Kapitel 6
Eine unwillkommene Aufforderung
Wayren?«, rief Victoria mit fragender Stimme, sobald sie Max auf sich zukommen sah. All die anderen brennenden Fragen, die sie während des langen Heimritts gequält hatten, brauchte sie nicht zu stellen. Denn obwohl sein Gesicht im trüben Licht des anbrechenden Tages abgespannt wirkte und seine Kleidung voller Blut war, konnte er noch gehen. Er humpelte zwar und bewegte sich sehr langsam, aber er ging. Gott sei Dank.
Gott sei Dank.
»Sie hat sich wieder erholt«, sagte er.
Ihre Anspannung ließ nach, um dann gleich zurückzukommen.
Sie waren in Sicherheit. Für den Moment.
Victoria sah, wie sich Max' Blick auf Sebastian richtete, der gegen sie gesunken war. Ein Arm lag um ihren Hals, während sie ihn mit einem um seine Hüfte geschlungenen Arm stützte. Sie hatte den Verdacht, dass er sich ein bisschen geschwächter zeigte, als er eigentlich war; denn die letzte Viertelstunde hatten seine Finger sie unter ihrem Zopf gestreichelt. Die zärtliche Berührung löste ein Kribbeln in ihren Schultern aus, das sich bis in ihre Arme fortsetzte und sie daran erinnerte, dass Sebastian im Gegensatz zu Max keine Probleme mit Nähe hatte.
Zumindest mit ihr nicht.
Als sie den Friedhof verließen, war Sebastian nicht in der Lage gewesen, sich auf den Beinen zu halten. Grund dafür war die tiefe Fleischwunde, die sich von der Hüfte bis zum Knie zog. Trotz des schmerzverzerrten Gesichts hatten seine Augen vor Freude aufgeleuchtet, als sie vorschlug, mit ihm zusammen auf einem Pferd zu reiten, sodass sie ihn beim Galoppieren stützen konnte. Sein Bein blutete immer noch. Beim Reiten hatte sie gemerkt, wie sein warmes Blut ihr linkes Hosenbein durchtränkte.
Die Unbeweglichkeit seines Beins galt allerdings nicht für seine Hände. Diese lagen fest an ihren Hüften, während er sich sanft an ihren wunden Rücken schmiegte.
Max wandte sich ab und ging zu Brim. Er ließ Victoria und Sebastian allein die drei Stufen zur Haustür hinaufsteigen. Oben wartete Kritanu.
Die Sonne schien ganz plötzlich aufzugehen, als blendende Strahlen zwischen Dächern und Schornsteinen auftauchten, als wäre eine Lampe angeknipst worden. Es fiel Victoria schwer zu glauben, dass es nur Stunden her war, seit sie sich für Lady Winnies Tanzabend angezogen hatte und in ihrem roten Kleid genau diese drei Stufen hinabgestiegen war.
Jetzt fühlte es sich so an, als hätten sich viele Dinge in irgendeiner undefinierbaren Weise verändert.
Sobald sie im Haus war, ging Victoria sofort zu Wayren, die sich nicht erhob, als sie den kleinen Raum betrat, obwohl sie sich völlig erholt zu haben schien.
»Danke«, sagte sie zu Victoria und streckte ihre schmalen Hände nach ihr aus.
Victoria ergriff sie und spürte Wärme und innere Ruhe - Gefühle, die sie immer durchströmten, wenn sie Wayren berührte. Sie wusste nicht so viel über die Frau, wie es ihr lieb gewesen wäre. Aber nach dem, was sie durch die Dämonen von ihr gesehen hatte, meinte sie, doch ein bisschen über sie erfahren zu haben. Victoria wies die Dankbarkeit der anderen zurück. »Es war Max, der dich in Sicherheit gebracht hat.«
Wayrens Finger schlossen sich fester um Victorias Hände, und ihre Blicke trafen sich. »Meine Rettung habe ich euch beiden zu verdanken. Du musstest ihn gehen lassen... und er musste gehen.«
Die Röte, die ihr in die Wangen schoss, kam für Victoria ganz unerwartet, und automatisch wollte sie zurückweichen. Ihre Gefühle für Max waren immer noch neu für sie und so tief in ihr vergraben, dass es ihr unangenehm war, wenn so entspannt darüber gesprochen wurde. So offen. Dennoch verstand Wayren, wie schwer es ihr gefallen war, Max fortzuschicken, nicht mehr über ihn wachen zu können... wo sie doch gleichzeitig gewusst hatte, dass er der Einzige war, bei dem sie sich darauf verlassen konnte, dass er Wayren in Sicherheit bringen würde.
