Kapitel 17

In dem Sebastian eine ungewöhnliche Besonnenheit an den Tag legt

 

Victoria hatte es den Atem verschlagen.

Er ist geblieben.

Victoria schloss die Augen und presste die Hände auf ihren sich verkrampfenden Magen. Nein. Neineineineineineiiiiin.

»Wir haben die Ringe«, wiederholte Michalas mit sanfterer Stimme. »Lilith hat sie hergegeben.«

Aber sie hatte Max behalten.

»Wir — ich — muss zu ihm«, sagte sie und hatte plötzlich wieder einen klaren Kopf. Die Benommenheit fiel von ihr ab; die Übelkeit schwand. Selbstvertrauen regte sich in ihr und Entschlusskraft.

Das konnte sie tun. Das war ihre Aufgabe, ihre Pflicht, ihre Berufung. Sie war Lilith schon früher gegenübergetreten. Max musste wissen, dass sie nachkommen würde. Bestimmt hatte er es so geplant.

Obwohl ihre Hände zitterten, richtete sie sich hoheitsvoll auf und sah die beiden Männer nacheinander an. »Michalas, du kennst jetzt den Weg zu ihrem Unterschlupf. Du kannst mich hinfuhren, und ich finde dann einen Weg nach drinnen.« Sie wandte sich an Sebastian, der schon den Mund geöffnet hatte, um mit ihr zu diskutieren. »Ich weiß, dass wir alle fünf Ringe haben. Du und Brim, ihr könnt ja schon losreiten und die Kugel holen, während ich Max befreie.«

»Wir haben Gäste«, sagte Sebastian. Eine leichte Brise zerzauste ihm das volle blonde Haar. Er hatte den Blick, in dem Mitleid und Verständnis lagen, nicht einmal von ihr abgewendet. »Lilith hat ein paar von ihren Leuten mitgeschickt, die helfen sollen.«

Victoria drehte sich um und sah drei tief vermummte Gestalten, die im Schatten des kleinen Wirtshauses standen, in dem sie und Brim übernachtet hatten. Das erklärte das Frösteln, das sie die ganze Zeit über im Nacken gespürt, aber nicht beachtet hatte, als sie erkannte, dass Max nicht bei Michalas und Sebastian war. Jeder andere Gedanke hatte sich verflüchtigt, als sie merkte, dass er fehlte.

Doch jetzt nahm sie die Gegenwart der Vampire wahr, die sich gut verhüllt hatten, um sich vor der untergehenden Sonne zu schützen.

»Sie sollen die Ringe zurückbringen, wenn wir sie nicht mehr brauchen«, erklärte Sebastian ihr.

Erleichterung durchströmte Victoria. »Und dann lässt Lilith Max wieder frei? Sie hält ihn nur als Geisel fest?«

Er schüttelte den Kopf. »Das war nicht Teil der Abmachung.«

Wieder zog sich ihr Magen zusammen. »Dann machen wir es so, wie ich gesagt habe. Michalas und ich befreien Max, während du zum verzauberten Teich reitest.«

Sebastian holte schon Luft, um zu widersprechen, doch Victoria wandte sich einfach ab und ging zu den Vampiren. Sie standen dicht zusammen und achteten sorgsam darauf, dass kein Teil ihrer Haut der Sonne ausgesetzt war. Unter den schweren schwarzen Kapuzen sahen zwei sie mit rubinroten Augen an, der dritte hatte rosafarbene Augen. Sie sah ein Schwert aufblitzen, welches von einer nicht sichtbaren Hand des Vampirs mit den rubinroten Augen gehalten wurde. Zwei Imperiale und ein Wächter.

Victoria lief ein leichter Schauer über den Rücken. »Ich bin Victoria Gardella«, sagte sie zu ihnen.

»Wir wissen, wer Sie sind«, erwiderte der größte von den drei Vampiren, bei dem es sich um einen weiblichen Imperialen handelte. Das Schwert, das Imperiale immer mit sich führten, schob sich drohend an der Seite ihres Umhangs vor. »Ich werde Mercy - Gnade - genannt, weil ich keine Gnade kenne. Ich soll eine Nachricht übermitteln.«

Victoria gab mit einem Nicken zu verstehen, dass sie sie hören wollte.

