Kapitel 20
Der Besuch
Der Umstand, dass sich das Midiversum-Portal in den Überresten eines alten Friedhofes befand, überraschte Victoria kein bisschen.
Ihr wurde immer unbehaglicher zumute, je mehr sie sich dem Friedhof mit den geschwärzten Steinen näherten, der tief in einem felsigen Tal gelegen war. Die schwere, faulige Luft roch nach Dämonen. Eine verfallene Pforte und eine zerbröckelte Mauer aus Feldsteinen umgaben den Friedhof.
Nur ein schmaler Streifen Sonnenlicht konnte den Schleier aus grauen Wolken durchdringen, sodass der Ort eine wenig einladende, bedrückende Stimmung ausstrahlte. Es schien hier sogar kälter zu sein, als sie am Fuße eines kleinen Hügels südlich des Friedhofes ankamen und ihre Pferde zum Halten brachten. Victoria stellte fest, dass es hier nichts gab, nur von Moos und Moder geschwärzte Grabsteine. Es gediehen keine Bäume, kein Gras oder sonstige Pflanzen.
In der Mitte des Friedhofes erhob sich ein flaches Gebäude mit überhängendem Dach, das nicht größer war als ein Torhaus. Brim zeigte darauf und sagte: »Laut Wayren befindet sich das Portal neben diesem Gebäude.«
Um das Portal zu schließen, musste Mondlicht durch Tacheds Kugel auf die Öffnung fallen, hatte Wayren bei ihren Nachforschungen herausgefunden. Offensichtlich würden sie heute Nacht noch einmal kommen müssen und hoffen, dass der Mond hell genug schien und für die Schließung des Portals reichte.
Aber jetzt wollte Victoria die Gegend erst einmal bei Tageslicht erkunden. Sie wusste nicht, was sie erwartete. Trotzdem trieb sie ihr Pferd voran, während die Kugel, die sie in ihrer Hosentasche hatte, bei jedem Schritt schwer gegen ihr Bein schlug. Sie bedeutete Michalas mit einem Zeichen, Wache zu halten, und Brim, ihr zu folgen. Dabei wünschte sie sich, dass sie nicht nur zu dritt wären.
Denn wer wusste schon, was sie hinter der Steinmauer erwartete?
Ihr Pferd mochte die Gegend nicht, und als sie sich dem Friedhof näherten, begann es zu scheuen und sich Victorias Befehlen zu widersetzen. Sie bekam Mitleid mit dem Tier, saß ab und schickte die Pferde zu Michalas zurück, um dann mit Brim zu Fuß weiterzugehen.
Sie verstand das Zögern ihres Pferdes, als sie sich einer Steinmauer näherten, die mit ein paar Schritten überwunden werden konnte. Jedes einzelne Haar an ihrem Körper fühlte sich so an, als hätte es sich aufgestellt und wäre in der Position eingefroren.
Nach einem kurzen Blick zu Brim kletterte sie auf einen niedrigen Steinhaufen und sprang auf der anderen Seite herunter, wo sie sicher landete. Sie hielt einen Moment lang inne, um sich umzuschauen und zu sehen, ob sich irgendetwas verändert hatte.
Es war ganz still an diesem Ort. Und obwohl Victoria spürte, wie ihr eine leichte Brise über die Wange strich und das Haar aus dem Gesicht wehte, war kein Rascheln oder sonst irgendetwas zu hören. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Brim über die Felsbrocken kletterte. Als einer der Steine lautlos von dem niedrigen Haufen herunterrollte und auf dem Boden landete, bereitete ihr dieser Anblick Unbehagen, denn sie konnte es zwar sehen, hörte jedoch nichts.
Ein Frösteln überlief sie, sodass sich ihre Muskeln anspannten. Automatisch tastete sie nach ihrem Pflock, obwohl diese Waffe bei Dämonen nutzlos war. Das Schwert hing an ihrem Gürtel, einen Dolch trug sie in einer Scheide am Schenkel, und dann hatte sie noch mehrere kleine Fläschchen mit Weihwasser am ganzen Körper versteckt.
