Kapitel 5
In dem sich Max auf den Weg nach Hause macht
Draußen wurden sie nicht wirklich weniger von den schweren schwarzen Schatten und dem alles vereinnahmenden wirbelnden Nebel bedrängt, aber es herrschte hier kein so heftiger Sturm wie im Innern des kleinen Gebäudes. Brim und Michalas hatten wohl in der Nähe gewartet, denn sobald Victoria und die anderen durch die Tür kamen, halfen sie ihnen hoch.
Doch hier draußen hatten die Schattenkreaturen mit den Krallen und den brennenden Augen mehr Platz, um sich mit gebleckten Fangzähnen und reißenden Klauen auf sie zu stürzen. Eine packte Victoria an den Schultern und hob sie vom Boden hoch. Sie ließ Wayren los und griff nach ihrem Schwert.
Die Klinge fuhr von unten durch den Dämon, und sie spürte wieder diese übelkeiterregende Kälte. Trotzdem fand sie ihr Ziel. Als sie rücklings ins platt getrampelte Gras fiel und aufschaute, sah sie den Mond hinter dem wirbelnden Nebel schimmern.
Wenn sie es schafften, aus dem Friedhof herauszukommen, dann wären sie in Sicherheit. Oder zumindest wäre es nicht mehr ganz so gefährlich.
Das hoffte sie zumindest.
Max hielt Wayren jetzt allein. Er hatte sich über sie gebeugt und kehrte der Bedrohung von oben den Rücken, während Brim und Victoria die Dämonen abwehrten.
Wenn sie es schafften, sich den Weg bis zum Tor freizukämpfen ... würde dann die Einfriedung dafür sorgen, dass der dämonische Nebel ihnen nicht folgen konnte?
Sebastian und Michalas hatten die Geistesgegenwart, die Tür zum Mausoleum zu schließen, und zusammen stemmten sie sich dagegen, um sie zu verriegeln. Der Wind ließ nach, und es drangen keine Schatten mehr nach draußen, doch da war immer noch ein schwacher Faden blauen Rauches, der sich hartnäckig durch einen Spalt drängte. Der Nebel lichtete sich ein wenig und wirbelte nicht mehr so stark, sodass sie einander jetzt zumindest sehen konnten. Blut strömte über Brims Wange, und auf Sebastians einer Gesichtshälfte war ein langer roter Striemen.
»Hier entlang«, rief Victoria, während sie sich das Haar aus dem Gesicht strich. Sie rannte auf das Friedhofstor zu, um möglichst weit weg zu sein, wenn der Sturm es schaffte, die Tür des Mausoleums aufzubrechen. Die Tür zitterte und bebte in den Angeln.
Der Wind gewann wieder an Stärke, als sie beim Tor ankamen, und eine schwarze Wolke hüllte sie ein. Victoria hörte das wütende Kreischen der dämonischen Elemente, und sie drehte sich zu Brim um. »Weihwasser!«, rief sie.
Im Laufen steckte Brim eine Hand in die Tasche seiner Jacke und zog eine Flasche und ein großes silbernes Kreuz hervor. Der Sturm tobte mit aller Heftigkeit weiter, sodass ein weiterer dicker Ast abbrach und zu Boden krachte. Das Geschoss, das annähernd mannsdick war, verfehlte Brim nur knapp und streifte seine Schulter. Er wollte ihr die Flasche reichen, aber sie drehte sich zu Max um, der sich immer noch über Wayren beugte.
Victorias Haar fegte wie eine Waffe um ihr Gesicht, und die schwarze Bö ließ sie beinahe gegen die Mauer stürzen. Etwas Warmes lief ihr über die Wange und in den Nacken. Sie musste Wayren hier rausholen, und es gab nur einen Weg, ihre Flucht sicherzustellen. Sie ergriff mit beiden Händen Max' Gesicht und hob es, damit er ihr in die Augen schaute. »Nimm sie mit. Nimm Brim mit. Geh. Wir werden sie ablenken.«
Sie schob ihn zu einem ausladenden Busch, und er glitt mit seiner Bürde darunter. Vorher bedachte er sie aber noch mit einem Blick, der besagte: Sieh dich vor.