»Was ist passiert?«, fragte Victoria und ließ sich mit schmerzendem Körper neben Wayren zu Boden sinken. Es war ihr seltsam zuwider, die Hände der Frau loszulassen, obwohl ihre Muskeln vom Kampf immer noch vor Anspannung zitterten und weh taten. Sie hatte Schmerzen, sie blutete, sie zitterte... doch die vis bullae, ihre Schutzamulette, hatten dafür gesorgt, dass alles nicht so schlimm war, wie es hätte sein können.
»Sie haben mich in einem Moment zu fassen bekommen, in dem ich nicht damit gerechnet hatte«, erzählte Wayren. »Ich war auf einen alten Friedhof gegangen, um dort nach etwas zu sehen. Wahrscheinlich nicht der Friedhof, auf dem du mich gefunden hast. Aber ich bin mir nicht sicher, denn in meinem Kopf ist ein einziges Wirrwarr. Die schwarzen Schatten haben sich auf mich gestürzt, sind in mich hineingeflogen und haben mich geschwächt, sodass ich sie nicht mithilfe meiner Kräfte abwehren konnte.«
Victoria nickte. Sie erinnerte sich daran, was für ein Gefühl es gewesen war, als diese geflügelten Kreaturen in ihren Körper eingedrungen und hindurchgeflogen waren; wie kalt und gelähmt sie sich gefühlt hatte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Es grenzte an ein Wunder, dass Wayren überlebt hatte.
Allerdings... sie hatte nicht geatmet, als Victoria sie fand. Es war kein Herzschlag zu spüren gewesen. Trotzdem hatte sie sich bewegt und lebte immer noch.
»Max hat mir erzählt, wie ihr mich gefunden habt. Gott sei gedankt für Myza.« Wayren blickte zu Kritanu, und Victoria bemerkte erst jetzt, dass dieser den kleinen Vogel an seinen Körper drückte.
»Wer oder was war das?«, fragte Victoria. Sie spürte, dass Sebastian an ihr vorbeistrich und ihr kurz die Hand auf den Scheitel legte, als er zum nächsten Sessel humpelte.
Wayren ließ den Blick durch den Raum schweifen. Ihre sonst so gelassenen Gesichtszüge waren sehr ernst geworden. »Brim, Michalas, ihr seid zurückgekommen, um zu helfen. Ich danke euch. Und auch Sebastian.« Sie sah ihn ruhig an und nickte dann. »Ich danke euch allen.« Ihr Blick ruhte etwas länger auf ihm als nötig, dann schaute sie woanders hin. »Gefallene Engel.
Dämonen. Sie haben mich mitgenommen; aus welchem Grund, weiß ich nicht genau. Doch allein die Tatsache, dass sie es gewagt haben, mich anzufassen...« Ihre Augen wirkten einen Moment lang so farblos klar wie kühle Mondsteine, während ihre Stimme immer leiser wurde, bis sie ganz verklang.
Plötzlich tauchte sie aus ihrer Versunkenheit wieder auf. »Ich bin müde, Victoria, und jemand muss sich um deine Wunden kümmern. Und auch ihr anderen müsst verarztet werden und euch ausruhen. Ich bin hier in Sicherheit; und das wird auch so bleiben, bis wir uns ausgeruht haben.«
Victoria stand langsam auf. Dabei drückte sie Wayrens Hand, bis sie sie schließlich losließ. »Ich bin froh, dass du heute Nacht hier bleibst«, erklärte sie. »Wir werden alle viel ruhiger schlafen können.«
Der Arzneitrank, den Kritanu ihm gegeben hatte, linderte den Schmerz ein wenig, der Max' ganzen Körper erfasst hatte. Allerdings gefiel es ihm überhaupt nicht, zugeben zu müssen, dass er ihn brauchte; auch wenn es den Tatsachen entsprach.
Seine Muskeln zitterten, und die behandelten Verletzungen wollten einfach nicht aufhören zu nässen, während er sich frische Sachen anzog und dabei die ganze Zeit über Wayrens Ratschlag nachdachte.
Werde wieder ein Venator.
