Kapitel 8

In dem ein rosafarbenes Nichts der Fantasie kaum noch etwas zu tun übrig lässt

 

Es ist schlimmer, als wir gedacht haben, nicht wahr?«, meinte Victoria, sobald sie Wayrens Gesichtsausdruck sah. Kaum hatte sie ihr Stadthaus betreten, war sie zu ihr gerufen worden.

Es war bereits später Nachmittag des folgenden Tages, an dem sie Wayren auf dem Friedhof gerettet hatten.

So viele Dinge waren passiert, seit Victoria das Haus in ihrem roten Kleid verlassen hatte, um zu einer abendlichen Tanzveranstaltung zu gehen... und all das lag weniger als vierundzwanzig Stunden zurück.

Die Altere der beiden nickte und lud Victoria ein, sich zu ihr zu setzen. »Dass die Dämonen nicht nur die Macht, sondern auch die Frechheit besaßen, mich anzugreifen... Der Gedanke lässt mir seit gestern keine Ruhe.«

Victoria setzte sich hin und musterte dabei Wayrens angespannte Miene. Ihre Aura der Gelassenheit hatte an Kraft verloren, doch in ihren Augen funkelte Entschlossenheit. Mit welcher teuflischen Bedrohung sie es auch zu tun haben mochten, sie war stark und nicht leicht zu durchschauen.

Nicht zum ersten Mal nahm Victoria den Verlust ihrer Tante Eustacia besonders heftig wahr, und gleichzeitig durchströmte sie Zuneigung für die weise, Gelassenheit ausstrahlende Frau. Und Erleichterung, dass es sie gab. Wayren schien das zu erkennen; sie streckte, wie sie es häufig tat, die Hand nach Victoria aus und schloss ihre Finger um ihr Handgelenk. Wie immer breitete sich dabei eine innere Ruhe in ihr aus, die dafür sorgte, dass ihre Nerven sich entspannten. Wir werden das zusammen durchstehen.

»Was hast du in Erfahrung bringen können?«, fragte sie und entzog ihre Hand Wayrens Griff, weil sie die Frau nicht noch mehr ermüden wollte.

»Wie du schon bemerkt hast, ist die dämonische Aktivität, die du auf dem Friedhof erlebt hast, ungewöhnlich und geht mit einer Boshaftigkeit einher, wie sie auf dieser Erde selten anzutreffen ist. Diese Dämonen sind tatsächlich gefallene Engel, Victoria. Nicht einfach nur Geschöpfe, die vom Geist des Bösen durchdrungen sind wie Akvan und andere Dämonen, denen du bereits gegenübergestanden hast. Die gefallenen Engel verfügen über viel Macht und sind nicht so einfach gestrickt wie jene vom Schlage Akvans.«

Wayren beugte sich nach vorn und griff nach ihrem sie stets begleitenden Beutel. »Ich glaube«, erklärte sie und holte eine knisternde Pergamentrolle aus den Tiefen der Tasche hervor, »dass diese Dämonen durch das Midiversum-Portal kommen.« Sie setzte eine Brille mit viereckigen Gläsern auf und rollte das braune Pergament auf.

»Das Midiversum-Portal?«, wiederholte Victoria. »Ein Portal... so etwas wie ein Zugang?« Sie runzelte die Stirn, und ihr Unbehagen verstärkte sich. Das war so anders als alles, was sie bisher erlebt hatte. Sie fühlte sich fast so wie damals, als sie gerade damit angefangen hatte, Jagd auf Vampire zu machen: nervös, durcheinander... und doch entschlossen. »Von wo?«

Wayren nickte. »Ja, genau. Ein Zugang.« Sie rückte sich in ihrem Sessel zurecht, und ihre schmalen Hände unterstrichen ihre Worte, während sie fortfuhr. »Ein Zugang von der Hölle, Victoria. Diese Dämonen waren einst Engel und bewegten sich ungehindert auf Erden und im Himmel. Als sie bei Gott in Ungnade fielen und beschlossen, sich Luzifer anzuschließen, wurden sie aus dem Himmel und von der Erde verbannt und zu ihrem neuen Herrn in die Hölle geschickt. Sie können sich nicht mehr ungehindert auf dieser Erde bewegen. Nur über ganz bestimmte Wege — oder durch Portale — können sie auf die Erde gelangen. Die Zugänge waren jahrtausendelang versiegelt, doch es scheint, als wären sie wieder geöffnet worden. Oder zumindest das Siegel gebrochen.«

»Gefallene Engel«, wiederholte Victoria. »Warum sollten sie dir etwas antun wollen?« Doch schon während sie sprach, lief ihr ein Schauer über den Rücken.