Während sie und Brim zwischen den Grabsteinen umhergingen, bemerkte sie, dass auf keinem einzigen Worte oder Symbole eingraviert waren. Nur lauter schlichte, flache Steine in sauberen Reihen, auf denen keine Namen standen. Nur Moder und Moos gaben einen Hinweis auf ihr Alter, denn alle waren heil und ganz ohne Risse oder Sprünge, welche von Bewegungen im Untergrund verursacht wurden.
Das widerliche Gefühl in ihrem Magen ließ sie angespannt und wachsam bleiben, falls irgendetwas Unerwartetes passieren sollte. Trotzdem trödelte sie nicht, sondern ging schnell zu dem Gebäude in der Mitte des Friedhofes. Als sie näher kam, sah sie, dass es weder Tür noch Fenster besaß. Es gab auch keinen Schornstein auf dem flachen Dach. Aus sicherer Distanz ging sie einmal um das Bauwerk herum, fand aber nichts, wodurch man es hätte betreten können. Es schien keinen anderen Sinn und Zweck zu erfüllen, als Platz wegzunehmen. Aber vielleicht war es ja auch das Portal selbst?
Wayren hatte ihnen nicht viele Einzelheiten mitgegeben — entweder sie wusste selbst nichts, oder sie nahm an, dass alles offensichtlich wäre. Sie hatte ihnen nur gesagt, dass sich das Portal in der Nähe dieses Gebäudes befinden würde. Victoria musste noch zweimal drum herumgehen, wobei sie jedes Mal ein bisschen näher herankam, ehe sie einen schmalen Spalt in der schwarzen Erde entdeckte.
War das das Portal?
Victoria stand etwas entfernt davon, während sie sich alles genauer anschaute und sich fragte, ob sie hier wirklich richtig waren. Der Spalt verlief unregelmäßig gezackt durch die Erde, war vielleicht so lang, wie ein Mensch groß war, und nicht breiter als Tante Eustacias Spazierstock.
Irgendwie hatte sie damit gerechnet, dass Dämonen aus dem Portal strömten - und in ihrer Vorstellung hatte es wie eine richtige Tür ausgesehen. Doch bis auf die seltsame Lautlosigkeit, die hier herrschte, und den durchdringenden Geruch nach Moder und Tod unterschied sich der Ort eigentlich von keinem anderen Friedhof.
Victoria drehte sich zu Brim um, der noch einmal dabei war, das Gebäude zu umkreisen.
»Was gefunden?«, fragte sie. Ihre Stimme klang hohl und dumpf.
»Nein. Ist es das?«, erwiderte er, als er schließlich neben ihr
stand. Sie konnte ihn zwar hören, aber man hatte das Gefühl, als befände man sich in einem geräuschlosen Wirbelsturm. Seine Worte drangen irgendwie dumpf und verzerrt, aber doch hörbar an ihr Ohr.
»Könnte sein«, hallte ihre eigene Stimme, ohne dass Schwingungen spürbar gewesen wären. Victoria trat näher an den Spalt heran, wobei sie ein geöffnetes Fläschchen mit Weihwasser in der Hand hielt. Sie schaute hinein, konnte jedoch nichts Bedrohliches erkennen.
Es wehte jetzt nicht einmal mehr eine Brise, und jedes Geräusch schien aus ihren Ohren gesogen worden zu sein. Sogar ihre eigenen Atemzüge, die schneller als normal waren, konnte sie nicht hören. Sie kippte das Fläschchen leicht und ließ ein bisschen von dem Weihwasser in den Spalt tropfen.
Sofort stieg eine Rauchwolke auf - finster, schwarz und faulig stinkend, die in alle Richtungen zerstob -, fast wie ein Vampir, der gerade gepfählt worden war. Victoria sprang mit einem Satz zurück und wappnete sich für einen Angriff, während sie den Spalt nicht aus den Augen ließ. Doch alles blieb ruhig.
Kein Laut war zu hören. Aber jetzt wusste sie zumindest, dass hier etwas war.
Sie sah Brim an, der sein Schwert gezogen hatte. »Lass uns gehen«, sagte sie. »Wir kommen heute Nacht zurück.«
Er nickte kurz, dann machten sich beide auf den Rückweg.