Wenn er diesem Rat folgte, würde er keine Arzneitränke mehr brauchen. Er würde nicht zur Seite treten müssen, um es einem stärkeren und gewandteren Vioget zu überlassen, einen Kameraden zu retten. Er würde keinen Grund haben wegzugehen.
Trotzdem ertrug er den Gedanken zu bleiben nicht.
Er konnte es noch nicht einmal, wenn er die Fähigkeiten zurückbekam, die ein Venator besaß. Er war voller Misstrauen gegen sich selbst. Wäre er stark genug, das Richtige zu tun?
Sie zu teilen?
Max spürte den aufsteigenden Dampf, als er das immer noch heiße Wasser in die Waschschüssel goss. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht und auf die Brust und keuchte vor Schmerz, weil er sich zu heftig bewegt hatte. Kurz hielt er inne, um wieder zu Atem zu kommen.
Er hatte das Gesicht gerade in einem von Kritanus Handtüchern vergraben, dem ein angenehmer Zitronenduft entströmte, als es an der Tür klopfte. Der nervöse, rothaarige Dienstbote Oliver zuckte zusammen, als Max die Tür mit einem Ruck aufriss. Der Stallbursche, der ihm heute Abend bei seiner Rückkehr das Pferd abgenommen hatte, wurde offensichtlich auch für andere Aufgaben in dem kleinen Haushalt eingesetzt.
»Verzeihung, Sir, aber die Herrin wünscht, dass Sie sie aufwarten«, erklärte Oliver fast formvollendet.
Max sah ihn mit finsterer Miene an. »Die Herrin?« Wayren oder Victoria?
Oliver wirkte einen Moment lang verwirrt, dann fing er sich wieder und ergänzte: »Lady Rockley.« Offensichtlich hatte Wayren nicht den gleichen hohen Status in seinen Augen wie Victoria. Doch das überraschte eigentlich nicht weiter. Nur die Venatoren - und die Bösen — wussten, welche Fähigkeiten sie besaß.
Max knüllte das Handtuch zusammen und warf es auf den Tisch. Ein Zipfel landete im noch vollen Waschbecken. Verdammt noch mal. Konnte sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Er holte sein letztes sauberes Hemd hervor und zog es sich über die immer noch feuchte Haut, sodass es an seinem ganzen Oberkörper festzukleben schien. Gerade als er den Kopf durch den Ausschnitt schob, hörte er den Mann noch sagen: »Sie erwartet Sie in ihrem Zimmer.«
Max erstarrte, und seine Finger krallten sich in den Hemd-stoff. »In ihrem Zimmer?«
Gütiger Himmel.
Dann konzentrierte er sich auf die wirbelnden Gedanken — und, verdammt, Bilder -, die diese Information hervorrief, und entschied sich für die ihm angenehmsten. Victorias Gesicht war kalkweiß gewesen und ihre Kleidung voller Blut. War sie vielleicht doch schwerer verletzt, als er gedacht hatte? Während des kurzen Beisammenseins im Salon hatte sie Wayrens Hand kein einziges Mal losgelassen.
Max öffnete den Mund, um Oliver zu fragen, aber der junge Mann war bereits fortgeeilt und hatte die Tür sperrangelweit offen gelassen.
Ihm blieb also nichts anderes übrig, als ihr seine Aufwartung zu machen.
Er presste die Lippen aufeinander, malmte mit den Zähnen und machte sich auf den Weg. Gewiss würde ihm nicht gefallen, was er vorfand.
Doch nichts passierte, als er herrisch an ihre Schlafzimmertür klopfte. Max wartete einen Moment, dann klopfte er noch einmal und legte diesmal mehr Nachdruck hinein. Die Tür ging auf. Sie war nur angelehnt gewesen. Himmel! Sollte er etwa einfach hineingehen?
Verdammt.
Als er vor ein paar Monaten nach London zurückgekehrt war, hätte er nicht gezögert, ihr Zimmer zu betreten. Damals hatte sie ihn aber auch nicht eingeladen.
Und noch dazu war jetzt Morgen. Es war hell, was bedeutete, dass man völlig bloßgestellt war; es gab nur wenig Schatten, der es einem ermöglicht hätte, sich zu verstecken.
Max drückte die Tür ganz auf, und sein Blick wanderte sofort zum Bett. Es war leer.
