Kapitel 19

Von Träumen und Opfern und über das Entstehen einer Schuld

 

Sebastian erwachte kurz vor Tagesanbruch und stellte fest, dass Wayren vor ihm stand.

Oder zumindest dachte er, es wäre Wayren... aber vielleicht war es auch nur eine Halluzination. Sie wirkte seltsam diffus, und sie glühte. Vielleicht träumte er; aber zumindest war es kein Alptraum, in dem Giulia bettelte und flehte. Wenn es allerdings kein Alptraum war, so würde er doch die alten Träume vorziehen, in denen seine Geliebte ihr langes, dunkles Haar um ihn schlang und sie sich auf einem nächtlichen Bett wälzten, statt von einem Engel zu träumen.

Es schien irgendwie nicht richtig.

Das grässliche Schnarchen neben ihm sagte ihm, dass der andere Reisende, mit dem er das Zimmer teilte, noch immer tief und fest schlief. Die Sonne blitzte gerade am Horizont auf, und in ein paar Stunden würde er wieder beim Berg sein.

»Sebastian«, sagte eine Stimme, und er schaute in die Richtung, aus der sie gekommen war.

Sie war immer noch da.

»Träume ich? Wayren?«

»Ich bin da. Ich bin hergekommen, um dir Glück zu wünschen und dir meinen Segen zu geben.«

Er nickte. Ob es nun ein Traum war oder nicht, er spürte, wie ihn Zufriedenheit durchströmte.

Wayrens Gegenwart hatte ihm früher immer Unbehagen bereitet, als er wusste, dass er seiner Berufung nicht folgte oder seine Pflicht tat. Jetzt war ihre Gegenwart — ob nun real oder doch nur ein Traum — wie eine Art Lob, Zuspruch und Segen.

»Außerdem bin ich hier, um dir das hier zu geben. Trage ihn und leg ihn nicht ab, dann wird er helfen.«

Etwas Silbernes blitzte im trüben Licht auf und fiel neben ihm aufs Bett. Ein schwerer Ring aus Silber, in den ein daumen-nagelgroßer Granat eingelegt war.

»Wofür ist der?«

»Er wird dir helfen, dein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und in Momenten der Schwäche Stärke zu bewahren. Mehr kann ich nicht tun. Alles andere liegt bei dir.«

Er nahm den Ring und steckte ihn auf den Mittelfinger seiner linken Hand. »Danke.« Dann sah er sie an. »Und danke für Rosamundes Papiere. Sie haben mich hierher geführt.«

»Ich wusste, dass sie das tun würden.« Sie nickte, und ihr blondes Haar bewegte sich dabei. Sie zögerte kurz, dann spürte er den Hauch einer Berührung auf seiner Hand. Immer noch wusste er nicht, ob das alles real war oder er es sich nur einbildete. »Du wirst es schaffen, Sebastian Vioget.«

Und dann wachte er auf.

Der silberne Ring steckte auf seinem Finger, die Sonne war gerade hinter dem Horizont hervorgekommen... und er war bereit, den letzten Tag seines Lebens anzutreten.

Zwei Stunden später stand Sebastian vor der Felsspalte, die in Liliths Unterschlupf führte.

Problemlos erhielt er Einlass, nachdem er ihren Wächtern die fünf Ringe gezeigt und seine Pflöcke abgegeben hatte. Sie versuchten nicht, ihm den Silberring abzunehmen, den Wayren ihm gegeben hatte und den er an der anderen Hand trug. Sebastian hatte nicht mehr als eine Stunde für dieses kleine Treffen veranschlagt, nachdem er zur Mittagszeit hier eingetroffen war.

Er wurde wieder in denselben Raum wie das letzte Mal geführt. Es war nur ein kurzer Weg durch einen gewundenen Gang aus Felsgestein.