Victoria sah immer wieder über die Schulter zurück, während sie zwischen den Grabsteinen hindurchgingen. Das war hier deutlich einfacher als auf dem Friedhof in Prag, wo die Steine wild durcheinander gestanden hatten. Und obwohl sie immer wieder zurückschaute, während sie sich entfernten, konnte sie nichts entdecken, das die unheimliche Stille der Gräber gestört hätte. Es gab keinen Rauch, keine Rauchwölkchen, keine atmosphärischen Störungen.
Doch es war diese Stille, diese Dunkelheit, die nicht weichen wollte, die sie ganz besonders störte.
Sie hatten nichts anderes zu tun, als darauf zu warten, dass die Sonne unterging. Deshalb ritten Victoria und ihre Gefährten in das kleine Dorf zurück, durch das sie auf ihrem Weg zum Friedhof gekommen waren. Das malerische Örtchen bestand aus ungefähr zwei Dutzend Häusern, einer Gastwirtschaft und vielleicht vier oder fünf Läden, die alle direkt an der Straße lagen, welche sich durch den Flecken wand. Sie kehrten in der Wirtschaft ein, um etwas zu essen, sich auszuruhen und zu warten, bis der Mond aufging... wenn er denn überhaupt hinter den Wolken hervorkommen sollte.
Durch die erzwungene Untätigkeit hatte sie leider viel zu viel Zeit, um sich wieder Gedanken zu machen und vor sich hin zu grübeln. Während Michalas und Brim in der Wirtschaft saßen, brütete Victoria so ausgiebig und finster vor sich hin, dass Max wirklich stolz auf sie gewesen wäre.
Dieser verschrobene Gedanke rief ihr natürlich auch sofort wieder den Mann in Erinnerung, sodass sich ihr Magen wie jede Nacht, in der sie versucht hatte zu schlafen, oder jeden Moment, in dem sie zugelassen hatte, dass ihre Gedanken in diese Richtung abschweiften - was häufiger geschah, als sie wollte -, schmerzhaft zusammenzog.
Ihre Wut auf ihn, weil er sie verlassen und sich in Gefahr gebracht hatte, war einer tiefen, beklemmenden Furcht gewichen. Sie versuchte, ihren Zorn wachzuhalten, denn der dämpfte das Entsetzen, solange sie sich diesem heftigen Gefühl hingab; aber es hielt nicht an.
Sie wusste, dass sie ihre Wut sofort hervorholen konnte, wenn sie ihn... falls, bitte, lieber Gott, bitte... wiedersah, um ihm die Haut bei lebendigem Leibe vom Körper zu ziehen. Doch im Moment wollte sie nur, dass er in Sicherheit war.
Aber wie konnte er in Sicherheit sein, wenn Lilith ihn in den Fingern hatte? Würde sie ihn nicht als Erstes in einen Untoten verwandeln, nachdem sie seiner wieder habhaft geworden war?
Victoria schüttelte im Geiste den Kopf. Das würde Max nie zulassen. Das zumindest wusste sie, und sie wusste auch, dass er in irgendeiner Form gewappnet war, nachdem er freiwillig zu ihr gegangen war, um die Ringe zu holen.
War ihm denn nicht klar, dass sie ihm hinterherkommen würde? Er musste es wissen.
Aber er wusste auch... wollte... erwartete von ihr, dass sie sich zuerst um das Portal kümmerte. Sein Opfer wäre völlig umsonst gewesen; sie würde seine Bereitschaft, sich im Austausch für die Ringe auszuliefern, damit das Portal geschlossen werden konnte, verschwenden, wenn sie nicht dafür sorgte, dass es tatsächlich geschah.
Oh, Max.
Tränen stiegen ihr in die Augen, und Victoria drehte sich zum beschlagenen Fenster um, wobei ihr Blick auf die Straße fiel.
Ein Mann, der die Straße entlangging und dabei mehrere andere Fußgänger überholte, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Er war außerordentlich gut, nach der neuesten Pariser Mode gekleidet, was für ein Dorf in den Bergen, Hunderte von Meilen von jeder Stadt entfernt, etwas sehr Ungewöhnliches war und bestimmt alle Blicke auf sich zog. Doch keiner schien den Mann mit dem Hut mit der geschwungenen Krempe, dem knorrigen Stock und den sorgfältig geplätteten Hosen zu bemerken. Als er fast mit einer Frau und ihrem Kind zusammenstieß, schien die das noch nicht einmal mitzubekommen.