Bewaffnet mit Weihwasser schloss Brim sich ihm an, und Victoria, Sebastian und Michalas begannen, sich langsam von dem Busch und dem Tor zu entfernen, während sie gegen die Mächte des Bösen kämpften.
Victoria wusste nicht, welcher Art das Wahrnehmungsvermögen des Bösen war, aber zumindest die herabstoßenden Schatten schienen in der Lage zu sein, zu erkennen, wo sie angreifen mussten. Wenn sie deren Aufmerksamkeit an sich binden könnten, würden Brim und Max den Friedhof mit Wayren unbehelligt verlassen können.
Max sah Victoria hinterher, als sie davonschlüpfte. Ihr Gesicht war mit Blut beschmiert, und Haare klebten an den blutigen Stellen. Im Rücken war ihr Hemd dunkel von noch mehr Blut und hing in Fetzen herunter.
Er riss den Blick von Victoria los und richtete ihn auf Wayren, die sich mehr als einmal in seinen Armen gerührt hatte. Dann sah er Brim an, der neben ihm hockte und zum ersten Mal keine Lust mehr auf einen Kampf zu haben schien.
Wayren musste aus der Reichweite der Dämonen, die ihr alle Macht und Kraft raubten, geschafft werden, ehe es zu spät war. Es bestand immer noch die Möglichkeit, sie zu retten; denn es waren wieder Lebenszeichen bei ihr zu erkennen, nachdem sie sich nicht mehr im Mausoleum befand.
Wenn Victorias Plan gelang, die Dämonen durch einen Kampf abzulenken, würden sie trotzdem nur ganz wenig Zeit haben, um zu den auf der anderen Seite des hängenden Tores wartenden Pferden zu hetzen.
Max presste die Lippen zusammen. Er wusste, warum sie es ihm aufgetragen hatte, Wayren wegzubringen. Er war der Schwächste in der Gruppe, weil er keinen Schutz mehr durch die vis bulla genoss.
Früher hätte Victoria nie versucht, ihn zu beschützen.
Und dann hatte sie ihm noch Brim zur Seite gestellt, der nicht nur die Gegenwart von Vampiren spürte, sondern auch von Dämonen.
Welch eine Kriegerin — und Anführerin — war sie geworden.
Das Ganze versetzte ihm einen Stich. Wut, Verzweiflung. Selbstmitleid.
Dann merkte er, dass der richtige Moment gekommen war. Er warf der Frau mit der tödlichen Klinge und der unpraktischen Masse langer, dunkler Haare einen letzten Blick zu, ehe er unter dem Busch hervorgekrabbelt kam, Wayren an die Brust gedrückt. Ohne auf die schmerzhaften Kratzer auf seinem Rücken zu achten, rannte er mit gesenktem Kopf und Wayren mit seinem Körper schützend Richtung Tor, während die dämonischen Kreaturen sich immer wieder herabstürzten.
Brim war dicht hinter ihm, und obwohl Max es nicht wagte, über die Schulter nach hinten zu schauen, während er auf das Tor zu stolperte, wusste er, dass der große schwarze Mann die ganze Zeit mit seinem Schwert ausholte und zustieß, während er ihnen den Weg mit Weihwasser frei machte.
Das Eisentor schimmerte im Licht des Mondes und der Sterne, die jetzt, wo sie nicht mehr vom nebligen schwarzen Rauch verhüllt wurden, heller strahlten. Mit einem Satz sprang er darüber hinweg und nutzte dabei die Qigong-Fähigkeiten, die Kritanu ihn gelehrt hatte.
Sobald Max über das schief hängende Tor hinweg war, hievte er Wayren sofort auf sein Pferd und löste die Zügel, die um einen Ast gewickelt waren. Ein schneller Blick nach hinten sagte ihm, dass auch Brim es bis zum Tor geschafft hatte. Doch gerade als er sich in den Sattel schwang, musste er voller Entsetzen mit ansehen, wie Brim, der bereits einen Fuß auf das Gitter gesetzt hatte, plötzlich von den schwarzen Schatten umzingelt wurde. Mit schimmernden Klauen und hellroten Augen stürzten sie sich auf ihn, sodass der Mann in die Knie ging und von den Schatten verschluckt wurde.