Das Zimmer sah genauso aus wie beim letzten Mal, und er begrüßte Lilith mit ruhiger Stimme. Sie saß wieder auf ihrer Chaiselongue, trug diesmal aber ein schwarzes Kleid, welches ihre Haut fast schon blauweiß erscheinen ließ.

Zuerst sah Sebastian Pesaro nicht. Doch als er ihn erblickte, musste er seine ganze Kraft zusammennehmen, um keine Regung zu zeigen. Barmherziger Gott.

Wie lange war es jetzt her? Drei Tage? Noch nicht einmal drei Tage. Aber wie sah er aus.

Sebastian riss den Blick von dem Mann los und schwankte kurz, während er sein Entsetzen zu verbergen und wieder Haltung anzunehmen versuchte. Noch nie hatte er einen Mann, der so viel innere und äußere Kraft besaß, so erniedrigt, so verletzlich gesehen... diese Leere in seinem Blick, diese Hoffnungslosigkeit.

Würde er nach einem Tag auch so aussehen? Nach zwei Tagen? Sebastians Magen bäumte sich auf und drohte, seinen Inhalt von sich zu geben.

Rette mich.

Sebastian holte tief Luft. Er sah wieder in Liliths Richtung und achtete darauf, ihr nicht direkt in die Augen zu schauen, damit sie ihn nicht in ihren Bann ziehen konnte. Außerdem zwang er sich dazu, Pesaro zu ignorieren. Die Dinge würden sich für ihn ändern. Dafür würde er sorgen.

»Beauregards Enkel! Wie überaus freundlich, uns einen Besuch abzustatten.« Lilith richtete den machtvollen Blick ihrer blauroten Augen auf ihn, und obwohl er ihm auswich, spürte er seine Kraft... und Verlockung. Einen Moment lang musste er um Atem ringen, wobei er die Hand zwischen den Knöpfen seines Hemds hindurchschob und seine vis bulla berührte.

Sofort spürte er, wie die Kraft ihn durchströmte und er das Gefühl von Macht bekam. Er war der Enkel von Beauregard.

Er war ein Venator.

»Ich bin hergekommen, um Pesaro zu holen«, sagte er. Dann holte er kurz Atem, um sich und seine Gedanken zu sammeln. Er musste Lilith anders behandeln, als Pesaro es getan hatte. »Warum lässt du den armen Kerl nicht frei? Er sieht nicht gerade so aus, als würde er in seinem gegenwärtigen Zustand irgendjemandem viel Freude bereiten.«

Lilith musterte ihn aus leicht zusammengekniffenen Augen. Dann zog sie eine schmale Augenbraue hoch und lächelte. »Ich habe nicht die Absicht, ihn freizulassen. Aber wo du jetzt schon mal hier bist, möchtest du vielleicht gern bleiben. Wir drei könnten uns gut amüsieren.«

»Was für eine faszinierende Vorstellung«, sagte er und gab seiner Stimme einen tiefen, sinnlichen Klang. Er ließ seinen Blick langsam über ihren Körper gleiten. Wenn es eines gab, womit er sich auskannte, dann, wie man die Eitelkeit einer Frau ansprach. »Aber ich muss gestehen, dass ich nicht gern teile. Ich empfände ihn hier als genauso aufdringlich wie auch sonst immer.«

»Teufel auch, du klingst fast genau wie dein Großvater.« Lilith stieß ein leises, überraschtes Lachen aus. »Und du siehst auch ein bisschen wie er aus, so um die Wangen und ums Kinn herum. Und der Mund.« Ihr Blick blieb einen Moment lang an seinen Lippen hängen. »Ich habe Beauregard immer gemocht, Sebastian Vioget. Es war nur dumm, dass er mich damals vierzehnhundertzweiundfünfzig während der Sache in Wien so geärgert hat, denn sonst wären wir bis in alle Ewigkeit glücklich miteinander gewesen.«

»Das erklärt also, warum du ihm nie einen der Ringe geschenkt hast.« Sebastian hielt die rechte Hand hoch. »Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Man sollte Vergangenes ruhen lassen, nicht wahr? Und... ich trage jetzt die Ringe von Jubai. Alle fünf.«