Victoria konnte den Blick nicht von ihm abwenden und beobachtete, wie er die Straße überquerte, auf die Wirtschaft zukam und dann an dem Fenster vorbeiging, an dem sie saß.
Im Vorbeigehen schaute er durch die beschlagene Scheibe. Einen Moment lang trafen sich sein und Victorias Blick, und sie spürte, wie ein kalter, spitzer Speer durch ihren Körper getrieben wurde und sie lähmte, sodass ihr der Atem stockte.
Diese Augen... ausdruckslos und schwarz, unergründlich und doch glühend... zogen sie für diesen kurzen Moment in ihren Bann, während er am Fenster entlanglief und dann seinen Blick von ihr löste.
Kaum konnte sie sich wieder bewegen, sprang sie von ihrem Stuhl hoch. Das Herz pochte ihr bis zum Hals, und sie schlug mit der flachen Hand vor Michalas auf den Tisch, als sie fragte: »Habt ihr ihn gesehen?«
»Wen?« Beide Männer schauten in die Richtung, in die sie zeigte, und standen sogar auf, um das Fenster zu öffnen und hinauszuschauen. Doch der finstere Mann war fort.
Sie fing an, ihn zu beschreiben, merkte aber, wie schwer es ihr fiel zu erklären, was für ein Gefühl es gewesen war, als er sie anschaute. Mittendrin verlor sie die Geduld und sagte: »Ich bin gleich wieder da.«
Sie stürzte nach draußen und überließ es den beiden, hektisch ein paar Münzen aus den Taschen zu wühlen, um das Essen und die Getränke zu bezahlen.
Bis sie endlich auf der Straße stand, war der Mann längst verschwunden. Und obwohl sie, Brim und Michalas jeden, der vorbeiging, fragten, ob sie einen Mann gesehen hatten, auf den die Beschreibung passte, schien keiner sich daran erinnern zu können, den Mann mit dem modischen Hut und der eleganten Kleidung gesehen zu haben.
Frustriert schickte Victoria Michalas und Brim zur Wirtschaft zurück, damit sie an dem Ende der Straße weitersuchten. Sie folgte ihnen ein bisschen langsamer und ließ den Blick auch zwischen den Gebäuden schweifen.
Gerade als sie schon aufgeben wollte, schaute sie in das Gässchen zwischen der Bäckerei und dem Metzgerladen. Und da war er.
Er saß auf einer Bank in einem kleinen Hof, als würde er auf sie warten. Victoria zögerte keine Sekunde.
Als sie sich ihm näherte, lüpfte er den Hut in eindeutig spöttischer Weise und enthüllte dabei schneeweißes Haar, das glatt gekämmt und eng an seinem Kopf anlag. Seine Hautfarbe war etwas dunkler, wie Tee mit einem guten Schuss Milch, und seine Augen waren weder rot, noch glühten sie, hefteten sich aber mit einem seltsam leeren, nicht menschlichen Leuchten auf sie.
»Victoria Gardella«, sprach er sie mit tiefer, dunkler Stimme an, die ihr einen unangenehmen Schauer über den Rücken laufen ließ.
»Wer sind Sie?«, fragte sie, ohne den Pflock aus ihrer Tasche zu ziehen. Sie wusste, dass ein Pflock gegen diese Kreatur, wer oder was sie auch sein mochte, nichts ausrichten würde.
»Bitte. Möchten Sie sich nicht setzen?« Er deutete auf den Platz auf der Bank neben ihm, aber sie machte keine Anstalten, sich zu setzen.
»Na gut«, meinte er und sah mit diesen schrecklichen Augen zu ihr auf. Dies und der leichte Geruch nach Tod, der in der Luft lag, ließen sie zu dem Schluss kommen, dass er ein Dämon sein musste. Ein sehr mächtiger Dämon. »Sie können natürlich auch stehen bleiben, wenn Sie das vorziehen. Ich heiße Adolphus.«
Der Name sagte ihr nichts, aber die Gewissheit, dass er ein Dämon war, vertiefte sich. Sie konnte es riechen, wenn auch nur ganz schwach. Daraus schloss sie, dass er ein besonders mächtiger Dämon sein musste, wenn er sich so gut tarnen konnte.