Allmächtiger. Noch während er alles beobachtete, wurde ihm klar, dass er nicht zurück konnte; denn er musste Wayren in Sicherheit bringen. Mit jeder Faser seines Seins wollte er zurück, flehte er förmlich darum, zurückzugehen und zu helfen... Brim zu retten... und Victoria. Victoria.
Sie würde die Nächste sein.
Trotzdem wusste er, was er zu tun hatte. Er hatte Victoria häufig genug Vorträge darüber gehalten.
Du darfst nicht mehr nur an dich selbst denken, an das, was du brauchst und willst. Du musst die weitreichenden Folgen deines Handelns erkennen.
Und das war der Grund, warum er das Pferd herumreißen, ihm die Fersen in die Flanken drücken und Hals über Kopf zurück in die Stadt reiten würde, zurück zu dem Haus, in dem Kritanu wartete... und wo Wayren in Sicherheit sein würde.
Und das war auch der Grund, warum er London verlassen musste.
Er schob Wayren von sich, sodass sie auf den Hals des Pferdes sackte, und saß mit einem Satz ab. Er konnte das nicht!
Zwanzig bebende Laufschritte führten ihn zum Friedhofstor zurück, wo sich die schwarzen Schatten immer wieder auf Brim stürzten. Als er den Schwertarm hob, durchzuckte ihn rasender Schmerz, und er merkte, dass ihm das Blut daran herunterströmte. Mit dröhnenden Ohren erreichte er das schiefe Tor gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sich Brims Arm aus dem windenden Schwarz erhob. Seine schimmernde Klinge fuhr durch die Luft, als Max sich ins Getümmel stürzte, sodass sich einer seiner Angreifer in dunklen Nebel auflöste.
Er holte mit seinem Schwert aus und zielte auf den Halsbereich eines der körperlosen Wesen. Die Klinge fuhr durch den bösen schwarzen Schatten, als wäre es Nebel, und die plötzliche Kälte, die ihn dabei durchzuckte, lähmte ihn.
Max taumelte, und seine Arme zitterten ob der plötzlichen überwältigenden Kälte. Er kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an, als er gegen die Mauer sackte. Trotzdem hob er wieder sein Schwert und spürte einen schrecklichen Schmerz in seinem ganzen Arm, als sich noch ein dämonischer Schatten auf ihn stürzte. Scharfe Klauen gruben sich von hinten an der gleichen Stelle in seine Schulter, die bereits verletzt war, und ein lauter Schmerzensschrei entrang sich seiner Kehle, als er sich wieder umdrehte. Das Schwert war schwer, aber Max zielte genau. Er wirbelte herum und ließ die Klinge durch das Wesen sausen. Noch im Zurückweichen sah er, wie es sich in dunklen, zischenden Schwaden auflöste.
Der anstrengende Kampf hatte ihn atemlos gemacht, und obwohl er vor Schmerzen fast nicht mehr sehen konnte, stürzte Max sich wieder auf die Schatten. Und obzwar Brim es nicht schaffte, vom Boden hochzukommen, wehrte er die nicht enden wollende Masse von Schatten ab, indem er immer wieder ausholte. Trotz des Blutes, das an ihm herunterströmte und bei jeder Bewegung durch die Luft spritzte, kämpfte Max unermüdlich weiter... allerdings nicht so gewandt und kräftig wie Vioget, dessen Klinge plötzlich neben ihm auftauchte und wie Sterne in der Nacht blitzte und funkelte.
Der blonde Mann war wie die leichte Kavallerie herbeigeeilt gekommen und hatte sich in das Kampfgetümmel gestürzt. Mit schnellen, sicheren Bewegungen focht er gegen den nicht nachlassenden Ansturm von Schatten. Max' Bewegungen dagegen waren langsamer und nicht so kraftvoll, obwohl auch sie mit tödlicher Präzision ausgeführt wurden. Vioget kämpfte sich bis zu ihm durch und rief ihm zu: »Gehen Sie! Nehmen Sie sie mit und gehen Sie.«
Sein hübsches Gesicht war blutüberströmt, doch er hatte die Lippen entschlossen aufeinandergepresst, und seine Miene strahlte auch ein bisschen Befriedigung aus. Nach so vielen Jahren der Enthaltsamkeit hatte er seine Liebe zum Kampf neu entdeckt.