»Weil sie mich kennen. Weil sie wissen, dass ich hier bin, um dir zu helfen. Und weil ich sie vor unzähligen Äonen kannte.« Sie nickte, als Victoria sie fragend anschaute. »Weil sie fielen... und ich nicht.«

Weil sie nicht gefallen war... ?

Ein heftiges Kribbeln erfasste Victoria, als sie Wayren anschaute und sich des Schrecks und der plötzlichen Erkenntnis bewusst wurde, die auf ihrem Gesicht zu sehen sein mussten. Diese schlichte Aussage sagte so viel über die Frau, die völlig alterslos schien. Die überall sein konnte, wo sie gebraucht wurde und wo sie sein wollte. Die so vieles über alles wusste.

Und es erklärte, warum sie in der Lage war, so verdammt viele Bücher in einem Beutel unterzubringen, der für die gewaltige Menge viel zu klein schien.

Absurderweise fragte Victoria sich als Erstes, warum ein Engel eigentlich eine Lesebrille brauchte.

Wayren lächelte sie nur an, als wüsste sie, was sie dachte, und erklärte: »Auch wir sind nicht vollkommen.«

In dem Moment öffnete sich die Tür zum Salon, und Max kam herein. Unwillkürlich bemerkte sie die Erschöpfung, die aus seinen Bewegungen sprach, und Anspannung, die auf seinem Gesicht lag. Ohne eine vis bulla Vampire zu jagen forderte einen hohen Tribut.

Sie fragte sich, ob er wohl wusste, dass Wayren ein Engel war; dann wurde ihr klar, dass er es natürlich wusste. Es schien so, als hätte Max von allem Kenntnis.

Wahrscheinlich nahm er an, dass sie es auch wusste.

Max warf ihr einen kurzen Blick zu, sagte aber nichts. Stattdessen setzte er sich gleich neben den Schrank, in dem die Gardella-Bibel lag. »Wayren«, sagte er zur Begrüßung.

Sie lächelte ihn an, aber an der Art, wie er die Lippen auf-einanderpresste, erkannte Victoria, dass auch er bemerkte, dass ihre äußere Gelassenheit Risse bekommen hatte. »Ich habe Victoria gerade gesagt, dass die Dämonen, mit denen wir es hier und auch in Paris zu tun haben, durch das Midiversum-Portal in unsere Welt gelangen. Es befindet sich in den Bergen Rumäniens«, sagte sie, während sie mit einem Finger über den festen Bogen fuhr. »Und...« Dann wurde ihre Stimme leiser und verklang schließlich ganz, als sie sich in das vertiefte, was sie gerade las.

»Und sie haben es auf Wayren abgesehen«, führte Victoria den Satz für sie zu Ende. »Vielleicht auch auf andere, aber auf jeden Fall auf Wayren.«

»Bist du heute wieder beim Friedhof gewesen?«, fragte er sie scharf.

Victoria schüttelte den Kopf. »Ich wollte, aber...«

»Ich war dort. Da ist nichts mehr.«

»Du warst allein dort?«

Sein Mund wurde zu einem schmalen Strich. »Am helllichten Tag, Victoria. Nicht einmal ich bin am helllichten Tag in Gefahr.«

Alle schwiegen, und die Spannungen, die zwischen ihnen herrschten, waren deutlich zu spüren. Die letzten Worte, die er bei ihr im Schlafzimmer an sie gerichtet hatte, waren voller Wut und Verzweiflung gewesen, unterstrichen vom Zuknallen der Tür. Er hatte sich wie erwartet verhalten, und im Grunde hatte sie es vorausgesehen; aber es war unvernünftig, ihre Pläne vor ihm zu verheimlichen.

Wenn er wusste, dass sie sich auf die Jagd nach Lilith machte, würde ihn das entweder dazu bringen mitzukommen, oder er würde dafür sorgen wollen, dass sie in London blieb... und sie sonst wie beschäftigen. Doch egal, wie er sich entschied, sie würden zusammen sein, und sie hätte die Möglichkeit, die abwehrende Haltung, die er gegen sie eingenommen hatte, zu durchbrechen.

Aber tief in ihrem Herzen wusste sie, dass Max nie ganz frei sein würde, solange es Lilith gab.

Natürlich musste sie alle Pläne aufschieben, die Vampirkönigin ausfindig zu machen, bis die Dämonen unter Kontrolle gebracht waren. Wayrens Sicherheit war von höchster Bedeutung.