»Wir drei sollen Sie zum verzauberten Teich bringen und dann weiter zum Midiversum-Portal begleiten. Danach sollen wir umgehend und unbeschadet mit den Ringen zurückkehren. Wenn wir nicht innerhalb von einer Woche wieder da sind, wird Maximilian leiden.«

»Sie wird ihn also freilassen, wenn Sie zurückkehren?«

Die Imperiale lachte. »Nein. Lilith verspricht nur, ihn nicht zu foltern, ehe sie ihn in einen Untoten verwandelt.«

»Allein schon ihre Gegenwart ertragen zu müssen ist eine Qual«, erwiderte Victoria. »Außerdem habe ich keine Garantie dafür. Das hält mich bestimmt nicht davon ab, Sie noch in diesem Augenblick in Asche zu verwandeln.«

Die Imperiale zuckte die Achseln, und ihr Schwert streifte dabei den Umhang ihres Gefährten. »Wie auch immer; aber wenn wir drei die Ringe nicht innerhalb einer Woche zurückbringen, können Sie sicher sein, dass sie ihr Wort halten wird.«

Victoria presste die Lippen aufeinander und wandte sich ab. Sie musste zu ihm. Die anderen konnten die Kugel holen, und sie konnten auch zum Midiversum-Portal reiten. Brim, Michalas und Sebastian brauchten sie nicht.

Sie konnte Max nicht im Stich lassen, sie musste zu ihm.

Ohne ein weiteres Wort drehte Victoria sich um und ging ins Wirtshaus. Sobald sie in dem Zimmer war, in dem sie schlief, wühlte sie in der großen Ledertasche, in der sie ihre Waffen aufbewahrte. Sie würde bis an die Zähne bewaffnet hineingehen und sich bis zu Max durchkämpfen.

Michalas konnte ihr den Eingang zum Unterschlupf zeigen, dann würde sie ihn wieder zu den anderen schicken. Sie würden schon mindestens zu dritt sein müssen, um es mit den Dämonen aufnehmen zu können, die durch das Portal kamen, aber sie konnten es schaffen.

Victoria wusste, dass sie das konnten. Sie waren Venatoren.

Max.

Wütend wischte Victoria sich die heißen Tränen aus den Augen. Wie hatte er das tun können? Er musste gewusst haben, was passieren würde.

Wie konnte er mich einfach zurücklassen.

Sie hätten zusammen gehen sollen.

Ein Geräusch hinter ihr ließ sie sich kerzengerade aufrichten, und sie wischte sich schnell wieder übers Gesicht, ehe sie sich umdrehte. Sebastian stand auf der Türschwelle und sah sie an.

»Victoria.«

»Du kannst mich nicht aufhalten«, erklärte sie mit ausdrucksloser Stimme. »Versuch es gar nicht erst. Ich muss zu ihm. Er würde das Gleiche für mich tun.«

Sebastian nickte. »Natürlich würde er das wollen. Aber du kennst doch Max und weißt, wie unerträglich rechtschaffen er ist. Immer muss er das Richtige tun. Er leidet lieber, als dass er glücklich ist.«

»Ich weiß nicht, was du da gerade versuchst, aber du wirst es nicht schaffen, dass ich meine Meinung ändere.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht gekommen, um deine Meinung zu ändern. Er wusste, dass du hinter ihm herkommen würdest. Und natürlich solltest du ihm folgen, Victoria. Ich würde dir auch folgen. Immer.«

Wieder stiegen ihr diese verdammten Tränen in die Augen.

Warum jetzt? Warum fing sie nach zwei Jahren Angst und Schrecken an, sich jedes Mal wie ein sentimentales Seelchen zu benehmen, wenn irgendetwas passierte? Tante Eustacia hatte nie Tränen vergossen.

»Aber ich wollte dir erzählen, wie es da drin war«, fuhr Sebastian fort und trat ins Zimmer. »Er war brillant. Ich hätte wirklich niemals gedacht, dass ich das einmal laut sagen würde, aber der Mann war einfach brillant. Und stark. So verdammt stark. Er war ihr immer einen Schritt voraus; er wusste, was sie als Nächstes sagen — und tun — würde, ehe sie es tat. Er hatte alles bis ins Detail geplant.«

»Warum in Gottes Namen habt ihr sie nicht einfach umgebracht und euch die Ringe genommen?«, brach es aus Victoria heraus. »Warum musste er sich im Tausch anbieten? Wusste er nicht, was er mir damit antut?« Sie machte den Mund zu und presste die Lippen aufeinander, aber ihre Stimme war bereits ein schrilles Klagen geworden.

»Ich habe mich dasselbe gefragt, aber dann habe ich begriffen«, sagte Sebastian mit fast schon sanfter Stimme. Er bedachte sie mit einem eindringlichen Blick, und es lag eine Ernsthaftigkeit darin, die sie nicht häufig bei ihm gesehen hatte. »Wir wären nicht an die Ringe rangekommen, nachdem sie tot war. Sie waren in einem kleinen Raum verborgen. Lilith berührte die Wand mit der Hand, und aus dem Nichts erschien eine Tür. Es handelte sich wohl um irgendeine Art von Zauberei. Allein hätten wir den Raum oder die Ringe nie gefunden, und es wäre alles umsonst gewesen.«

»Aber nachdem ihr sie hattet«, rief sie verzweifelt, »da hättet ihr doch die Möglichkeit gehabt, sie anzugreifen und mit den Ringen zu gehen. Ihr musstet ihn doch nicht dalassen!«

Jetzt brachen die Tränen endgültig hervor, und wütend und beschämt wischte sie sich übers Gesicht.