Max vollführte einen letzten machtvollen Hieb und rief: »Bringen Sie sie zurück. Dieses Mal.«
Ihre Blicke trafen sich, und aufflammende Wut ließ die Befriedigung verschwinden, die eben noch auf Viogets Gesicht gelegen hatte. Er wusste, dass Max auf jenen Vorfall anspielte, als Viogets Großvater, der Vampir Beauregard, Victoria fast in einen Vampir verwandelt hätte - und Max derjenige gewesen war, der sie zurückgebracht hatte. Sebastian allein hätte es nicht geschafft.
Dann wirbelte Max herum und wich einem weiteren herabstürzenden Schatten aus, indem er sich hinkauerte. Er stieß mit seinem Schwert nach oben und verfehlte den Schatten wieder. Verdammt! Er begann müde zu werden, und er spürte, wie die übelkeiterregende, lähmende Kälte ihn taumeln ließ. Fast wäre er gestürzt, und er sah die roten Augen eines Dämons auf sich zukommen, während er versuchte, wieder die Kontrolle über sein Schwert zu erlangen. Doch dann war Sebastian mit seiner schimmernden Klinge da und rettete ihm schon wieder sein verdammtes Leben.
Als sich das Wesen in einer widerlich stinkenden Wolke auflöste, rannte Max mit unsicheren Schritten zu seinem Pferd, auf dem immer noch die in sich zusammengesackte Wayren hockte. Eine neblige Schwade setzte ihm kalt und moderig hinterher.
Verdammt. Verdammt. Hatten die Dämonen durch sein Zögern, durch seine Rückkehr die Gelegenheit bekommen, Wayren zu finden?
Max setzte seine Qigong-Fähigkeiten ein, um mit einem Sprung förmlich auf den Rücken seines Pferdes zu fliegen. Er nahm die Zügel auf, legte einen Arm um sie und zog sie an sich, um dann dem Pferd die Absätze in die Flanken zu bohren. Sein Pferd machte einen Satz nach vorn, und Max beugte sich tief über den Hals, wobei er kurz die Augen schloss, als der Schmerz durch seinen Körper schoss.
Sein Pferd hatte nur ein oder zwei Galoppsprünge gemacht, als er über die Schulter einen Blick nach hinten warf.
Er sah, dass die wirbelnde, schwarze Wolke bis auf ein paar fadenförmige Schwaden immer noch irgendwie von der Friedhofsmauer aufgehalten wurde. Er zog die Zügel an und ignorierte den grässlichen Schmerz in Rücken und Armen. Das panische Pferd bäumte sich auf, es wollte lospreschen... doch Max riss es herum, sodass er die Szene, die sich auf dem Friedhof abspielte, genau sehen konnte.
Die schwarze Wolke schwoll im Wechsel wirbelnd an und zog sich wieder zusammen. Sie hing tief unter dem Nachthimmel, sodass sie von Mond und Sternen beleuchtet wurde. Langsam, als würde sie suchen, quoll sie aus dem Friedhof heraus. Max hörte, wie der Wind zunahm, unheimlich zu brausen begann ... Die Wolke suchte etwas. Sie wusste, dass Wayren nicht mehr da war.
Zum Teufel noch mal. Etwas Ähnliches hatte er noch nie erlebt oder gesehen. Eine eisige Kälte machte sich in ihm breit, während er beobachtete, was sich da abspielte.
Etwas unerklärlich Böses brannte da. Und er fürchtete, dass dieses Etwas alles verändern würde.
In dem Moment rührte sich Wayren. Sie bewegte sich und stöhnte, sodass Max sie wieder anschaute.
»Wayren«, sagte er, als sie den Kopf hob, als würde sie versuchen, aus einem Traum zu erwachen.
Ihre Lider flatterten, doch ihre Augen blieben geschlossen, und sie schien noch tiefer in seine Arme zu sinken. Im silbrigen Licht des Mondes wirkte ihr Gesicht kalkweiß, und obwohl ihre Züge angespannt waren, erinnerte ihre Haut immer noch an Porzellan. Sie war krank und von dieser durchdringenden Bosheit stark geschwächt. Er musste sie von hier wegschaffen, sonst würde sie nicht überleben.