Victoria blieb stehen, sagte aber nichts. Sondern wartete. Wenn sie ihn fragte, was er wollte, verschaffte ihm das eine stärkere Ausgangsposition. Er würde ihr schon das erzählen, was er ihr mitteilen wollte, wenn ihm danach war. Also verharrte sie schweigend; denn sie wusste um die Macht der Geduld.
Als hätte er ihre Taktik durchschaut, nickte ihr der Dämon durchtrieben zu und sprach. Wieder hatte seine Stimme einen tiefen, dunklen Klang, der sich beruhigend und einschmeichelnd gab. »Wir verfolgen beide ein ähnliches Ziel, Victoria Gardella. Ich habe Informationen, die für Sie vielleicht interessant sein könnten; möglich, dass Sie sie als nützlich und wertvoll erachten.«
Wieder wartete sie ab, und wieder fuhr er nach einer Weile fort. »Lilith ist dabei, ihren Unterschlupf zu verlassen. Wenn Sie eine Gelegenheit suchen, sie aufzuhalten, dann ist jetzt der Zeitpunkt dafür gekommen.«
Victorias Herz setzte einen Schlag aus. »Wo will sie hin?«
Er zuckte lässig mit den Schultern. »Irgendwohin, wo sie nicht gefunden wird. Für sie ist es hier jetzt zu gefährlich geworden, sie muss sich gut verstecken. Ich weiß nicht, wohin sie will, nur dass sie geht. Morgen.«
Max. Sie würde ihn natürlich mitnehmen.
»Warum sollte ich glauben, was Sie mir da erzählen?« Es stimmte zwar, dass er ein Dämon und damit ein Todfeind der Vampire war, aber sie waren auch die Todfeinde der Sterblichen, insbesondere der Venatoren.
»Weil mein Hass auf Lilith so tief ist wie Ihrer.«
Wieder schaute sie ihn nur an und wartete ab, was er noch sagen würde... auch wenn sie voller Fragen war, sich Sorgen machte und spürte, wie ihre Handflächen ganz feucht vor Panik wurden. Wenn Lilith mit Max verschwand, würde sie ihn nie wiederfinden.
»Sie wissen, was sie ihm antut«, sagte er, und seine Stimme bohrte sich in ihren Kopf. Seine Lippen bewegten sich kaum, aber sie hörte die Worte, als würde er sie ihr direkt ins Ohr sagen. »Sie können es sich vorstellen, weil Sie es selbst schon erlebt haben. Diese Mischung aus Schmerz und Lust, nicht wahr, Victoria Gardella? Sie haben nie irgendjemandem erzählt, was vorgefallen ist, als Sie mit Beauregard zusammen waren und sein Blut getrunken haben. Und zuließen, dass er von Ihrem Blut trank. Sie ziehen es vor, das alles als einen Traum abzutun, so zu tun, als wäre es nie passiert... wie Sie gestöhnt und geschrien, getrunken und sich gewunden haben. Trotzdem können Sie sich vorstellen, was Ihrem Geliebten jetzt widerfährt, während ihre Hände ihn berühren und sie ihn mit der Macht ihres Blickes in ihren Bann zieht. Sie können es sich vorstellen, weil Sie dasselbe gespürt haben, nicht wahr?«
»Nein«, flüsterte sie. Doch die Erinnerungen stürmten auf sie ein, lebhaft und in glühenden Farben. Einen Moment lang meinte sie sogar, den durchdringenden Geruch von Blut wahrzunehmen und den metallischen Geschmack auf ihrer Zunge, in ihrem Mund zu spüren ... und wie es dann durch ihren Hals strömte. Sie würgte, musste schlucken und merkte, dass sie angefangen hatte, schneller und unregelmäßiger zu atmen.
»Denken Sie darüber nach. Stellen Sie es sich vor. Und für ihn wird es noch so viel schlimmer sein. Sein Schreien und Stöhnen, diese langen, geschmeidigen Muskeln, die von ihren Nägeln aufgerissen, von diesen Reißzähnen durchbohrt werden ... Denken Sie darüber nach, Victoria Gardella. Sie kennen diese Form der Folter. Sie wissen, was mit ihm passiert.« Seine Stimme klang wie eine Beschwörung, eindringlich in ihrem Rhythmus, der man sich nicht entziehen konnte, als er in allen Einzelheiten beschrieb, was Lilith Max antun würde.