Er öffnete schon den Mund, um etwas zu sagen, doch dann schien er es sich anders überlegt zu haben und zog sie stattdessen in seine Arme. Sie ließ es zu, dass er sie umarmte, ihren Kopf an seine Schulter drückte, sodass sie die vertraute und tröstliche Nähe seines Körpers spürte, der nach Nelken und Tabak roch. Wie oft hatte er das schon für sie getan? Und dieses Mal... sie wusste, dass er dieses Mal keine Hintergedanken hegte.

Er wollte sie nur trösten. Der liebe Sebastian.

»Victoria«, sagte er, und seine tiefe Stimme ließ seine Brust unter ihrem Ohr beben, »er wusste um das Risiko. Er war sich völlig im Klaren über das Opfer, das er brachte.«

Opfer.

Verdammter Max. Warum musste er so verflucht edelmütig sein?

»Wir hatten keine Waffen. Ohne ihre Erlaubnis hätten wir den Unterschlupf nicht verlassen können. Er wusste das, er war früher schon mal dort gewesen. Max wusste, was er tat, wusste um das Risiko. Das Opfer, das er brachte. Es gab keine andere Möglichkeit.«

Opfer.

Tante Eustacia hatte sich auch geopfert. Sie hatte Max dazu gebracht, das Undenkbare zu tun, weil sie wusste, dass er ihrem Befehl Folge leisten würde. Ein Leben im Tausch gegen die Sicherheit vieler.

Victoria schob den Gedanken beiseite. Das war etwas anderes. Hier ging es um Max. Ihren Max.

Entweder sie befreite ihn, oder sie starb bei dem Versuch. Sie wollte nicht ohne ihn leben.

Feigling.

Sterben, und die anderen leben weiter. Allein.

Ich bin ein Feigling wenn es um dich geht.

Sie löste sich von Sebastian. »Geh und hol die Kugel. Ich werde...« Ihre Stimme brach. Sie hatte das Gefühl, als würde jemand ihre Innereien verdrehen, um sie auszuwringen. Alles zog sich immer stärker, immer fester zusammen, bis ihr auch der letzte Rest Empfindungsfähigkeit abhandengekommen war und sie sich völlig leer fühlte.

Sie schluckte, stellte sich aufrecht hin und sah ihm direkt ins Gesicht. »Als Illa Gardella gebe ich dir den Befehl zu gehen. Hol die Kugel. Schließ das Midiversum-Portal. So Gott will, werden wir uns später wiedersehen.«

Sebastian sah sie an. »Illa Gardella«, sagte er, streckte die Hand nach ihrer Wange aus und wischte eine Träne weg. »Du bist eine wunderbare Frau, Victoria. Eine tapfere, intelligente Anführerin. Schön und stark.« Sein Blick wurde eindringlich, und er nahm ihr Kinn in die Hand, damit sie ihn weiterhin ansah. »Du bist Illa Gardella. Vergiss das nie.«

Er hob ihr Gesicht an und küsste sie. Nicht auf die Lippen, sondern auf die Wangen; erst auf die eine, dann auf die andere. Dann verließ er den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Das war der Moment, in dem sie wusste, dass er endlich akzeptiert hatte, dass sie Max liebte.

Sie wandte sich wieder ihren Reisevorbereitungen zu und spürte, wie aufs Neue Furcht in ihr aufstieg. Wenn sie zu spät kam, was dann?

Wenn es ihnen nun doch nicht gelang, die Kugel an sich zu bringen? Wenn etwas schiefging und das Portal nicht geschlossen wurde?

Du bist Illa Gardella.

Das war sie.

Die Beine gaben unter ihr nach, und sie ließ sich aufs Bett sinken.

Du bist jetzt Illa Gardella, Victoria. Du hast eine Verpflichtung gegenüber dem Konsilium und dem Rest der Venatoren. Du darfit nicht länger nur an dich selbst denken, an deine Bedürfnisse und Wünsche, sondern musst dein Hauptaugenmerk auf die weitreichenden Konsequenzen deines Handelns richten. Oder Nichthandeins.

Es wird Zeit, dass du lernst, ein Opfer zu bringen.