Max warf noch einen letzten Blick auf den Friedhof, dann trieb er sein Pferd wieder an, und es ging los.
Über den Dächern Londons war bereits die Morgendämmerung zu erkennen, als Max beim Stadthaus ankam. Wayren hatte sich bewegt und war wach genug geworden, um wieder gegen ihn zu sinken und mit schwachen Fingern in die Mähne des Pferdes zu greifen. Sein vom Blutverlust geschwächter Körper schmerzte bei jeder Bewegung. Schwarze Punkte und lange Schatten tanzten vor seinen Augen. Jeder Schwerthieb, jeder Streich mit der Klinge hatte sich in seine Erinnerung eingebrannt. Jedes Straucheln, jeder Hieb, der ins Leere ging, jedes Mal, wenn er zu langsam gewesen war... zu schwach.
Er wurde schneller müde, verletzte sich schwerer und blutete zu stark.
Ihre Entscheidung, ihn wegzuschicken, war richtig gewesen.
Er ritt direkt in den kleinen Stall und donnerte mit der Faust gegen die Wand, um den Stallburschen zu wecken, während er absaß. Es war keiner da, der hätte sehen können, wie die Beine fast unter ihm nachgaben und er taumelte, ehe er mit Wayren auf dem Arm sein Gleichgewicht zurückgewann.
Oliver, der stämmige, rothaarige junge Stallbursche, trat zu ihm, und Max warf ihm die Zügel zu. Er brauchte keine Erklärungen abzugeben.
Drinnen im Haus wartete Kritanu. An den Lichtern in den Fenstern erkannte Max, dass der alte Mann immer noch, seitdem er ihnen Brim und Michalas hinterhergeschickt hatte, Wache hielt.
Worte waren überflüssig. Der geschwächte Zustand, in dem Wayren sich befand, sprach Bände. Zwar versuchte sie zu stehen, musste sich aber bei Max anlehnen, um nicht zusammenzubrechen.
»Ich habe Ylito eine Nachricht geschickt«, erklärte Kritanu mit leiser Stimme, während er Max half, es Wayren in einem Sessel bequem zu machen. »Die Tauben fliegen schnell. Vielleicht hören wir morgen schon etwas, wenn er irgendetwas weiß.«
Die Vögel waren wirklich schnell, und Max wusste, dass das an der gleichen heiligen Kraft lag, die auch die Venatoren durch ihre vis bullae beseelte, welche sie schützte und stärkte. Ylito, der Einsiedler, der sich mit Kräuterkunde, Alchemie und anderen spirituellen Dingen beschäftigte, befand sich wahrscheinlich noch in Rom. Doch mit Hilfe der Brieftauben könnte er ihnen alles mitteilen, was Wayren unter Umständen half.
»Max«, sagte Wayren in dem Moment mit schwacher Stimme. »Setz dich.« Ihre auf dem Schoss liegende Hand bewegte sich kurz, als wäre sie zu schwach, um die Geste in ihrer Gänze auszuführen.
Er wollte sich nicht hinsetzen. Er wollte wieder los, sich irgendwo ein frisches Pferd besorgen, um dann durch die Stadt zu rasen, die Themse zu überqueren und wieder zu diesem dämonischen Friedhof zu gelangen, damit er Victoria in Sicherheit bringen konnte.
Verdammt. Was für ein elend nutzloser Mistkerl er geworden war.
Schwach. Unschlüssig. Lädiert.
»Setz dich«, sagte Wayren noch einmal, aber jetzt mit festerer Stimme. »Ehe du umkippst.«
Kritanu, der dem Butler etwas abseits leise Anweisungen gab, drehte sich zu dem großen Schrank um, der im kleinen Salon stand. Etwas unbeholfen versuchte er mit seiner einen, verbliebenen Hand das Schloss zu öffnen, während er fragte: »Was ist passiert? Was ist mit Victoria und den anderen?«
Max zuckte mit den Achseln und spürte, wie wieder ein stechender Schmerz durch seine Schulter schoss. Seine Knie zitterten. Wenn er sich nicht bald setzte, würden die Beine unter ihm nachgeben. Doch wenn er sich ergab und hinsetzte, würde er nicht wieder aufstehen. »Sie kämpfen gegen die Dämonen, die Wayren geholt haben. Die anderen haben sie aufgehalten, damit wir flüchten konnten.«
Kritanu, der immer noch am Schrank stand, drehte sich um, und Max sah, dass er die Gardella-Familienbibel in der Hand hielt. Es war ein altes Buch aus gelbem, vom Alter brüchigem Papier, in dem die Namen derer standen, die das geistige Erbe der Gardellas angetreten hatten - sowohl jene, die von Geburt an Venatoren gewesen waren wie Victoria, als auch jene, welche ihrer Berufung zum Venator gefolgt waren wie zum Beispiel Max.