Seine Worte wurden zu Bildern in ihrem Kopf, sodass sie das Gefühl hatte, selbst dabei zu sein und alles zu beobachten. Den Dämon nahm sie kaum noch wahr, sie hörte nur noch seine tiefe, einlullende Stimme, die Dinge mit Worten und Sätzen beschrieb, welche die schrecklichen Szenen so real erscheinen ließen, dass sie meinte, sogar alles zu hören und zu riechen, was in dem Raum war.
»Sie können ihn retten und sie dabei umbringen. Das ist es doch, was Sie tun wollen? Was Sie tun müssen?«, fuhr er mit dieser einschmeichelnden, sinnlichen Stimme fort. »Und ich kann Ihnen dabei helfen.«
»Wie?«
Er lächelte, nur ein leichtes Lächeln, das seine vollkommen weißen Zähne enthüllte. »Ich kenne ein Geheimnis von Lilith, das Ihnen dabei helfen wird, sie zur Hölle zu schicken. Viele haben es schon versucht, aber keiner kannte ihr Geheimnis.«
»Was für ein Geheimnis ist das?«, presste sie hervor, während sie gegen die Bilder kämpfte, die ihr Max in den Armen von Lilith zeigten. Lilith, deren blaurote Augen vor Lasterhaftigkeit glühten, als sie ihre Reißzähne in ihn schlug.
Victoria versuchte, die Bilder zu verdrängen; trotzdem sah sie seinen sich windenden, zuckenden Körper, der von knochenweißen Händen gehalten wurde, obwohl diese eigentlich gar nicht die Kraft dafür hätten haben dürfen, es aber dennoch schafften. Sie sah seine Augen, die voller Schmerz waren... und voller Lust. Sie machte die Augen mehrmals auf und zu, schüttelte den Kopf und stellte fest, dass sie dem Dämon tief in die Augen blickte.
»Sie müssen einen Pflock aus frischem Eschenholz benutzen«, erklärte er mit lebhaft schimmernden Augen. »Helles frisches Eschenholz, gerade erst geschnitten, sodass das Holz unter der Rinde noch grün ist. Stechen Sie ihr den Pflock an irgendeiner Stelle in den Körper, und sie wird gelähmt sein, sodass Sie ihr den Todesstoß versetzen können.«
»Nein«, gelang es ihr zu sagen, obwohl sie lallte. »Nein.«
»Aber ja doch. Hören Sie zu, Victoria Gardella. Meinen Sie etwa, Sie wären der erste Venator, der sie umbringen will? Und es versucht? Was glauben Sie wohl, wie sie die Jahrtausende überlebt hat?« Er stand auf und trat dichter an sie heran. »Nur wenige kennen das Geheimnis. Sie können jetzt zu ihr hin und sie töten. Morgen Nacht wird sie aufbrechen. Sie können sie sich holen, wenn sie den Berg verlässt, und sie überraschen. Auf dem Fagaras wachsen viele Eschen. Sie wird ihre Armee nach Westen schicken, um ihre Feinde zum Narren zu halten, aber sie und eine kleine Gruppe ihrer engsten Anhänger werden heimlich Richtung Norden reisen.«
Victoria hatte das Gefühl, als wäre sie unter Wasser getaucht worden. Alles wurde langsamer, trüber, und sie musste darum kämpfen, noch einen klaren Gedanken zu fassen. Sie könnte Max noch retten.
Sie könnte es schaffen.
»Sie können jetzt, in dieser wolkenverhangenen Nacht aufbrechen und wären morgen da. Und dann kehren Sie hierher zurück, wenn der Mond ausreichend hell ist. Schnell und einfach«, sagte er. »Ganz leicht. Und Sie könnten ihn befreien.«
Aber... nein. Sie kämpfte gegen die Bilder, die auf sie einstürmten, gegen seine einschmeichelnde Stimme, gegen den immer stärker werdenden Drang, sofort loszueilen. Sofort. Jetzt. Sie kämpfte gegen das Verlangen, sofort zur Tat zu schreiten, und konzentrierte sich: Sie hatte etwas zu erledigen. Heute Nacht, wenn der Mond schien, und wenn nicht, dann morgen Nacht.