»Ja«, sagte Wayren und unterbrach das spannungsgeladene Schweigen, als sie von ihrem Text aufschaute, »es ist so, wie ich befürchtet habe. Es muss so sein. Das Portal wurde entweder aufgebrochen oder irgendwie geöffnet; denn diese Art von Dämonen konnten den Schutzwall, der dafür sorgte, dass sie in der Hölle bleiben, nur durch diesen Zugang überwinden.«

»Wie können wir ihn wieder verschließen?«, fragte Victoria.

»Ich glaube... es gibt einen Kristall... eine Kugel...« Wieder wurde Wayrens Stimme immer leiser, während sie die Augen schloss und kleine Fältchen zwischen ihren zarten Brauen erschienen. Dann griff sie blindlings in ihren abgenutzten Beutel und wühlte darin herum, wobei sich ihre Lippen bewegten, ohne dass ein Ton aus ihrem Munde kam. Nach einer Weile hörte sie auf zu kramen und zog ein kleines Buch hervor, das kaum größer als Max' Handfläche war.

»Es muss hier drin sein«, murmelte sie und blätterte durch die spröden Seiten. Victoria sah Schriftzeichen einer Sprache, die sie nicht kannte, sowie Zeichnungen, Flecken und Tintenkleckse auf den vergilbten Seiten. »Ja, es ist so, wie ich mir gedacht habe.« Sie nahm ihre Brille ab und klappte sie auf dem geöffneten Buch zusammen. »Es gibt einen Kristall, Tacheds Kugel, mit dessen Hilfe das Portal versiegelt werden kann.«

»Weißt du, wo er sich befindet?«, fragte Max.

»Die Kugel liegt in einem Teich am Fuße des Muntii Fagaras — in der Nähe von Liliths Versteck.« Sie warf Max einen kurzen Blick zu, und Victoria erinnerte sich erschrocken daran, dass er freiwillig - und vielleicht auch unfreiwillig — dorthin gegangen war.

»Allerdings liegt über dem Teich ein Zauberbann«, erklärte Wayren weiter. »Man kann also nicht einfach hineingreifen und die Kugel herausholen.«

»Aber wenn wir die Kugel haben, können wir damit das Portal verschließen? Und wie?«

»Gibt es denn keine andere Möglichkeit, den Zugang zu versiegeln?«

Max und Victoria sprachen gleichzeitig, verstummten dann und schauten Wayren an.

»Ich kenne keine andere Möglichkeit, das Portal zu verschließen«, erwiderte sie, »aber ich werde weitersuchen. Zeit ist kostbar; denn je länger das Portal offen steht, desto mehr Dämonen kommen in diese Welt, und desto schwächer werden wir.«

»Und desto größer die Gefahr, in der du schwebst«, ergänzte Victoria.

»Also finden wir am besten heraus, wie man die Kugel aus dem Teich bei Fagaras herausholt«, meinte Max.

Victoria stand auf. »Ich war heute bei George Starcasset, und laut seiner Aussage sind alle Vampire aus England geflüchtet — sogar diejenigen, die Lilith nicht lieben und zurückgeblieben sind, als sie ging. Sie haben vor irgendetwas Angst, und ich frage mich, ob das etwas mit dem Zustrom von Dämonen zu tun hat.«

»Vielleicht solltest du ihn das fragen«, meinte Max ruhig. »George ist bestimmt ein wahrer Quell an Informationen und könnte uns vielleicht etwas erzählen, das nicht einmal Wayren weiß.«

Victoria sah ihn an, aber die Wut, die schon in ihr hatte aufsteigen wollen, schwand wieder. Max mochte vielleicht arrogant und sarkastisch sein, aber normalerweise war er nicht bockig. »Vielleicht sollte ich das«, meinte sie deshalb nur, ehe sie wie eine Königin das Zimmer verließ.

»Der Teich bei Muntii Fagaras?«, wiederholte Sebastian. Er sah Victoria an, und seine schönen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Es wäre wohl zu viel der Hoffnung gewesen, dass du nicht nur zu mir kommst, um Informationen zu erhalten.«

Beinahe wäre sie bei seinen Worten einen Schritt zurückgewichen, unterdrückte den Impuls aber gleich. »Es ist nicht das erste Mal, dass ich dich nur aufsuche, um Informationen zu bekommen.« In der Tat hatte sie Wayren und Max im Stadthaus zurückgelassen, um auf direktem Wege zu Sebastian zu gehen.

»Zu meiner großen Bestürzung«, stimmte er ihr zu. »Komm herein.« Mit einer Handbewegung bat er sie in den kleinen, schlicht eingerichteten Raum, den er bewohnte, während er sich in London aufhielt.