Max' wütende Worte von damals dröhnten in ihrem Kopf, Worte, die er während ihrer Flucht vor Nedas vor einigen Monaten förmlich gebrüllt hatte.

Opfer.

Verdammte Opfer.

Illa Gardella. Die Letzte in einer langen Ahnenreihe.

Natürlich. Es ging ihm nicht nur darum, sie, Victoria, die Frau, die er liebte, zu beschützen... sondern auch die Letzte in einer langen Ahnenreihe.

Natürlich.

Es gefiel ihr zwar nicht, aber jetzt verstand sie seine Beweggründe. Sie verstand, warum er sie zurückgelassen hatte, warum er sie hatte zurücklassen müssen. Warum er dachte, dass er sie zurücklassen müsste.

Und sie wusste, dass sie ihm nicht folgen konnte. Zumindest nicht sofort. Erst musste die Aufgabe erledigt werden.

Verpflichtungen hatten Vorrang vor persönlichen Wünschen.

Aber dann. Dann würde sie tun, was sie geschworen hatte zu tun. Sie würde Lilith aufspüren und sie töten.

Und dann wäre Max wieder frei.

Die fünf Ringe passten erstaunlicherweise perfekt vom Daumen bis zum kleinen Finger. Sebastian hatte sie sich alle einen nach dem anderen angesteckt und dann bequem die Hand zur Faust geballt.

Die Kupferringe, die halb so breit wie die Länge eines Fingers von Knöchel zu Knöchel waren, trugen sich überraschend angenehm. Sie wiesen keine besondere Verzierung auf und hatten auch keine außergewöhnliche Form. Es waren einfach fünf schlichte Ringe, bestehend aus geflochtenen Kupferstreifen, die alle ein bisschen anders als der vorherige gewoben waren.

Er sah zu Victoria hinüber, deren kurzes Haar sich um ihr blasses Gesicht lockte. Sie konnte das innere Leuchten, das ihre Wangen strahlen ließ, nicht sehen, aber ihm versetzte es wieder einen jetzt nur noch halbherzigen Stich der Eifersucht. Wenn er sich nicht irrte, ging sie mit Pesaros Kind schwanger, dem Kind, das die Gardella-Ahnenreihe fortsetzen würde.

Sebastian fragte sich, ob Pesaro es wohl wusste.

Doch er hatte den Verdacht, dass er sie dann nicht nur zurückgelassen, sondern zu ihrer eigenen Sicherheit wahrscheinlich noch irgendwo eingesperrt hätte.

Nicht, dass Sebastian das nicht auch getan hätte, wäre er mit dieser beneidenswerten Situation konfrontiert worden.

Nicht, dass es jemals irgendetwas gebracht hätte, zu versuchen, Victoria aus dem Verkehr zu ziehen.

Gott sei Dank hatte sie selbst beschlossen, sich nicht in Gefahr zu bringen, indem sie Max folgte; denn der Verlust würde unter Umständen größer sein, als sie ahnten.

Ihr Blick wanderte kurz zu dem Berg, der sich hinter ihnen erhob, und er konnte sich vorstellen, wie stark der Kampf war, der in ihr tobte.

Doch sie hatte ihre Pläne, Max zu folgen, fallen gelassen. Das Portal musste zuerst geschlossen werden, und so schwer ihr das auch fallen musste - welche Anstrengung diese Entscheidung sie gekostet hatte, zeigte sich in ihren angespannten Gesichtszügen —, er konnte sehen, dass ihre Entscheidung feststand. Sie hatte Pesaros Opfer akzeptiert. Und vielleicht hatte sie erkannt, dass sie als Illa Gardella Aufgaben bewältigen konnte, denen die Männer allein nicht gewachsen waren.

»Da ist der Teich«, sagte Mercy und unterbrach damit seine Gedanken. Sie deutete mit ihrer kräftigen Hand auf eine kleine Ausbuchtung im Fels.

Die Sonne war mittlerweile untergegangen, und deshalb hatten die Untoten ihre Umhänge abgelegt und konnten ungehindert umhergehen. Die beiden Imperialvampire trugen Schwerter bei sich, hatten sie aber nicht gezogen.

Für Sebastian war solch ungezwungenes Zusammensein mit Vampiren nichts Besonderes. Er hatte sich daran gewöhnt, als er im Laufe der Jahre immer wieder mal bei seinem Großvater gewesen war. Natürlich war dies hier eine andere Situation, doch er hatte gehört, wie Lilith den Untoten ihre Befehle gegeben hatte. Sie hatte dabei mit ihren Gefolgsleuten in jener archaischen Sprache gesprochen und war sich anscheinend nicht im Klaren darüber, dass Sebastians Großvater sie ihn schon vor langer Zeit gelehrt hatte.