»Es wird zu spät sein, wenn Sie es aufschieben. Sie wird für immer fort sein. Sie weiß um die herannahende Gefahr.«
Victoria musste sich sehr anstrengen, um seine Worte zu erfassen, doch dann stieß sie zum Kern vor und hakte trotz ihres wabernden, von Visionen umnebelten Verstands nach: »Die herannahende Gefahr?«
»Sie wissen, wovon ich spreche. Bisher ist das Portal nur ein schmaler Spalt. Aber wenn er größer wird und die dunklen Wesen ohne weiteres hindurchströmen, werden die Vampire vernichtet werden. Sie sind hier, um zu versuchen, das Unausweichliche zu verhindern.«
Ja. Ja, genau. Sie musste das Portal schließen.
Victoria blinzelte und konzentrierte sich auf das Gebäude hinter dem dämonischen Mann, wobei sie spürte, wie der Sog, in dem sie gefangen gewesen war, allmählich wieder nachließ. Es fühlte sich an, als würde sie langsam erwachen. »Ich bin hier, um das Portal zu schließen.«
»Das stimmt. Aber Sie begreifen nicht, dass es nicht die Sterblichen sind, derentwegen wir hier sind. Es sind die Untoten.« Seine Stimme blieb wunderbar sanft und einschmeichelnd. »Sie sind es, die uns Luzifers Reich streitig machen. Der Krieg zwischen uns tobt nun schon seit Jahrtausenden; jetzt wird er auf der Erde fortgeführt. Wenn Sie Lilith töten, ihre Festung zerstören, braucht dieser Krieg nicht fortgesetzt zu werden. Wir können in unser Reich zurückkehren und lassen die Menschheit in Frieden weiterleben. Verstehen Sie, Victoria Gardella? Sie können verhindern, dass dieser Krieg auf der Erde tobt, indem Sie Lilith töten. Wenn Sie noch heute aufbrechen. Heute Nacht.«
Sie spürte den Bann der Worte, die sich wie ein Schleier um sie woben, sie mit ihrer Süße, ihrer Logik, ihrer Versuchung förmlich wie in einem Kokon einhüllten.
»Und dann können Sie das Portal schließen. Wir brauchen es dann nicht mehr. Sie haben das, was man dazu braucht, nicht wahr? Tacheds Kugel. Natürlich wird es funktionieren, und Sie werden triumphieren. Sie haben Zeit, weil Sie die Kugel haben, das Schloss. Das Portal ist nur ein kleiner Spalt... Sie haben es heute ja gesehen. Sie haben gesehen, dass keine Gefahr davon ausgeht.«
Seine unwiderstehliche Stimme fuhr fort. »Aber er hat keine Zeit, Victoria Gardella. Er hat überhaupt keine Zeit. Sie wissen das. Sie merken, wie die Zeit verrinnt. Aber Sie können ihn retten. Die anderen... sie können das Portal schließen, während Sie fort sind.«
Das konnten sie.
Brim und Michalas. Sie würden es schaffen.
Aber sie war Illa Gardella.
Sie kam wieder zu sich und vertrieb den Nebel aus ihren Gedanken.
»Aber ich bin Illa Gardella«, sagte sie laut. »Und ich werde das Portal schließen«, fuhr sie fort, wobei ihre Stimme immer kräftiger wurde. Die Bilder wurden von der Kraft ihrer Worte vertrieben und lösten sich auf. Sie sah den Dämon an und sagte: »Ich werde das Portal schließen und dafür sorgen, dass Ihre Lakaien dahinter bleiben. Fort mit Ihnen und Ihren Versuchungen. Meinen Sie etwa, ich würde nicht merken, dass Sie mich in Versuchung führen wollen?«
Sie war gewappnet, als er die Lippen zu einer schrecklichen Parodie eines Lächelns verzog und dabei Zähne enthüllte, die in einem Gesicht, das sich zu einer hässlichen Fratze verzog, lang und spitz wurden. Als er seinen Arm schwang, einen Arm, der groß und kräftig geworden war, zog sie das Fläschchen mit Weihwasser aus der Tasche und entfernte den Korken mit dem Daumen.