Er sah müde aus, fast genauso müde wie Max. Obwohl sein Hemd gebügelt und das Haar gekämmt war, wirkte Sebastian irgendwie zerzaust. Er trug kein Halstuch und auch kein Jackett, und seine Stiefel, die zwar sauber waren, glänzten nicht so perfekt, wie sie es normalerweise taten.

»Ja, ich weiß von dem Teich. Und es ist kein Geheimnis, zumindest nicht unter den Untoten, wie man den Bann bricht. Beauregard erzählte mir einst, dass Lilith ihn geschaffen habe«, sagte Sebastian, während er ihr mit einer ungeduldigen Handbewegung bedeutete, sich zu setzen. »Und er liegt verborgen, nicht weit entfernt von den Bergen, in denen sie sich versteckt.«

Es gab nur zwei Sitzgelegenheiten - einen Stuhl und das Bett. Als Victoria sich für den Stuhl entschied, erschien wieder ein schiefes Lächeln auf Sebastians Lippen. »Natürlich«, meinte er. »Narr, der ich bin.«

»Erzählst du mir etwas über diesen Teich?«, fragte sie nach einer Weile.

Es stand außer Frage, Sebastian bedeutete ihr viel. Er hatte viel für sie getan, hatte ihr Lust und Ablenkung im Verlaufe der letzten schwierigen Jahre geboten. Es war seine ganz eigene Fähigkeit, sie zu necken, zu verspotten und sie in Wut zu versetzen ... immer schien er zu wissen, was sie gerade brauchte, damit sie wieder einen klaren Kopf bekam. Die Nervosität, die Anspannung oder die Angst zu lindern, mit der sie gerade zu kämpfen hatte.

Warum konnte sie ihn nicht lieben?

»Das mache ich«, sagte er. Seine Stimme war ganz nah, und als sie aufschaute, stellte sie fest, dass er vor ihrem Stuhl stand. Sie hatte ihre Frage vergessen, und einen Moment lang spielte das keine Rolle.

Etwas machte in dem darauffolgenden Schweigen Klick, und zwar so real, dass es fast hörbar war. Sebastian griff nach ihren Armen und zog sie hoch, sodass sie errötend vor ihm stand. Sie hinderte ihn nicht daran.

»Du hast doch nicht wirklich geglaubt«, meinte er, während er ihre Hände festhielt, »dass du einfach zu mir kommen kannst, ohne dass das Folgen hat.«

Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Zwischen ihnen breitete sich Wärme aus, und Victoria entzog ihm eine ihrer Hände. Nur eine. Die andere... er legte seine Finger fester um sie, sodass sie spürte, wie sich sein Daumen in ihre Haut bohrte. Sie würde wahrscheinlich einen blauen Fleck bekommen.

»Ich habe dir bereits gesagt«, erklärte er, während er sich über ihre Wange beugte, »dass ich nicht die Absicht habe, mich in dieser Sache wie ein Gentleman zu verhalten.« Jetzt schwang ein Anflug von Zorn in seiner Stimme mit.

»Ich bin hergekommen, weil ich Informationen brauche«, sagte sie. Sogar in ihren eigenen Ohren klang sie atemlos.

»Du bist nicht nur deshalb hergekommen, Victoria.« Er stand immer noch so dicht vor ihr, dass sein warmer Atem ihre Schläfe streifte und sein Bein sich gegen ihr Kleid drückte.

Stimmte das?

Nein.

Nein.

»Du klammerst dich an einen Mann, der nicht das sein kann, was du willst. Und brauchst«, sagte er, und seine Lippen glitten hauchzart über ihre Wange. Sie wandte ihr Gesicht ab, schluckte mühsam... doch sie wich nicht zurück.

War es Neugier, die sie hergetrieben hatte? Oder Trotz? Verwirrung?

»Sebastian«, sagte sie, als er sein Gesicht gerade drehte.

»Victoria«, murmelte er. Dann küsste er sie. Grob.

Trotzdem sanken ihre Lider nach unten, und sie öffnete den Mund. Ihre Zungen trafen heiß und sicher aufeinander, was sie daran erinnerte, was für ein erfahrener Liebhaber Sebastian war. Ein sehr erfahrener Liebhaber — und ein sehr williger.