Er trat in den Raum und schloss die Tür hinter sich, während er sich im Raum umschaute. Frühmorgendliche Sonnenstrahlen drangen durch die Zweige vor dem Fenster und tauchten das Zimmer in einen warmen Schein. Das gemachte Bett war unberührt. Die Frisierkommode stand neben einer Tür, durch die man wahrscheinlich in einen kleinen Ankleideraum gelangte. Der mit einem Spiegel versehene Tisch stand voller typisch weiblicher Utensilien: Parfümflakons, Kämme, Bürsten, Schmuck, Pflöcke, Ampullen mit Weihwasser...
Er stutzte und schaute genauer hin, wobei er nach einer schlanken Flasche aus bläulichem Glas suchte. Nein. Sie war nicht da. Der Trank, von dem er wusste, dass Victoria ihn zu sich nahm, um nicht schwanger zu werden. Früher hatte Tante Eustacia ihn für sie hergestellt, jetzt machte das Kritanu. Aber er war weg, und er wusste, dass Victoria sich an ihr Versprechen gehalten hatte, ihn nicht mehr zu nehmen.
Max mochte nicht darüber nachdenken, was das zu bedeuten hatte, und wandte sich abrupt ab, um sich im restlichen Raum umzuschauen.
Im Kamin lag sauber aufgeschichtetes Holz, das nur angezündet zu werden brauchte, wenn es kühl oder regnerisch werden sollte. Ein Sessel in der Ecke neben den bodenlangen Vorhängen stand schön weit von allen anderen Sitzgelegenheiten entfernt. Es war der gleiche Sessel, in dem er bei früherer Gelegenheit schon gesessen hatte. Heute Morgen standen die Fenster offen, und eine sanfte Brise strömte herein.
Wo zum Teufel war Victoria? Hatte sie nun nach ihm geschickt oder nicht?
Plötzlich hörte er ein leises... Plätschern. Wasser.
Max schaute an der Frisierkommode vorbei zum Ankleidezimmer und stieß einen unterdrückten Fluch aus.
Sie nahm doch tatsächlich ein Bad.
Er drehte sich um und wollte schon flüchten, als die Zimmertür aufging und Verbena, Victorias Zofe, hereingeeilt kam. Sie trug einen Stapel Tücher und schien nicht überrascht, ihn zu sehen.
Jetzt war es zu spät, um unbemerkt wieder zu verschwinden.
»Ah, da sind Sie ja«, sagte die Zofe und sauste an ihm vorbei. »Tut mir leid, dass Sie noch warten müssen, Mylord, Sir«, redete sie weiter, und die Flakons auf der Frisierkommode klirrten, als sie daran vorbeirauschte und im Ankleidezimmer verschwand.
Wo Victoria ihr Bad nahm.
Allmächtiger im Himmel.
Max zog es in Erwägung, doch noch zu flüchten, als sich die Zimmertür wieder öffnete und Vioget hereingehumpelt kam.
Er hatte noch nicht einmal geklopft.
Und er wirkte außerordentlich selbstzufrieden, als er nicht förmlicher gekleidet als Max, nur mit Hose und nicht ganz zugeknöpftem Hemd angetan, hereinkam. Vioget zeigte sich sonst nie so nachlässig gekleidet; wahrscheinlich erwartete er, dass er schon bald gar nichts mehr anhaben würde.
Max war sich nur zu sehr Viogets Vorliebe für Verführungsszenen an außergewöhnlichen Orten bewusst und konnte sich deshalb die nächste Bemerkung nicht verkneifen. »Sie sind ja gar nicht in Ihrer gewohnten Umgebung, Vioget. Es ist keine Kutsche in Sicht.«
Das musste er dem Mann lassen — er überwand den ersten Schreck fast sofort. »Was machen Sie hier?«
»Wahrscheinlich das Gleiche wie Sie«, erwiderte Max mit honigsüßer Stimme, während er sich in den Sessel in der Ecke sinken ließ. »Ich bin der Einladung unserer Ladyschaft gefolgt. Oder sind Sie etwa ungeladen erschienen?«
»Ich meinte damit, was Sie hier in London machen, nicht in diesem Zimmer«, erwiderte Vioget.
Max wandte den Blick ab. Verdammt gute Frage. Wenn er ging, hatte Victoria gar keine andere Wahl, als sich mit Vioget zusammenzutun.
Jetzt, wo sie den Trank aus der kleinen blauen Flasche nicht mehr zu sich nahm.