Der ein Venator gewesen war.
Verfluchte Lilith.
Sie hatte ihm alles genommen.
Max gab sich geschlagen. Die Beine gaben unter ihm nach, und er sank in einen Sessel, auf dessen Lehne er sich abstützte, um der Bewegung zumindest einen Hauch von Anmut zu verleihen.
Er beobachtete, wie Kritanu die Bibel Wayren brachte und sie ihr aufgeschlagen auf den Schoss legte. Das Buch ragte über ihre schlanken Beine und das dreckige, zerrissene Kleid hinweg, sodass sie noch kleiner aussah. Sie legte die Hände darauf, schloss die müden Augen, und dann konnte Max sehen, wie wieder Farbe in ihr Gesicht strömte.
Ihre blassen Lippen bewegten sich stumm und nahmen langsam eine rosige Färbung an. Ihre Hände hörten auf zu zittern, und die Anspannung in ihrem Gesicht ließ nach.
Plötzlich öffnete sie die Augen und sah ihn an. »Danke, Max. Ich weiß, wie schwer es für dich war, die anderen zu verlassen.«
»Es wurde mir aufgetragen.«
Sie öffnete den Mund, als wollte sie noch etwas sagen. Doch dann hielt sie inne und legte den Kopf zur Seite, wie es Myza immer tat. Ihre Augen schimmerten hell, und sie wechselte einen Blick mit Kritanu, der von Charley eine Schüssel mit Wasser in Empfang genommen und seinen verstümmelten Arm darum geschlungen hatte. In der Hand hielt er ein Tuch. Es war so nass, dass es tropfte, und es verströmte einen stechenden Geruch.
Wortlos nahm Max das Tuch und vergrub sein Gesicht darin, wobei er den Kräutersud einatmete, in den es getaucht worden war, und sich Blut und Dreck von der Haut wischte. Jeder einzelne Muskel in seinem Körper tat weh, trotzdem waren sie angespannt und schrien danach, benutzt zu werden. Sein ganzer Körper war in Bereitschaft.
Er konnte einfach nicht hier sitzen und warten.
Und immer weiter warten.
Er rieb sich das Gesicht noch fester mit dem Tuch.
»Thrush ist zurückgekommen.«
Bei Wayrens leisen Worten ließ Max die Hände sinken und hob das Gesicht aus dem feuchten Tuch, das mittlerweile abgekühlt war. Dann hörte er ein leises Klopfen an der Scheibe. Aber Kritanu stand bereits davor, entriegelte das Fenster und öffnete es.
Wenn Thrush tatsächlich zurückgekehrt war...
Max wurde ganz kalt vor Nervosität.
»Ich kann keine Nachricht finden.« Mit nur einer Hand fiel es Kritanu schwer, das kleine Röhrchen, welches am Bein des Vogels angebracht war, zu entfernen. Aber statt Max die Taube zu bringen, gab er den Vogel Wayren.
Verflucht. Sah er so schlecht aus?
Wayren schaute von der Taube auf. »Da ist keine Nachricht.«
Keine Nachricht.
Max wollte aufstehen, aber Wayren warf ihm einen finsteren Blick zu und hob eine Hand. Die Hand war erstaunlich ruhig. »Beruhige dich. Thrush würde Myza nie alleinlassen. Sie hatten einfach nichts, was sie als Nachricht hätten schicken können.«
War er so verdammt leicht zu durchschauen?
Er blieb also sitzen und versuchte, nicht zum Fenster zu schauen, versuchte, nicht den Eindruck zu erwecken, als würde jedes knackende Dielenbrett im Haus ihn sofort in Alarmbereitschaft versetzen.