Dann veränderte sich sein Kuss, wurde zärtlicher, aufreizender, drängender. Sie spürte die Veränderung auch an der Art, wie er sie berührte. Als wüsste er, was es bedeutete... bedeuten konnte. Seine Lippen glitten zu der empfindsamen Stelle an ihrem Hals. Unter zärtlichen Küssen und Bissen folgte er dem schlanken Wuchs bis zur Schulter. Die Beine drohten unter ihr nachzugeben.

Er hatte jetzt ihre Schultern gepackt, fest, aber nicht schmerzhaft, und plötzlich spürte sie die Bettkante, die sich von hinten gegen ihre Beine drückte. Und als wollte er jedem ihrer Einwände zuvorkommen, legte er seine Lippen wieder auf ihren Mund und zog sie fest an sich, sodass ihre Beine zwischen seinen und der Matratze gefangen waren. Wenn er sie nur noch ein bisschen weiter nach hinten drückte, würden sie auf die Decke sinken.

Sie löste ihre Lippen von seinem Mund und drehte den Kopf weg.

»Sebastian, es ist nicht...« Sie holte tief Luft und spürte, wie sich dabei ihr Busen gegen seine Brust drückte, während sich seine langen Beine gegen ihre pressten. Er hatte sie nicht losgelassen; vielmehr hatte sich sein Griff um ihre Schultern noch verstärkt.

»Victoria«, sagte er. Seine Stimme klang ganz rau, aber es schwang Entschlossenheit mit. »Du bist hergekommen. Zu mir.«

»Ich weiß, Sebastian. Ich bin wirklich nur hergekommen, weil... ich etwas wissen will.«

»Du bist nie nur deshalb zu mir gekommen.«

»Dieses Mal schon.« Sie legte ihre Hände an seine Brust. Die Warme seiner Haut war durch den dünnen Leinenstoff zu spüren.

»Du weißt, dass ich Informationen nur herausgebe, wenn ich auch etwas dafür bekomme«, erklärte er ihr. Seine Stimme klang gepresst, und in seinen Augen lag ein wütender Ausdruck.

Als Victoria zu ihm aufschaute, sah sie den Schmerz, der auf seinem Gesicht lag. Sie hasste die Vorstellung, dass sie die Verantwortung dafür trug, aber das ließ sich nicht ändern. Wenn sie auch vorher noch Fragen gehabt hatte, jetzt nicht mehr. »Es tut mir leid, Sebastian.«

Dann trat sie zur Seite, von ihm weg, und ging auf Abstand. Das Herz pochte ihr immer noch bis zum Hals, aber es war nicht das richtige Pochen.

Das war es einfach nicht.

Eine zerzauste, müde und niedergeschlagene Victoria kehrte spät am Abend ins Stadthaus zurück. Trotz des unerfreulichen Ausgangs der Zusammenkunft hatte sie von Sebastian mehr Informationen erhalten, als sie gehofft hatte.

Sein Wissen stammte bestimmt von seinem Großvater Beauregard, mit dem er einen engen Kontakt gepflegt hatte. Sebastian hatte mehrere Fragen beantworten können, sodass Victoria auf Grundlage dieser Informationen beginnen konnte, einen Plan zu entwickeln. Doch die Situation gab keinen Anlass zur Hoffnung. Ihnen stand eine lange, gefährliche Reise bevor, doch am schlimmsten war, dass sie auf Liliths Mithilfe angewiesen sein würden.

Etwas, woran nicht einmal zu denken war.

Die Situation wurde noch schlimmer, als sie das Stadthaus betrat und auf Max traf. Sie hatte keine Ahnung, was ihn dazu veranlasst haben mochte, im Vestibül zu stehen... vielleicht war er auch gerade auf dem Weg nach drinnen oder draußen gewesen. Doch er war der letzte Mensch, den sie in diesem Augenblick sehen wollte.

Anscheinend hegte er ganz ähnliche Gedanken.

Sein Blick war noch durchdringender als sonst, und seine Miene drückte eindeutig Missbilligung aus. »Rechne nicht mit mir zum Abendessen.«

Die Gehässigkeit, die in seiner Stimme mitschwang, kam für sie überraschend, und sie blieb stehen, obwohl sie eigentlich hocherhobenen Hauptes an ihm hatte vorbeistolzieren wollen, um die Treppe hinaufzueilen und in ihr Zimmer zu flüchten. »Du gehst aus?«, fragte sie und spürte plötzlich, dass ihre Augen zu brennen angefangen hatten. Nein, nicht jetzt.

Nicht vor Max' Augen.

Sie holte tief Luft, richtete sich auf und hielt sich mit einer Hand am Endpfosten der Treppe fest. Das Brennen ließ nach, aber sie hatte immer noch ein Kratzen im Hals.