Er musterte Vioget mit einer Mischung aus Unvoreingenommenheit und Abscheu. Max wusste, dass Sebastian bei all seinen Fehlern Victoria doch von Herzen zugetan war und die Frau beschützen würde, die vor kaum etwas Angst hatte und eigentlich auch keinen Schutz brauchte — zumindest keinen offensichtlichen Schutz.
Wenn Max ihm nur endlich nicht mehr im Weg stünde und Vioget das tun ließe, was beide Männer eigentlich wollten.
»Sie ist gestern Abend ohne Begleitung zu einem Ball gegangen«, sagte Max. »Und hat ihn ausgerechnet mit George Starcasset verlassen. Wären Sie ein bisschen achtsamer, sähe ich mich vielleicht in der Lage, die Stadt zu verlassen, sodass Sie ihr den Hof machen können.«
Vioget ballte die Hände zu Fäusten, und einen Moment lang dachte Max, dass er sie auch einsetzen würde. Sein Blick huschte kurz nach unten zu den verkrampften Fingern, dann glitt er wieder nach oben, um Vioget in die Augen zu sehen. Ja.
Genau in dem Moment hörte er das leise Tappen nackter Füße und das kaum merkliche Rascheln von Kleidung. Erfrischt vom Bad betrat Victoria das Zimmer. Ihr Gesicht war noch gerötet von der Wärme, ihre Augen leuchteten hell, und sie brachte einen würzig-exotischen Duft mit sich, der sie umhüllte. Sie war sittsam von Kopf bis Fuß bekleidet. Nur ihre nackten Zehen guckten heraus, und angesichts der Tatsache, dass sowohl Max als auch Vioget weit mehr als diese zarten Glieder gesehen — berührt, geküsst — hatten, war es wohl lächerlich, sich an diesem schamlosen Anblick zu stören.
»Ah, ihr seid beide da. Gut.« Sie setzte sich auf die Bettkante, die so hoch war, dass ihre Füße nur knapp den Boden berührten. »Tut mir leid, dass ich euch in dieses Zimmer bestellt habe, aber es gibt keinen anderen Ort, an dem wir reden können. Wayren ist im Salon, und ich will sie nicht stören... und Brim und Michalas schlafen im Trainingsraum auf dem Fußboden. Das Haus ist nicht groß genug, um so viele Menschen zu beherbergen.« Sie hob herausfordernd das Kinn, als warte sie nur darauf, dass einer ihr vorhielt, man hätte sich doch auch im Esszimmer oder sonst wo treffen können.
Es war einer der unwirklichsten Momente in seinem Leben, als Max erkannte, dass er gleich an einer Einsatzbesprechung in Victorias Schlafzimmer teilnehmen würde.
Eines Tages würde er vielleicht mit Erheiterung daran zurückdenken.
»Brim und Michalas sind nicht zum Gespräch eingeladen?«, fragte er gedehnt. »Wie schade.« Ihr dunkles Haar lag wie ein Vorhang über der einen Schulter, und er erinnerte sich an ihren Schrei, als einer der Dämonen sie daran in die Luft gezerrt hatte.
Victoria richtete den Blick auf ihn, und verdammt wollte er sein, wenn da nicht ein Hauch von Selbstgefälligkeit in ihrer Miene lag. »Ich bitte um Verzeihung für die Formlosigkeit des gewählten Treffpunkts, Max«, erklärte sie. »Ich stelle fest, dass du überall lieber wärst als hier.«
Volltreffer.
Sie drehte sich in Viogets Richtung, der sich für den Hocker vor der Frisierkommode entschieden hatte und nun mit dem Rücken dazu saß, um sich entspannt unterhalten zu können. »Wie geht es deinem Bein?«
»Verbena hat Kritanu beim Verarzten geholfen, und ich gehe davon aus, dass ich durch ihre vereinten Anstrengungen in der glücklichen Situation bin, zumindest diese Gliedmaße nicht zu verlieren.« In Viogets Stimme schwang eine leise Wut auf sich selbst mit, sodass Max' Blick für einen Moment zur linken Hand des Mannes huschte — an der zwei Drittel des kleinen Fingers fehlten, was er einer außerordentlich blutdurstigen Dame namens Sara Regalado zu verdanken hatte.
»Daran hege ich keinen Zweifel«, meinte Victoria und setzte sich auf ihrem Platz zurecht. Dabei öffnete sich ihr Morgenmantel ein wenig, sodass man ein bisschen von dem sehen konnte, was sie darunter trug.