Sie setzte sich aufrecht hin, und ihre Augen funkelten interessiert. »Dann hast du also den Bann des Teiches gebrochen. Hast du die Kugel herausgeholt?«

»Wir haben die Kugel, und das Portal wird geschlossen werden. Aber Mercy schien noch viel mehr an etwas anderem interessiert gewesen zu sein, etwas, das auf dem Grund des Teiches lag.«

Liliths Blick wurde durchdringender, und sie schien zu erkennen, dass ihre Gefolgsleute gescheitert waren. »Du trägst die Ringe immer noch.«

»Ja, das tue ich, und anscheinend wird das auch für immer so bleiben. Ich kann sie nicht abnehmen.«

»Ich glaube dir nicht. Nimm sie ab, oder ich mache es für dich.«

Sebastian setzte sein charmantestes und gleichzeitig provokantestes Lächeln auf. »Ist das eine Drohung oder ein Angebot, Lilith?« Verstohlen berührte er wieder seine vis unter dem Hemd, während er sein Lächeln beibehielt.

»Du kannst die Ringe wirklich nicht abnehmen?«

»Wirklich nicht. Sie sind mit meinem Fleisch verschmolzen.«

Sie musterte ihn durchdringend, als wollte sie herausfinden, was er im Sinn hatte. »Warum bist du dann hier?«, fragte sie schließlich und machte es sich wieder auf ihrer Chaiselongue bequem.

Sebastian nickte. »Ah, dann sprechen wir jetzt also ganz offen miteinander. Ich bin hier, um mich im Austausch gegen Pesaro anzubieten. Offensichtlich brauchst du einen Geliebten, der mit dir... sagen wir... Schritt halten kann?«

Lilith lachte leise, aber man spürte einen Anflug von Verwirrung in ihrer spöttischen Stimme. »Und warum sollte ich mich auf so einen Handel einlassen? Du bist hier, genau wie er, und ich brauche nur einen Befehl zu geben, und schon hätte ich euch beide.«

»Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen«, sagte Sebastian, »aber das stimmt nicht ganz. Ich bin zwar bereit, mich auszuliefern — in alle Ewigkeit, mich und die Ringe von Jubai -, aber nur unter der Bedingung, dass du Max Pesaro freilässt. Wenn du dazu nicht bereit bist, dann werden wir beide innerhalb von Sekunden tot sein. Und dann entgehen wir dir nicht nur beide, sondern du wirst auch die Ringe nicht bekommen und somit keine Möglichkeit mehr haben, die Pyramide herauszuholen, die sich am Grund des Teiches befindet.«

»Woher weißt du von dem Prisma?«

»Mercy hat es mir gesagt. Sie musste natürlich dazu überredet werden, es zu erzählen, indem ich mich weigerte, meine Hand wieder in den Teich zu stecken und danach zu suchen. Aber als sie sah, dass ich die Ringe nicht abnehmen konnte und dass sie und ihr Gefährte... habe ich eigentlich erwähnt, dass der Wächter aufgespießt wurde, kurz nachdem wir die Kugel gefunden hatten? Was Mercy und den anderen betrifft... tja, die beiden haben unsere gute Illa Gardella verärgert. Deshalb sind sie nicht mehr, muss ich leider mitteilen. Aber jetzt hast du ja mich, um sie zu ersetzen, wenn du bereit bist zu verhandeln.«

»Was sollte mich daran hindern, dass ich dich einfach dazu zwinge, wieder hinzugehen und das Prisma für mich herauszuholen?«

»Das hier.« Sebastian zog ein kleines Rohr hervor, das nicht dicker war als der Stängel einer Blume. Eine einfache Waffe, die bei den Wächtern, von denen ihm seine Pflöcke und das Schwert abgenommen worden waren, kein Misstrauen erweckt hatte. »Ich schieße den Giftpfeil in dem Moment ab, in dem du nach den Wächtern rufst oder etwas anderes tust als das, worum ich dich gebeten habe. Pesaro wird sofort tot sein, denn ich werde ihn nicht verfehlen. Und was mich angeht, auch da halte ich eine Dosis bereit. Wir werden beide tot sein, ehe du auch nur einmal blinzeln kannst.«

»Aber die Ringe... ich kann sie dir abnehmen, nachdem du tot bist«, meinte Lilith abweisend. Trotzdem sah er eine gewisse Vorsicht in ihren Augen.