»Es gibt Angelegenheiten, um die ich mich kümmern muss«, erwiderte er. Sein Tonfall war immer noch bitter. Sein Gesicht sah aus, als wäre es aus hartem, grauem Stein gemeißelt.

»Wie du meinst.« Sie wandte sich von ihm ab und begann, die Treppe hinaufzusteigen, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen. Ihre Augen füllten sich mit wütenden Tränen, und ihre Nase begann zu jucken.

Vielleicht sollte sie ihn gehen lassen.

Vielleicht wäre das am besten. Für sie beide.

Victoria schlief voll bekleidet auf ihrem Bett ein und wachte erst wieder auf, als Verbena viel später am Abend mit einem Tablett zu ihr kam.

Missbilligend vor sich hin schnalzend half sie ihrer Herrin dabei, das zerdrückte Kleid auszuziehen, und bestand darauf, dass sie das kalte Mahl aus Hähnchen, Brot, Tomaten und Käse zu sich nahm. Victoria fühlte sich nach ihrem Nickerchen und dem Essen nur geringfügig besser. Da war immer noch etwas, das wütend und beharrlich an ihr nagte.

Auch nachdem ihre geschäftige Zofe ihr die Haare für die Nacht ausgekämmt und ihr in ein Nachthemd geholfen hatte — für heute Abend war sie keine gesellschaftlichen Verpflichtungen eingegangen, und anscheinend gab es in London keine Vampire mehr, auf die man hätte Jagd machen können -, hatte Victoria ihre schlechte Laune immer noch nicht abgelegt. Ein Teil von ihr hätte sich am liebsten schluchzend zusammengerollt; weshalb, wusste sie eigentlich gar nicht... und der andere Teil hätte sich nur zu gern in einen Kampf mit einem ganzen Rudel Vampire gestürzt.

Sie hätte allen den Garaus gemacht.

Verbenas Geplapper begann ihr auf die Nerven zu gehen, und schließlich schickte sie ihre Zofe weg und gab ihr für den Rest des Abends frei. Das war offensichtlich das Richtige; denn Verbena gestand, dass sie und Oliver geplant hätten, nach Vauxhall Gardens zu fahren.

»Dann ab mit dir«, sagte Victoria und merkte, dass es erst elf Uhr war.

Vielleicht brauchte sie nur ein bisschen mehr Schlaf.

Und dann träumte sie von Dämonen aus schwarzem Rauch und rotäugigen Vampiren und dunkeläugigen Männern.

Aber nach einer Weile wachte sie wieder auf, und kühles Mondlicht schien durchs Fenster, sodass der Raum wie an einem trüben Regentag erleuchtet war.

Der Gedanke, der die ganze Zeit an ihr nagte, sie nicht in Ruhe ließ und ständig am Rande ihres Bewusstseins lauerte, brach nun mit aller Macht hervor. Vielleicht sollte sie Max gehen lassen.

Victoria setzte sich auf, glitt aus dem Bett und ging zu ihrer Frisierkommode. Ihr Gesicht schaute ihr geisterhaft fahl aus dem Spiegel entgegen. Das volle, dunkle Haar fiel ihr über die Schultern und reichte bis zu den Ellbogen; neben der geraden Nase die wie Mandeln geformten Augen. Ein leichter Schweißfilm lag über ihrer Oberlippe, denn die Hitze des Tages hatte sich gehalten.

Vielleicht hatte Sebastian Recht. Sie klammerte sich an einen Mann, der ihr nicht das geben konnte, was sie wollte. Der niemanden wollte oder brauchte.

Lange Zeit betrachtete sie sich im Spiegel, und schließlich fällte sie eine Entscheidung.

Wenn es wirklich das war, was er wollte, dann würde sie ihn gehen lassen. Doch der Ausdruck auf seinem Gesicht, als er nach der Tanzveranstaltung in der Kutsche auf sie herabgeblickt hatte, hatte etwas anderes gesagt.

Sie stand auf, streifte das schlichte weiße Nachthemd ab und zog ein rosafarbenes Gewand aus Spitze aus dem Schrank. Der Stoff war nicht mehr als ein Hauch, lag an den Brüsten eng an und fiel dann weich bis zum Boden. Das Gewebe war so fein, dass das Glitzern ihrer beiden vis bullae, die sie im Bauchnabel trug, zu erkennen war.

Leise verließ Victoria ihr Schlafzimmer und tappte durch das kleine Haus nach hinten, wo die Dienstboten schliefen. Dann stieg sie ein Stockwerk höher, wo die Wärme noch drückender war.