Max erkannte das Gewand. Unglücklicherweise. Es war derselbe blasslila Stoff, ein Nachthemd aus Spitze und Satin, welches sie das letzte Mal angehabt hatte, als er in ihr Schlafgemach eingedrungen war. Jenes Nachthemd, bei dem die Fantasie nur noch wenig zu tun hatte, da das Mieder ganz aus Spitze bestand. Damals hatte er eine Bemerkung dazu gemacht und ihr gesagt, sie solle das schreckliche Gewand bedecken... doch im Nachhinein konnte er sich des Verdachts nicht erwehren, dass sie wusste, dass er nicht wegen des Schnitts darauf bestanden hatte. Verdammt.
»Vielleicht sollte ich einen Blick darauf werfen, Sebastian. Nur um sicherzugehen«, sagte Victoria. Sie beugte sich nach vorn, und der Ausschnitt klaffte noch ein bisschen weiter auf, sodass die Andeutung von Spitze zu erkennen war.
»Vielleicht könnten wir uns jetzt endlich unserem eigentlichen Thema zuwenden«, stieß Max mit eisiger Stimme hervor. »Dann werde ich mich zurückziehen, und ihr beiden könnt nach Herzenslust gegenseitig eure Wunden begutachten.«
Es fiel ihm heute etwas schwer, verärgert und gelangweilt zu klingen. Und als Vioget ihm mit hochgezogenen Augenbrauen einen fragenden Blick zuwarf, ignorierte Max die Selbstgefälligkeit, die auf dem Gesicht des anderen Mannes lag.
Es würde wirklich am besten sein, wenn er endlich ein für alle Mal verschwand.
Dann hätte er zumindest nicht mehr so große Schwierigkeiten damit, Entscheidungen zu treffen... und sich auch an sie zu halten.
Victoria zog ihren Morgenmantel zusammen und richtete sich auf. Ihre Miene wurde ernst. »Ich habe mit Brim gesprochen, ehe er schlafen gegangen ist - seine Verletzungen sind sehr schwer, aber er wird wieder in Ordnung kommen. Das hat er dir zu verdanken, Sebastian.« Sie sah Vioget an, der daraufhin mit hochgezogener Augenbraue zu Max blickte.
»Pesaro war zuerst da. Ehre, wem Ehre gebührt. Nicht wahr?«
»Natürlich. Max.« Sie nickte ihm zu, und er bemerkte einen höchst frostigen Ausdruck in ihren Augen.
Gut. Sie war immer noch wütend auf ihn. Es war besser, wenn das auch so blieb.
»Auch Brim ist sich sicher, dass uns noch nie von einem derartigen Angriff berichtet wurde. Allerdings waren er und Michalas ja gerade im Begriff gewesen, ein Ansteigen dämonischer Aktivität in Paris zu untersuchen. Aus gesicherter Quelle wurde ihnen berichtet, dass beobachtet worden sei, wie sich eine unheimliche schwarze Wolke über einem Friedhof bildete.«
Brim und Michalas hatten ihre Nachforschungen einige Wochen zuvor unterbrochen, um Victoria dabei zu helfen, Liliths Pläne zu durchkreuzen.
Max richtete sich auf. Seine Gedanken kreisten jetzt nicht mehr um solch frivole Dinge wie lilafarbene Nachthemden aus Spitze, sondern hatten sich wichtigeren Themen zugewandt. Und es gefiel ihm nicht, welche Richtung seine Gedanken einschlugen. »Wayrens göttliche Kräfte erwiesen sich als nutzlos gegen diese Dämonen«, erklärte er. »Wären wir nicht rechtzeitig da gewesen, hätte das unter Umständen ihr Ende bedeutet. Sie war in Paris, ehe sie hierherkam«, fügte er bedeutungsvoll hinzu.
Victoria sah ihn an. »Ich habe den Verdacht, dass es das ist, hinter dem sie her sind.«
»Natürlich.« Ungeduld schwang in seiner Stimme mit. »Das bedeutet, dass...«
»Dass etwas Größeres im Gange ist. Die Dämonen erheben sich.«
Ihre Blicke trafen sich, und Max merkte, wie sich ein ungutes Gefühl in seinem Innern regte. Vampire allein waren schon ein schwerwiegendes Problem, doch wenn Dämonen sich erhoben, wenn unzählige von ihnen aus den Tiefen der Hölle freigelassen wurden, dann würde das sowohl Sterbliche als auch Untote vernichten. Dämonen — Engel, die vor langer Zeit in Ungnade gefallen waren - und Vampire waren Todfeinde, genau wie Sterbliche und Vampire.