Ihre Anweisungen waren klar gewesen: Sie sollten den Sterblichen nichts tun, bis das Portal geschlossen war. Dann sollten sie die Ringe an sich bringen, Victoria gefangen nehmen und die anderen töten.

Natürlich hatte Sebastian diese Informationen an seine Gefährten weitergegeben, die mit ihm übereinstimmten, dass die Vampire es nicht bis zum Midiversum-Portal schaffen würden. Sie brauchten sie nur als Führer bis zum Teich, und da waren sie jetzt ja.

Er ging zu der bezeichneten Stelle. Die Sonne war untergegangen und verbreitete noch ein wenig Licht, das jedoch schnell schwinden würde. Der Mond hatte, seit sie vor mehr als einer Woche Prag verlassen hatten, abgenommen und war jetzt nur noch eine Sichel.

Er würde nicht mehr lange gut sehen können.

Victoria und Michalas traten mit Fackeln zu ihm, um ihm den Weg zu leuchten, während Brim hinter den drei Vampiren als Wache zurückblieb, falls sich etwas Unerwartetes ereignen sollte.

Sebastian hatte darauf bestanden, derjenige zu sein, der die Ringe trug und seine Hand in den Teich tauchte; denn wenn seine Information über die Schutzwirkung der Ringe nicht stimmte, war es nur gerecht, wenn er die Konsequenzen zu tragen hatte. Und davon abgesehen musste er es einfach tun. Das Verlangen danach war fast so groß wie die Neugier, die ihn dazu getrieben hatte, sich die Gardella-Bibel anzuschauen, und er sah keinen Grund, warum er dagegen ankämpfen sollte.

Noch immer war er auf der Suche nach dem Weg, den das Schicksal für ihn vorgesehen hatte.

Die Vampire waren damit einverstanden, doch Victoria hatte mit ihm gestritten und verlangt, die Ringe selber anzustecken. Aber Sebastian war fest geblieben.

Das Licht der Fackeln fiel auf die glasähnliche Oberfläche des Wassers. Trotz der leichten Brise, die den ganzen Tag über dafür gesorgt hatte, dass es nicht unerträglich heiß wurde, und obwohl sie sich in den Ausläufern eines großen Berges befanden, war kein Kräuseln auf dem Wasser zu sehen. Stattdessen warf die Oberfläche den Schein der großen Fackeln und das letzte Licht am Himmel zurück, als Sebastian sich daneben hinkniete.

Victoria und Michalas standen zwischen ihm und den Vampiren für den Fall, dass sie ihn vom Teich wegreißen mussten. Obwohl das wahrscheinlich überflüssig war, denn der Teich war kaum größer als eine Kutsche und wohl auch nicht sonderlich tief.

Er war fast völlig kreisrund, bis auf eine kleine Einbuchtung an der westlichen Seite, und von flachen weißen Steinen eingefasst, die übereinanderlagen und wahrscheinlich auch unter Wasser die Eingrenzung bildeten.

»Die Kugel ist bestimmt nicht größer als Ihre Handfläche«, meinte Mercy, die sich Sebastian gegenüber auf die andere Seite des Teiches stellte. »Sie müssen danach tasten.«

»Das Wasser ist nicht tief«, erwiderte Sebastian.

Doch es war im höchsten Maße gefährlich, wie sie schnell herausfanden, als er einen Stock durch die vollkommen glatte Oberfläche stieß. Er spürte, wie der Stock leicht vibrierte, und als er ihn einen Moment später herauszog, stellte er fest, dass vom eingetauchten Teil nichts mehr übrig war. Das Ende des Stocks rauchte, als hätte es gebrannt.

Sebastian holte tief Luft und rückte ein bisschen dichter an den Rand. Als er hineinsah, spiegelte sich sein Gesicht so deutlich im Teich wider, als würde er in einen echten Spiegel schauen. Die Köpfe von Victoria und Michalas ragten seitlich hinter seinen Schultern auf, und die Flammen ihrer Fackeln flackerten fast in der Mitte des Bildes.

Tief Luft holend streckte er den kleinen Finger seiner ringlosen linken Hand aus, der ihm am zweiten Knöchel von der blutdurstigen Sara Regalado abgeschnitten worden war. Viel schlimmer konnte es nicht kommen, da er ja bereits verstümmelt war. Er berührte mit der stumpfen Spitze nur die Oberfläche des Wassers und spürte einen so sengenden Schmerz, dass er fast geschrien hätte.

Er riss seine Hand zurück und stellte fest, dass die Spitze seines Fingers schwarz geworden war. Das Fleisch war an der Stelle, die das Wasser berührt hatte, weggebrannt worden, sodass in der Mitte der verkohlten Haut der Knochen weiß durchschimmerte.