»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Oder vielleicht versuchst du ja auch, mich zu verbrennen, nachdem ich tot bin, um an sie zu gelangen; aber dann könnte es natürlich sein, dass sie dabei zerstört werden. Bist du bereit, dieses Risiko auf dich zu nehmen?« Er trat dichter an sie heran. »Und warum solltest du eigentlich? Ich biete mich dir an... Beauregards Enkel. Was für ein Fang das für dich wäre. Und um ganz offen zu sein: Ich bin viel unterhaltsamer als dieser dumpf brütende Typ da in der Ecke. Ich habe nie begreifen können, was du eigentlich an ihm

findest. Er ist kein bisschen unterhaltsam. Wahrend ich... Nun ja, du kanntest ja Beauregard.«

Die Worte kamen ihm leicht über die Lippen. Sebastian hatte Frauen jahrelang umworben und verfuhrt, sodass es ihm nicht schwerfiel, in das alte Verhaltensmuster zurückzufallen. Er versuchte zu vergessen, dass dies hier anders war; dass dieses Tete-à-tete weit reichende, ewige Folgen haben würde.

Er konnte es durchhalten, einen Tag nach dem anderen.

Einen Tag nach dem anderen, um sein Versprechen zu halten. Und er wusste, am Ende würde es für Giulia sein — und für Victoria -, dass er sich opferte.

»Das heißt also, entweder du oder keiner von euch beiden?«

»Genau. Dir bleibt keine große Wahl, aber ich glaube, du machst das bessere Geschäft dabei.«

Lilith erhob sich von der Chaiselongue und begann auf und ab zu gehen. Als sie zu Pesaro kam, strich sie mit der Hand über sein dunkles Haar und die gebeugten Schultern. Er reagierte nicht auf ihre Berührung, sondern blieb so ruhig und still, als wäre er betäubt. »Und ich soll dir glauben, dass du meinen kleinen Liebling hier innerhalb von einer Sekunde töten kannst?«

Schnell setzte er das Röhrchen an die Lippen und blies mit aller Kraft. Der Pfeil schoss durch die Luft und bohrte sich vorn in Pesaros Schulter, gleich unterhalb der Stelle, wo Liliths Hand lag. Max merkte man nicht an, dass er getroffen worden war, doch sie schaute überrascht... und erfreut... zu ihm auf.

»Tatsächlich. Ich hoffe doch, dass das nur ein Warnschuss war, oder? Ein Beweis für deine, sagen wir, Bereitwilligkeit?«

Sebastian nickte und hoffte inständig, dass sie seinen Bluff nicht durchschaute. Denn in Wirklichkeit war keiner der Pfeile vergiftet. Er schwenkte drohend das Röhrchen. »Ich habe noch drei weitere hier drin, und die sind alle vergiftet. Der nächste wird erst ihn töten und dann mich.«

»Du stellst mich vor eine unmögliche Wahl«, sagte Lilith und schob ihre Finger tief in Pesaros Nackenhaar. Sie riss seinen Kopf hoch und beugte sich über ihn, um träge an seinem Kinn und Kiefer zu knabbern. »Ich möchte ihn nicht gehen lassen.«