Max und Victoria hatten schon früher mit Dämonen zu tun gehabt, allerdings nur mit einem oder zweien, die über nicht sehr viel Macht verfugten. Doch was sie heute Abend an dämonischem Unwesen auf dem Friedhof erlebt hatten, war ihnen noch nie zuvor begegnet. Der Angriff war intelligenter, massiver und gefährlicher als bei Akvan oder sogar Lilith gewesen.
»Wayren kennt sich mit der Macht und Stärke von Dämonen besser aus als jeder andere. Natürlich würde man also als Erstes sie aus dem Weg räumen, ehe man versucht, die Macht an sich zu reißen; wenn sie denn das Ziel war.«
»Aber woher kommen sie?«, fragte Vioget, der den beiden die ganze Zeit gebannt gelauscht hatte. »Dämonen können doch nicht einfach aus der Hölle aufsteigen. Sie müssen losgelassen werden. Irgendwie. Irgendwo.«
»Nicht von Lilith«, meinte Victoria und sah Max an.
Er unterdrückte ein Schnauben, während ihn gleichzeitig ein Schauer des Unbehagens durchfuhr. »Natürlich nicht. Lilith würde nie mit Dämonen paktieren, sie hasst sie.«
»Aber sie bat dich, Akvans Obelisken zu zerstören. Sie wusste ganz genau, dass er sie auf die Erde zurückrufen würde«, wandte Vioget ein.
»Ein einzelner Dämon hat für Lilith keine Bedeutung. Und Akvan war kaum mehr als ein Raufbold für sie. Aber die hier... die sind anders. Hier haben wir es mit einer ganz anderen Größenordnung des Bösen zu tun.«
Victoria nickte. »Genau. Etwas ist da anders.« Einen Augenblick lang wirkte es fast so, als hätte sie Angst. Dann war der Moment vergangen. »Ich werde Brim und Michalas nach Paris zurückschicken; ich will wissen, ob sie noch mehr über die Vorfalle dort herausfinden können. Und ob es dort noch weitere solcher Vorkommnisse gegeben hat, seit wir es hier mit den Dämonen zu tun bekommen haben — mit anderen Worten: Ziehen die Dämonen umher und suchen nach... etwas... oder gibt es sie an mehreren Orten? In der Zwischenzeit würde ich gern mit euch noch einmal den Friedhof aufsuchen. Am Tage. Bewaffnet mit ganz viel Weihwasser.«
Max nickte kurz, dann stand er auf. Die Zusammenkunft war beendet. Er hatte Schmerzen. Er war erschöpft. Und er wollte ganz weit weg von den beiden. »Sehr schön.«
Victoria ließ sich vom Bett gleiten, und es gab einen dumpfen Schlag, der vom Teppich gedämpft wurde, als ihre Füße auf dem Boden aufsetzten. »Ich hoffe, es hat dir keine zu großen Umstände gemacht, zu mir zu kommen, Max«, meinte sie steif.
Ehe er sich umdrehen konnte, klopfte es an der Tür, und sie ging auf. Verbena steckte den Kopf herein. Ihre blauen Augen waren ganz groß. »Entschuldigen Sie die Störung, Mylady«, sagte sie. »Aber Kritanu möchte, dass Monsieur Vioget zu ihm kommt.«
Max merkte, dass Viogets Blick kurz zu ihm huschte und sich dann auf die Tür richtete... als hätte er Max im Verdacht, die Unterbrechung geplant zu haben. Er presste die Lippen aufeinander. Wenn hier irgendjemand etwas geplant hatte, dann war das Victoria. Nicht Max.
Und wenn Vioget das nicht begriff, dann war er vielleicht doch nicht in geeigneter Weise darauf vorbereitet, es mit Victoria aufzunehmen.
Max sah sie an und stellte fest, dass sie, während sie irgendwohin blickte, nur nicht zu ihm, außerordentlich unschuldig wirkte. Verflucht. Zur Hölle mit ihr.
»Entschuldigt mich bitte«, sagte Vioget und stand abrupt auf. Er verbeugte sich kurz vor Victoria. »Bist du so weit durch mit allem?«, fragte er.