Allmächtiger.

Er sah zu Victoria auf, deren Gesicht einen grimmigen Ausdruck angenommen hatte. »Lass es mich machen«, sagte sie und streckte die Hand nach den Ringen aus.

»Nein«, erwiderte er. »Das ist nicht deine Aufgabe. Die Ringe werden mich schützen.« Das hoffte er zumindest.

Er streckte die Finger seiner rechten Hand, die alle unversehrt und mit einem Kupferband beringt waren, und sprach ein kurzes Gebet. Dann tauchte er die Hand ins Wasser.

Die Oberfläche kräuselte sich kaum, als seine Finger sie mühelos durchstießen.

Doch der Rand der Wasseroberfläche fühlte sich wie eine Messerschneide an, die an seiner Haut entlanggezogen wurde. Er zog die Hand wieder heraus und rechnete eigentlich damit, Blut zu sehen.

Aber da war nichts. Nicht einmal ein Kratzer.

Und seltsamerweise plätscherte auch kein Wasser, als er sie herauszog. Stattdessen perlte es in schweren runden Tropfen wie Quecksilber ab, glitt in den Teich zurück und hinterließ keine Spuren.

Er sah in den Teich und tauchte seine Hand wieder hinein. Doch dieses Mal beachtete er den Schmerz nicht und begann flink nach der Kugel zu suchen, ohne sich sicher zu sein, was für andere Überraschungen ihn noch erwarten mochten.

Unter der Oberfläche fühlte sich der Teich wie jedes andere Gewässer an: nass und die Bewegungen verlangsamend. Sebastian tastete mit den Fingern umher auf der Suche nach etwas, das sich rund anfühlte. Er kam bis zum sandigen Boden, der glatt war und keinen Algenschleim aufwies; auch lagen keine größeren Steine herum.

Er rückte noch dichter ans Wasser und spürte, wie sich Victorias Hände um seine Schultern legten und ihn festhielten, damit er nicht kopfüber ins Wasser stürzte. Dadurch konnte er sich zum Suchen noch weiter nach vorn beugen und sah sein Gesicht im Wasser. Seitlich hinter ihm war Victorias Kopf mit den dunklen, zerzausten Locken und der besorgten Miene.

Sein Blick war auf das Spiegelbild ihrer beiden Köpfe geheftet, während er mit der Hand den glatten Boden des Teichs abtastete. Er spürte etwas Spitzes mit scharfen Kanten und hielt inne, um es genauer zu untersuchen. Dabei wünschte er, er hätte noch einmal fünf Ringe, um den Gegenstand mit beiden Händen abtasten zu können.

Der Gegenstand war pyramidenförmig, schwer, größer als seine Hand und eindeutig keine Kugel. Aber er fragte sich, was es wohl sein könnte.

Widerwillig ließ er ihn an Ort und Stelle, denn die Vampire ließen ihn nicht aus den Augen. Er schob seine Hand weiter nach rechts und suchte immer weiter, wobei er die ganze Zeit über Victorias Spiegelbild im Wasser ansah.

Nachdem er den größten Teil des Teichs durchsucht hatte, erforschte er jetzt die seitliche Ausbuchtung. Das Wasser war an dieser Stelle tiefer, und es reichte ihm bis über den Ellbogen, als er den Boden berührte.

Da ertasteten seine Finger etwas Hartes mit einer rauen Oberfläche, das sich ganz anders anfühlte als der sandige Untergrund oder eine Glaskugel.

Der raue Gegenstand öffnete sich, rückte zur Seite oder veränderte sich, als er darauf drückte, sodass sein Arm noch tiefer ins Wasser tauchte. Sebastian spürte, wie ihn auf einen Schlag so etwas wie Klarheit durchströmte, als sich Sand oder Schlamm eng um Hand und Handgelenk schlossen.

Einen Augenblick lang konnte er sich nicht bewegen, konnte seine Hand nicht herausziehen. Ihm stockte der Atem, und sein Blick wurde verschwommen.

Er hörte ein leises Rauschen, in seinem Kopf, ganz weit hinten. Sebastian zwinkerte mit den Augen und schüttelte den Kopf, um sich wieder auf den spiegelähnlichen Teich zu konzentrieren, in den seine Hand immer noch eingetaucht war. Er sah sein Gesicht auf der Wasseroberfläche und das Gesicht von Giulia hinter sich. Das lange, dunkle Haar fiel ihr über die Schulter und auf seine.

Sie bewegte die Lippen. Sie sagte etwas, ganz eindringlich, ihre dunklen Augen waren weit aufgerissen. Rette mich.