Ihr Gewand wehte wie Rauch um sie, als sie vor der Tür zu Max' Zimmer stehen blieb. Durch den Spalt unter der Tür drang kein Licht nach draußen, aber es war auch bereits weit nach zwei Uhr morgens. Entweder schlief er, oder er war noch nicht nach Hause gekommen. Und da es in London keine Vampire mehr gab...

Victoria öffnete die Tür und sah, dass der Raum vom selben Mondlicht erfüllt war wie ihr Zimmer und sein Bett beleuchtete. Es war leer. Und unbenutzt.

Er war nicht da.

Sie trat aus dem Zimmer wieder in den Flur. Dabei spürte sie einen unangenehmen Druck im Magen, und ihre Handflächen waren plötzlich feucht.

Sie kam sich albern vor.

Langsam ging sie wieder die Treppe hinunter und dann noch ein Stockwerk tiefer, nach unten ins Erdgeschoss. Sie befand sich jetzt in der Nähe der Küche im hinteren Teil des Hauses. Zwar hatte sie keinen Hunger, aber dennoch ging sie durch die Küche in den vorderen Teil des Hauses. Mittlerweile war sie hellwach und in Alarmbereitschaft, und plötzlich erkannte sie warum.

Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf, und ihre eben noch lässigen Bewegungen wurden bewusster und geräuschlos. Das Geräusch, das sie gehört hatte, war entweder ein Klirren oder ein dumpfes Kratzen gewesen.

Kein Vampir - denn sie verspürte kein Frösteln. Vielleicht Kritanu oder Charley oder...

Victoria drückte den Rücken durch und ging durch den Flur weiter zum Salon. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Gelber Lichtschein drang durch den Spalt unter der Tür... gelb und unauffällig. Sie drehte den Knauf und stieß die Tür auf.

Max saß in Tante Eustacias Lieblingssessel neben dem Tischchen, auf dem ihre Pflöcke gelegen hatten. Als Victoria das Glas mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit sah, wusste sie, woher das Geräusch gekommen war, das sie gehört hatte. Daneben stand eine bauchige Karaffe. Er hob den Kopf, dessen eine Seite von der Lampe in goldenes Licht getaucht war, während die andere im Schatten lag. Sein weißes Hemd mit dem aufgeknüpften Halstuch, das er um die Schultern geschlungen hatte, schimmerte im schwachen Lichtschein.

»Was willst du?«

Sie trat über die Schwelle und blieb dicht bei der Wand stehen, während sie spürte, dass Wut... und etwas anderes in ihr hochkam. Sie ließ die Tür nicht los, trat aber in das wundervolle Mondlicht, das durch das Seitenfenster in den Raum fiel. »Ich konnte nicht schlafen.«

Sein Blick glitt kurz über sie, und sie sah, wie er die Lippen aufeinanderpresste. »Geh weg, Victoria.«

»Max.«

Da schaute er sie direkt an, und die Bitterkeit, die sie in seiner Miene sah, raubte ihr fast den Atem. Es war der gleiche Ausdruck, der auch heute Nachmittag auf seinem Gesicht gelegen hatte. Die gleiche kalte Wut, die ihn erfüllt hatte, nachdem sie ihn vor drei Wochen mit salvi betäubt hatte.

»Du hast dich mit Vioget geeinigt. Warum bist du hier?«

Es hatte keinen Sinn, sich zu fragen, woher er wusste, dass sie

Sebastian besucht hatte; das hatte sie schon vor langer Zeit bei ihm akzeptiert. Max wusste alles.

»Ja...«, setzte sie an, aber er ließ sie gar nicht erst zu Ende reden.

»Geh. Weg.« Seine Worte waren kaum mehr als ein Hauch.

Sie trat einen Schritt näher und spürte dabei, wie sich der Stoff ihres Gewands um ihre Beine legte. Sie wusste, was er sah, während das Mondlicht von hinten auf sie fiel: Der spinnwebfeine Stoff enthüllte ihren Körper von oben bis unten, während ihr die üppigen Locken über den Rücken fielen. Victoria war völlig klar, was für ein Bild sie abgab.

Sie brauchte alle Hilfe, die sie bekommen konnte.

»Max, ich habe in deinem Zimmer nach dir gesucht.«

»Offensichtlich.« Seine dunklen Augen glitten über sie, und irgendwie gelang es ihm, dabei kalt und gleichzeitig arrogant zu wirken. »Ich habe kein Interesse an dem, was Vioget übrig gelassen hat. Oder ist es dir egal, wer der Vater deines Kindes ist?«

Also wusste er auch, dass sie aufgehört hatte, den Trank zu nehmen. Auch das überraschte Victoria nicht weiter. Sie hatte ihm gesagt, dass sie die Absicht hatte, und Max wäre nicht Max gewesen, wenn er sich nicht vergewissert hätte. Aber das andere, was er ihr da vorwarf...