Ein plötzlicher Windstoß riss sie mit seiner Heftigkeit fast um. Schwarzer Nebel wirbelte um sie herum, und sie musste gegen stürmische Böen ankämpfen, während sie versuchte, ihr Schwert zu ziehen.
Auf einmal sah sie Max vor sich stehen, und einen Moment lang hätte sie auch beinahe geglaubt, dass er es war. Er wirkte so echt, als er sie mit dunklen, durchdringenden Augen durch den wirbelnden Rauch hindurch anblickte.
Sie stemmte sich mit aller Macht gegen den Versuch, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, sie abzulenken. Es war schon einmal passiert - das erste Mal, als sie einem Dämon gegenübergestanden hatte. Er hatte die Gestalt von Phillip angenommen. Der Schock und die Verwirrung, plötzlich ihrem toten Ehemann gegenüberzustehen, wären fast ihr Untergang gewesen.
Aber sie kannte die raffinierten Schliche der Dämonen und riss ihren Blick von Max los, während sie das Schwert aus der Scheide zog. Sie schwang die Klinge und spritzte das Weihwasser auf das Gesicht des Dämons, während sie gegen den heftigen Wind kämpfte.
Er schrie auf, und der Sturm ließ so weit nach, dass Victoria zurückweichen und dem Wirbelwind entfliehen konnte. Als sie eine Backsteinmauer in ihrem Rücken spürte, zog sie eine weitere Flasche mit Weihwasser hervor, deren Inhalt sie auch in seine Richtung goss. Und während das Wasser spritzte, schwang sie das Schwert.
Tropfen, die vom Wind zurückgeworfen wurden, platschten ihr ins Gesicht, und ihr Schwert traf auf einen Widerstand. Max. Wieder. Dieses Mal stand blankes Entsetzen auf seinem Gesicht.
Mit einem lauten Schrei stieß sie zu und riss dann das Schwert hoch, wobei sie das Gefühl hatte, als würde sie Schlamm durchschneiden.
Und dann wurde plötzlich alles still.
Der Wind legte sich, der Nebel verschwand, und sie stand keuchend allein an einer Wand. Der Dämon war fort; ob sie ihn nun getötet oder nur vertrieben hatte, wusste sie nicht.
Doch als sie aufschaute, stellte sie fest, dass der Himmel sich verdunkelt hatte. Das bisschen Licht, das die untergehende Sonne noch verströmte, wurde von Wolken verhüllt, sodass es recht dunkel in dem Hof war, wo sie stand.
Heute Nacht konnten sie Tacheds Kugel nicht benutzen, denn der Mond würde verhüllt sein. Zumindest in der Hinsicht hatte der Dämon die Wahrheit gesagt.
Victorias Finger legten sich fester um das Heft ihres Schwertes. Sie schaute nach Süden, Richtung Muntii Fagaras. Wo Max war.
Sie schluckte, als der Drang aufzubrechen, zu ihm zu eilen, sich wieder ihrer bemächtigte. Wie viel konnte sie von dem, was Adolphus ihr erzählt hatte, glauben?
Etwas? Oder gar nichts?
Er hatte die Wahrheit gesagt, als er behauptete, Lilith wäre sein Feind. Es würde ihm von Nutzen sein, wenn Lilith tot wäre...
Victoria stand zitternd da und kämpfte gegen das Verlangen aufzubrechen, als Michalas sie fand.
»Ich habe keine Spur von ihm gesehen«, sagte er und schaute sie neugierig an.
»Das macht nichts«, erwiderte sie, nun wieder ganz bei sich, während sie sich fragte, wie lange sie hier mit dem Dämon allein gewesen war. »Ich habe ihn gefunden. Er ist jetzt erst einmal weg.« Sie schaute nach oben zu den Wolken. »Heute Nacht können wir nichts tun.«
Und dann kehrte sie widerwillig in die Wirtschaft zurück, wo sie eine weitere untätige Nacht verbringen würde, während Max litt.
Und Sebastian möglicherweise mit ihm.