»Max, es ist an der Zeit, dass du zu den Venatoren zurückkehrst.«
Trotz seiner Schmerzen und der Furcht, die ihn beherrschte, hörte und verstand Max Wayrens Worte. »Das ist unmöglich«, sagte er und versuchte dabei noch nicht einmal, die Bitterkeit zu verbergen, die ihn erfüllte. Lilith hatte dafür gesorgt, dass er nie wieder ein Venator würde werden können, als er den Bann brach, mit dem sie ihn an sich gefesselt hatte. Ihrem Biss war eine bestimmte Flüssigkeit beigemengt gewesen, welche ihn an sie gebunden und sein Blut besudelt hatte. »Das weißt du. Und ohne vis bin ich nur eine Belastung.«
»Ja, genau. Heute Nacht warst du eine riesengroße Belastung«, meinte Wayren trocken.
Max hob den Blick, doch seine scharfe Erwiderung blieb unausgesprochen, als er ihr in die Augen sah. Und trotzdem. »Mein Blut ist von Lilith besudelt worden. Ich würde die Prüfung noch nicht einmal bestehen, wenn ich es versuchen wollte.«
»Du willst es nicht?«
Wieder eins sein? In seinem ganzen Sein?
Und trotzdem... nie wieder.
»Ich lasse mich nicht noch einmal darauf ein.«
Wayren blickte ihn unverwandt an. »Ylito hat dein Blut untersucht«, meinte sie, als hätte er gar nichts gesagt.
»Mein Blut?« Dann erinnerte er sich. Er hatte sich damals in Rom den Arm aufgeschlitzt, weil Victoria Blut gebraucht hatte, um gegen Beauregards Blut anzukämpfen, das versuchte, sie in eine Untote zu verwandeln. Aber weil es nicht von einem Gardella stammte, war es nutzlos gewesen. »Ylito hat es aufbewahrt?«
Wayren nickte. »Deshalb habe ich dich damals um dein Blut gebeten, obwohl wir nicht davon ausgingen, dass wir es für Victoria benutzen könnten. Ich bat Ylito, es zu untersuchen, um festzustellen, ob Lilith dein Blut wirklich besudelt hatte. Oder ob es nur eine Lüge war.«
Er fragte nicht. Max presste die Lippen aufeinander.
Die Prüfung, die man über sich ergehen lassen musste, wenn man als Nicht-Angehöriger der Familie Gardella ein Venator werden wollte, war eine Sache auf Leben und Tod. Beim ersten Mal, als Max sich diesem Test unterworfen hatte, war es ihm egal gewesen, ob er dabei starb.
Im Grunde hatte er sich sogar danach gesehnt zu sterben. Seit Jahren schon.
Aber jetzt?
Er hatte keine Angst davor.
Er wollte es einfach nicht. Noch nicht.
Er sah Wayren an und erkannte die Antwort auf seine unausgesprochene Frage. »Ylito meint, es haftet kein Makel an dem Blut«, erklärte sie und bestätigte damit seine Gedanken.
In dem Moment nahmen seine scharfen Ohren ein neues Geräusch wahr, das von draußen zu ihm drang. Max sprang auf. Er ignorierte den Schwindel, der ihn erfasste, sowie das warme Blut, das ihm wieder über den Arm lief, und lief zur Eingangshalle.
Als er die Haustür aufriss, sah er mehrere Gestalten, die von ihren Pferden glitten. Da war der große, stämmige Brim, der sich zwar langsam bewegte, aber Gott sei Dank keine Hilfe brauchte, der Lockenkopf von Michalas...
Und dann war da noch jemand, der mit dem Rücken zu ihm stand und einen schlaffen Körper von einem der Pferde zog.
Max eilte die Treppe hinunter, ohne sich anmerken zu lassen, wie eilig er es hatte... wie sehr ihn die Angst gefangen hielt.
Die Gestalt drehte sich um und rückte dabei die Last zurecht, die sie hielt. Da erkannte Max, dass es Victoria war - mit blutverschmiertem, grimmigem Gesicht, die Sebastian half, sich Richtung Haus zu schleppen.