Sebastian schluckte, setzte aber sein charmantestes Lächeln auf. »Eine schwierige Entscheidung, aber längst nicht so unmöglich wie die, vor die du ihn erst vor ein paar Tagen gestellt hast. Jetzt komm, Lilith. Du weißt, dass du dabei besser wegkommst. Allein das Prisma müsste es wert sein, sich von diesem Mann zu trennen, der kaum mehr tut, als düster in einer Ecke zu sitzen und dir Schwierigkeiten zu machen. Und davon abgesehen ... du hättest Beauregards Enkel. Einen Venator. Mit dem du machen kannst, was du willst.«

Ihr Blick huschte zu ihm, und wieder spürte er den Sog ihrer Augen, die versuchten, ihn mit ihrem Feuer einzuhüllen. Sie ging zu ihrer Chaiselongue zurück und setzte sich wieder. »Na gut. Du hast mich überzeugt, Sebastian Vioget. Ich nehme deinen Vorschlag an.«

Sebastian spürte, wie er von Erleichterung durchströmt wurde, ließ es sich jedoch nicht anmerken, sondern lächelte sie nur an. Er schwenkte die Hand, in der er das Röhrchen hielt. »Das freut mich, aber ich muss dich trotzdem bitten, sitzen zu bleiben, bis wir alles geklärt haben. Wir wollen ja nicht, dass ich eine plötzliche Bewegung falsch deute und es dadurch zu einem Unfall kommt.« Er lächelte und sah den widerwilligen Respekt, der von ihrem Gesicht abzulesen war.

»Na gut. Sag mir, wie es jetzt weitergeht.«

Mit dem Röhrchen dicht am Mund befahl er einem von Liliths Wächtern, einem weiblichen Vampir, Pesaro loszuketten. Sie trat zu dem nackten, blutüberströmten Pesaro, der einen völlig leeren Blick hatte, und half ihm auf.

Max Pesaro taumelte und brauchte einen Moment, bis er sein Gleichgewicht gefunden hatte. Aber als er Sebastian anschaute, war der trübe Blick verschwunden, sodass Sebastian sich fragte, ob das Ganze wohl nur gespielt gewesen war, um Lilith zu langweilen und sie sich vom Leib zu halten. Und er fragte sich, wie viel Pesaro von dem Gespräch mitbekommen hatte.

»Was tun Sie hier?«, raunte Pesaro.

Sebastian wusste, wie die eigentliche Frage lautete: ob Victoria noch am Leben war. Einen kurzen Moment lang hätte ihn ein letzter Rest von Eifersucht beinahe nicht antworten lassen. Der Mistkerl würde es schon noch früh genug erfahren, um dann den Rest seines Lebens mit ihr zu verbringen, während er...

Doch nein. Dies war ein Opfer, und er würde es nicht durch niedere Empfindungen besudeln, deshalb antwortete er: »Ich bin hergekommen, um mich im Austausch gegen Sie anzubieten. Die anderen sind auf dem Weg zum Portal, und Lilith hat sich bereit erklärt, Sie im Austausch gegen mich freizulassen.«

»Vioget.« So wie Max es aussprach, hörte es sich für einen Unbeteiligten, der es zufällig mitbekam, wie ein schlichtes Dankeschön an, doch Sebastian sah die Frage in den Augen des anderen: Wie sieht der Plan aus?

Sebastian schüttelte nur den Kopf und ließ Pesaro die Wahrheit von seinem Gesicht ablesen. Und dann sah er zum ersten Mal nacktes Entsetzen... und dann Dankbarkeit - von Max Pesaro? — auf dessen Gesicht. Die Geringschätzung, die sonst immer in seinen Augen gestanden hatte, war verschwunden und durch etwas ersetzt worden, das man fast für Respekt und Bewunderung hätte halten können.

Pesaro nickte kurz und zeigte damit seine Zustimmung zu allem an. »Ich lasse Ihnen meine Stiefel hier«, sagte er. »Ich glaube, Miro würde das wollen.«

Sebastian verstand die Botschaft. Die Worte sollten ihn daran erinnern, dass Weihwasser in den Absätzen der Stiefel versteckt war. Miro, der Waffenmeister der Venatoren, hatte die hohlen Absätze entwickelt, in denen sich früher kleine Zündhölzer befunden hatten.