Er schrie auf, griff automatisch hinter sich, wobei er seine Hand aus dem Wasser riss und herumwirbelte, um sie zu berühren. Dabei schleuderte er kugelförmige Tropfen in alle Richtungen. Sie hüpften gleich wieder in den Teich, als er merkte, dass keiner hinter ihm stand.

Keiner außer Victoria, die ihn bei seinem überraschten Aufschrei vom Teich wegriss, sodass er nach hinten auf den Po plumpste. Er konnte wieder richtig sehen, seiner Hand war nichts passiert, und die erhöhte Aufmerksamkeit ließ wieder nach. Schwer atmend schüttelte Sebastian den Kopf und sah wieder, wo er war.

Wurde er allmählich verrückt, oder hatte der Teich einen seiner Träume ausgelöst?

Sie hatte noch nie zuvor in dieser Form mit ihm gesprochen. Flehend. Bittend. Rette mich.

Aber wie. Verdammt noch mal wie?

»Sebastian.« Er schaute auf und sah, dass Victoria sich über ihn gebeugt hatte. Ihr Gesicht war dicht vor ihm und eindeutig nicht das von Giulia, außer dass beide dunkle Haare und Augen hatten. Vielleicht war es gar nicht so weit hergeholt, dass ihm seine Fantasie einen Streich gespielt hatte. »Bist du verletzt?«

»Nein«, erwiderte er kurz angebunden. »Ich war nur überrascht.«

»Was ist passiert? Vielleicht sollte ich...«

»Nein, verdammt. Geh mir aus dem Weg und lass es mich noch einmal versuchen. Es gibt nicht mehr viele Stellen, wo ich noch nicht gewesen bin. Wenn die Kugel also da ist, werde ich sie auch finden.« Seiner Hand war nichts passiert, und obwohl es ein komisches Gefühl gewesen war, ging es ihm gut. Keinen Moment lang hatte er das Gefühl gehabt, dass der Teich ihn hineinziehen wollte. Es haftete ihm nichts Bedrohliches an.

Nichts Bedrohliches, aber vielleicht etwas... Erleuchtendes.

Sebastian beachtete den durchdringenden Blick nicht, mit dem Victoria ihn bedachte, und ging auf die andere Seite des Teichs, wo er sich wieder hinkniete. Die Sonne war mittlerweile ganz untergegangen, und die einzigen Lichtquellen waren der farblose Halbmond und der orange Schein der Fackeln.

Durch die Lichtverhältnisse und weil er den Berg jetzt im Rücken hatte, waren die Spiegelbilder dunkler und nicht mehr so deutlich. Auch gut. Eine Giulia, die um Hilfe flehte, wollte er jetzt ohnehin nicht sehen.

Er holte tief Luft, schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen, und tauchte die Hand erneut ins Wasser. Dieses Mal störte ihn die scharfe Kante der Oberfläche kaum noch. Flink erforschten seine Finger diesen Bereich des Teichs, glitten über den weichen Sand, bis sie schließlich etwas Hartes und Glattes streiften. Etwas Rundes.

Die Kugel.

Er legte seine Hand darauf. Der Gegenstand passte genau in seine Hand und fühlte sich warm und... angenehm an. Leicht kribbelnd, tröstlich und fest.

Er setzte sich zurück und zog dabei seine Hand aus dem Wasser. Und da war sie, die schimmernde, blaue Kugel.

Ihr Schimmern beleuchtete Victorias Gesicht, als sie dichter herankam. Ihre Wangen und Lippen, die Lockenspitzen wurden in ein silbrig-blaues Licht getaucht. Während er sie hielt, spürte er wieder, wie er von tröstlicher Wärme — von Frieden durchströmt wurde. Das war das einzige Wort, das ihm einfiel, um das Wohlbehagen zu beschreiben, das durch seinen Körper rieselte.

»Nimm jetzt die Ringe ab«, sagte Mercy mit ihrer schnarrenden Stimme. »Ich nehme sie.« Ihre Augen glühten gierig rotviolett und die Fangzähne hatten sich in ihre Unterlippe gebohrt. »Da ist noch etwas anderes auf dem Grund, das ich auch herausholen möchte.«

Sebastian dachte an den pyramidenförmigen Gegenstand, den er vorhin berührt hatte. »Was denn?«

»Nimm die Ringe ab«, wiederholte Mercy, doch dann verstummte sie.

Victoria hatte sich bewegt. In der einen Hand hielt sie jetzt einen Pflock und in der anderen ein Schwert. »Du scheinst deine Manieren vergessen zu haben, Vampir«, sagte sie. Ihre Augen glitzerten, und Sebastian konnte sehen, dass sie förmlich auf einen Kampf brannte.

