag mir... sag mir einfach, dass du es nicht wusstest.«
»Max«, erwiderte sie geduldig, »ich werde mich nicht neun — oder eher acht, vielleicht auch sieben - Monate lang zurücklehnen und nichts tun.«
Sogar von dem Platz aus, wo sie stand, konnte sie das Knirschen seiner Zähne hören. Sie bekam vor Freude ganz schmale Augen. Max sprachlos?
»In diesem Punkt werden wir uns wohl nie einig werden, was?«, fragte er schließlich.
»Max, also wirklich. Ich bin nicht wie andere Frauen.«
Er schnaubte. »Ach ja?« Dann war er mit ein paar Schritten bei ihr und zog sie in seine Arme. »Ich freue mich. Aber es gibt eine Sache, die du wissen musst.«
Sie schaute zu ihm auf. »Du wirst es mir bestimmt gleich sagen.«
»In den Adern des Kindes wird Gardella-Blut fließen. Aber es wird meinen Namen tragen. Ist das klar?«
Ausnahmsweise einmal war sie mit ihm einer Meinung.