Sie schaute ihn direkt an und erwiderte: »Für den Moment, ja. Aber ich bin hier, wenn du noch einmal wiederkommen möchtest.«
Max musste blinzeln, und beinahe wäre ihm der scharfe Blick entgangen, mit dem Vioget ihn bedachte. In der Absicht zu gehen, wandte er sich der Tür zu. Nur zu gern bereit, ihn vorbeigehen zu lassen, trat Vioget zur Seite.
»Max.«
Er drehte sich um, während sich seine Hände zu Fäusten ballten. Ihre Blicke trafen sich, und er wusste, dass sie ihn noch nicht gehen lassen würde.
Vioget konnte sein Gehen nicht weiter verzögern, ohne dabei wie ein Narr zu wirken, und so verließ er den Raum, wobei er die Tür hinter sich nicht schloss, sondern nur anlehnte. Victoria ging zur Tür und machte sie richtig zu. Dabei streifte sie Max mit ihrem Körper.
Er wappnete sich gegen die Empfindungen, die in ihm aufsteigen wollten, und erinnerte sich an jene Momente in der Kutsche. Sie schaute zu ihm auf, und alles, was er in ihrem Gesicht sah, war auch tief in seine Seele gemeißelt. »Was ist los?«, fragte er mit harter Stimme. Wütend.
Warum war sie so beharrlich?
»Danke, dass du Wayren nach Hause gebracht hast. Ich wusste, dass du der Einzige warst, dem ich diese Aufgabe anvertrauen konnte.«
»Ich war der Einzige, den du beschützen müsstest.«
»Ich wusste, dass du derjenige sein würdest, der es schafft, sie zurückzubringen, Max. Mit vis bulla oder ohne. Wayren und ich haben miteinander geredet. Sie hat mir erzählt, dass sie dich gebeten hat, zu den Venatoren zurückzukehren.«
»Das werde ich nicht tun.« Die Worte kamen über seine Lippen, ehe er darüber nachgedacht hatte.
»Das hat sie auch gesagt.« Sie stand vor ihm. Weit genug weg, sodass er sie nicht berühren konnte — wenn er es gewollt hätte —, aber dicht genug, dass er noch die Ingredienzien roch, die sie beim Baden benutzt hatte. »Du brauchst dein Leben nicht aufs Spiel zu setzen, um wieder ein Venator zu werden. Das spielt für mich keine Rolle.«
Max schnaubte. »Ich setze mein verdammtes Leben jeden verfluchten Tag aufs Spiel, Victoria. Als würde mich diese Furcht vor der Aufnahmeprüfung abhalten...«
»Aha, jetzt wird mir einiges klar.« Ihre Stimme wurde ganz kalt, und sie wandte ihren Blick von ihm ab. Eine feuchte Locke klebte an ihrer aufgeschürften Wange. »Es ist nicht die Furcht vor dem Tod. Sondern wenn — falls - es dir gelingt, wieder die vollen Fähigkeiten eines Venators zu erlangen, hättest du keinen Vorwand mehr, um zu gehen. Keinen Vorwand, dich zu verstecken. Mich Sebastian aufzudrängen. Ist es nicht so, Max?«
Heiße Wut schoss durch seinen Körper, und er öffnete schon den Mund, um zu antworten. Aber im Grunde wollte er nicht darüber sprechen. »Du solltest dir die Haare schneiden.«
Sie sah ihn überrascht an, ging aber auf seinen Themenwechsel ein. »Ich habe auch schon darüber nachgedacht. Es ist zu lang und bringt mich dadurch in Gefahr.«
Das war nicht die Antwort, mit der er gerechnet hatte. Sie gefiel ihm nicht.
Tod und Verdammnis. Im Moment gefiel ihm gar nichts.
»Max, du hast Recht. Solange Lilith so besessen von dir ist, bedeutet das eine zusätzliche Gefahr.«
Er musterte sie aus zusammengekniffenen Augen, und wieder begann sich Unbehagen in ihm breitzumachen.
»Deshalb habe ich beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.« Sie lächelte. Es war kein verführerisches Lächeln oder auch nur ein erfreutes. Es war ein wildes, ein wölfisches Lächeln. »Sobald ich sicher bin, dass keine Gefahr mehr für Wayren droht, werde ich mich auf die Suche nach Lilith begeben ... und sie umbringen.«