»Für Sterbliche ist es nicht von Nutzen«, erklärte Mercy. »Nur Untote können etwas damit anfangen.«

»Ich sehe keinen Grund, warum ich darauf Rücksicht nehmen sollte«, erwiderte Victoria. »Jetzt aus dem Weg. Wir reiten zum Portal weiter. Oder... Brim?«

Sebastian sah, dass Brim sich trotz seiner massigen Gestalt leise und flink den Wächtervampir gegriffen hatte. Er hielt ihn von hinten fest und hatte ihm den Pflock direkt über seinem untoten Herzen auf die Brust gesetzt.

Mercy warf einen schnellen Blick auf Brim, dann zuckte sie mit den Achseln. »Du wirst Liliths Zorn auf dich ziehen, wenn wir drei nicht zurückkehren.«

»Ach du meine Güte. Liliths Zorn? Ich glaube, den habe ich bisher noch gar nicht kennen gelernt.« Victoria gab Brim mit einem Kopfnicken ihre Erlaubnis, und dieser stieß den Pflock in die Brust des Untoten. Der Wächtervampir hatte keine Chance gehabt. »Wollt ihr uns jetzt zum Portal führen oder als Nächstes drankommen?«

Als sich die Asche des Untoten gelegt hatte, sah Sebastian, dass Mercy einen Schritt zurückwich. Der Vampir presste die Lippen aufeinander, ihre Augen loderten vor Wut.

Aber Sebastian sah, dass Victoria nicht bereit war, die Beleidigung zu vergeben; sie riss ihren Pflock heraus. Michalas reagierte sofort, als sie das tat, und stieß den anderen Imperialen in den Teich. Dieser schrie, als er stürzte, und konnte sich noch an der Kante abfangen. Doch da setzte Brim dem Untoten den Fuß auf den Rücken und schob ihn hinein, wobei er schnell seinen Fuß zurückzog, ehe der Stiefel wegbrennen konnte.

Mercy kreischte: »Lilith wird ihn umbringen!«

Doch Victoria stürzte sich bereits auf sie, wobei sie über den Teich hinwegsprang. Sebastian beobachtete das Ganze aufmerksam und ein wenig besorgt, aber er meinte zu verstehen, warum Victoria diesen Kampf hier und jetzt wollte. Irgendwie musste sie ihre Anspannung und Sorge loswerden.

Der Kampf war kurz; ob das daran lag, dass er so überraschend gekommen war, oder weil er so heftig geführt wurde, spielte keine Rolle. Victoria steckte ein paar Schläge ein, teilte ein paar aus und hatte dann die Möglichkeit, den Pflock durch Mercys Herz zu stoßen, die sie auch sofort nutzte.

»Keine Gnade mehr«, sagte sie grimmig, während sie sich die Asche von den Händen wischte.

Sebastian reichte Victoria die Kugel, und sie wickelte sie vorsichtig in ein Tuch, um sie dann in einer Innentasche ihrer Hose zu verstauen.

»Was war sonst noch im Teich?«, fragte sie leise, als sie schon neben den Pferden standen und aufsitzen wollten.

»Es fühlte sich irgendwie wie eine kleine Pyramide an. Das war das Einzige, was ich sonst noch gefunden habe«, antwortete er. »Ich weiß nicht, was es ist. Ich könnte es herausholen, aber wenn man nicht weiß, was es ist, oder wenn es irgendwelche Kräfte besitzt, ist es wohl besser, das nicht zu tun. Vielleicht weiß Wayren ja irgendetwas darüber, und dann können wir es uns später immer noch holen.«

»Dann sollte jetzt jeder von uns einen Ring nehmen«, sagte Victoria ruhig. »Denn wir wollen auf keinen Fall, dass jemand wieder alle fünf in die Finger bekommt und dann den Zauberbann des Teiches brechen kann.«

Sebastian stimmte ihr von ganzem Herzen zu und legte die Finger um den Ring am Daumen. Aber er rührte sich nicht. Kein bisschen.

»Was zum Teufel ist das denn?«, murmelte er. Er versuchte, einen anderen Ring abzuziehen, jenen, der ihm am lockersten erschien. Aber auch der bewegte sich nicht, er ließ sich noch nicht einmal am Finger drehen.

Die Ringe waren fest mit seiner Haut verbunden.

Max lehnte an der Wand, deren seidene Wandbehänge den rauen Fels darunter bedeckten. Er drückte die Stirn gegen den Stoff und spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken rann.

Oder vielleicht war es auch Blut.

Er hatte den Uberblick verloren und sich lieber in einen Strudel der Erinnerungen hineinziehen lassen, als die Wirklichkeit zu akzeptieren.

»Jetzt komm, Maximilian«, erklang die verhasste Stimme. »Gesell dich zu mir. Du musst hungrig sein.«