»Ja, mein lieber Maximilian, es steht dir frei zu gehen«, erklärte Lilith, während ihr Blick über seinen hochgewachsenen, gebräunten Körper glitt, als würde sie zögern, ihn wirklich gehen zu lassen. »Bis wir uns das nächste Mal wiedersehen.« Ihre Worte waren eine leise Drohung und ein Hinweis an beide, dass Sebastian sie dieses Mal vielleicht übertrumpft hatte, sie es aber nicht noch einmal geschehen lassen würde.

Er war sich sicher, dass das mit ein Grund war, warum sie sich auf den Handel eingelassen hatte. Die Aussicht auf eine spannende Jagd, um Max wieder einzufangen, würde sie beschäftigen, wenn Sebastian anfing, sie zu langweilen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Wie in Gottes Namen würde er es je ertragen, ihre Hände, Lippen und Zähne auf seinem Körper zu spüren?

Für Giulia. Für ihre Seele.

Er würde ihre Seele retten und seine eigene rein halten. Und dann, eines Tages, würden sie zusammen sein... wenn er sein Versprechen erfüllt hatte.

Pesaro zog sich schnell an, und seine geschmeidigen Bewegungen offenbarten, dass Sebastian sich getäuscht hatte, als er meinte, ihn völlig geschwächt zu sehen. Die letzten Tage hatten zwar ihre Spuren hinterlassen - er konnte sehen, dass Lilith sich ihr Vergnügen in vielerlei Form geholt hatte -, aber er war ganz und gar nicht das Häufchen Elend, das nur noch aus Haut und Knochen bestand, wie es anfangs ausgesehen hatte.

»Sie waren nur noch eine Tagesreise vom Midiversum-Portal entfernt, als ich sie verließ«, erzählte Sebastian ihm, als sie sich zusammen mit vier Wächtern zum Ausgang des Unterschlupfs begaben. Er ging kein Risiko ein und traute es Lilith durchaus zu, Max ziehen zu lassen, um ihn sofort wieder einzufangen, sobald er außer Sichtweite von Sebastian und außer Reichweite des angeblich vergifteten Pfeils war. Deshalb hatte er darauf bestanden, dass er Pesaro bis nach draußen in die Sonne begleitete. Lilith zog es vor, währenddessen in ihrem Zimmer zu bleiben. Wahrscheinlich wollte sie kein unnötiges Risiko eingehen, indem sie sich mit zwei Venatoren auch nur in die Nähe von Sonnenlicht begab.

Am Eingang drehte Pesaro sich zu Sebastian um. »Sind Sie sich sicher?«, fragte er.

Sebastian wusste, was er damit meinte. Er könnte auch mit ihm zusammen ins Sonnenlicht treten; die vier Wächter würden kein wirklicher Hinderungsgrund sein, wenn sie sich entschlossen, gemeinsam zu gehen. »Ich habe mich entschieden zu bleiben.«

»Dann ist das jetzt bereits das zweite Mal«, sagte Pesaro und bezog sich dabei auf die Tatsache, dass Sebastian ihm nun zum zweiten Mal das Leben gerettet hatte.

Und wie schon beim ersten Mal nahm Sebastian den Dank nicht an, sondern erwiderte: »Ich habe es nicht Ihretwegen getan, sondern für sie.« Und dann fügte er noch hinzu: »Für beide. Fragen Sie Wayren nach dem Versprechen.« An Max' Gesichtsausdruck erkannte er, dass dieser verstanden hatte: für beide, Giulia und Victoria. Denn die beiden waren der Grund für die Feindseligkeit, die zwischen ihnen herrschte.

Dann drehte er sich um und ging in die dunkle Höhle zurück, während er es Max überließ, nach draußen in die lichte Freiheit zu treten.