»Was Vioget übrig gelassen hat?« Sie lachte kurz auf und versuchte, sich von seiner kalten Stimme nicht zu tief treffen zu lassen. »Max, sei kein...«

»Oder hat jemand anders seine Spuren auf deinem Hals hinterlassen?« Die ganze Zeit erhob er nicht ein Mal seine Stimme. Sie war leise und tonlos. Kalt.

Unwillkürlich griff Victoria nach ihrer Schulter, wo Sebastian tatsächlich bei ihrem Treffen einen kleinen blauen Fleck hinterlassen hatte. Max konnte ihn jetzt gar nicht sehen, weil er von ihrem Haar bedeckt wurde. Aber am Nachmittag...

»Ich sage es jetzt zum letzten Mal. Geh.«

Seine Augen waren fast völlig schwarz, nur in der Mitte schimmerten sie etwas. Obwohl das Glas mit Whiskey neben ihm stand, griff er nicht danach. Stattdessen sah sie, dass sich seine Finger an der Armlehne festklammerten.

»Sonst passiert was?«, entgegnete sie. »Beförderst du mich höchstpersönlich nach draußen?«

Sie wussten beide, was das letzte Mal passiert war, als er wütend Hand an sie gelegt hatte. Wütende Hände, die sich in leidenschaftliche Hände verwandelt hatten.

»Ich verlasse London. Sobald die Sonne aufgeht.«

Sie sah zum Fenster. Am Himmel standen immer noch Mond und Sterne, aber im Osten war der Himmel nicht mehr schwarz, sondern bereits blau. Victoria nickte kurz. So sei es.

Aber zuerst musste sie noch etwas sagen.

Später wusste sie nicht mehr, wie sie es geschafft hatte, keine Gefühle in ihrer Stimme mitschwingen zu lassen... den Schock und die Trauer darüber, dass er gegangen wäre, ohne es ihr zu sagen und ohne sich von ihr zu verabschieden. Aber es gelang ihr, ihre Worte genauso gelassen und kühl wie er klingen zu lassen.

»Sebastian und ich haben die Dinge zwischen uns geklärt, aber nicht so, wie du meinst.« Sie sah Max direkt in die Augen. »Du irrst dich in vielerlei Hinsicht. Seit Rom bin ich nicht mehr mit ihm zusammen gewesen, Max. Seit... du und ich... zur Tür der Alchemie gegangen sind.« Seit Max sie gegen eine feuchte, raue Steinmauer gedrückt und geküsst hatte.

Vieles war ihr erst viel später klar geworden, aber den Moment, wann sich für sie alles geändert hatte, wusste sie genau.

Er erwiderte nichts darauf, sondern saß nur regungslos, mit ausdrucksloser Miene da.

»Doch wenn du gehst, werde ich zu ihm zurückkehren. Und es wird keinen Zweifel daran geben, wer der Vater meines Kindes ist.« So. Es gelang ihr nicht, die leichte Erbitterung und einen Anflug von Hohn, die in ihrer Stimme mitschwangen, zu unterdrücken.

Das Schweigen zog sich in die Länge, und schließlich begriff sie, dass er eben doch Max war und Sebastian mit dem, was er über ihn gesagt hatte, recht behalten hatte.

Victoria drehte sich um und verließ den Raum... zwar hoch erhobenen Hauptes, doch mit einem Stechen im Magen.

Ihre Hand lag bereits auf dem untersten Pfosten des Treppengeländers, als sie ihren Namen hörte.

Sie drehte sich um und sah Max in der Tür zum Salon stehen.

Sein Gesichtsausdruck ließ ihr den Magen nach unten sacken, und ein Beben ging durch ihren Körper, bei dem fast die Beine unter ihr nachgaben und ihre Handflächen ganz feucht wurden. Eine kleine Lampe im Eingangsbereich beleuchtete seine Augen, die sie unter schweren Lidern mit glühendem Blick musterten.

»Ich habe meine Meinung geändert«, erklärte er ruhig, während eine Hand das aufgeknotete Halstuch herunterzog. Ganz langsam ließ er seinen Blick über sie gleiten. »Und wenn wir fertig sind, Victoria, wirst du dich nicht mehr an deinen eigenen Namen erinnern... geschweige denn Viogets.«