Kapitel 23

In dem Victoria eine höchst unangenehme Überraschung erlebt

 

Victoria verlor Max aus den Augen, als sie sich tiefer in das Höhlensystem vorarbeitete.

Brim kämpfte mit Schwert und Pflock an ihrer Seite, und sie erhaschte einen kurzen Blick auf Michalas' rotblonde Locken, ehe sie sich abwenden und wieder auf ihre eigenen Gegner konzentrieren musste.

Ihr Nacken war so kalt, als würde er mit Eis eingerieben werden. Ihr Rücken brannte noch immer vor Schmerzen wegen der Schnitte, die ihr letzte Nacht von den Klauen der Dämonen beigebracht worden waren, aber je mehr sie sich bewegte, desto mehr ließen sie nach, bis sie nur noch ein Pochen spürte.

Sie konnte und würde sich nicht von ihrem Ziel abbringen lassen: Lilith.

Und sobald sich die Gelegenheit dazu ergab, bewegte sie sich an den Rand des Getümmels, packte einen Vampir am Hals, der das Pech hatte, gerade in greifbarer Nähe zu sein, riss ihn mit und schleuderte ihn gegen die Wand in einer kleinen natürlichen Nische im Fels. »Wo ist Lilith?«, fragte sie und setzte ihm den Pflock auf die Brust.

»Da«, sagte er ohne das geringste Zögern und deutete den Gang entlang, in dem sie sich befanden. Er schaute sie mit leicht schielenden, rot glühenden Schweinsäuglein an.

»Und ihr Gefangener? Beauregards Enkel? Wo ist der?«

»Auch da.«

»Bring mich hin, und ich werde dich verschonen. Versuch mich zu täuschen, und du bist tot.« Er würde wohl ohnehin sterben, aber darüber konnte sie sich später Gedanken machen.

Er nickte, und sie ließ ihn los. Den Pflock dicht an seinem Rücken, schob sie ihn vor sich her und folgte ihm durch den Gang.

Ihr Instinkt sagte ihr, dass er nur daran interessiert war, seinen eigenen Hals zu retten — wie geringfügig diese Möglichkeit auch sein mochte —, und als sie weiter vordrangen und das Kampfgeschehen hinter sich ließen, bemerkte sie Einzelheiten, die diesen Verdacht bestärkten: glattere Wände, die in regelmäßigen Abständen mit Fackeln versehen waren, was Victoria interessant fand. Denn sie wusste, dass Vampire im Dunkeln sehen konnten. Die Wände gingen über abgerundete Kanten in eine gewölbte Decke über, und der Boden, auf dem noch nicht einmal Steine herumlagen, war sauber. Sie bogen um eine letzte Ecke und standen vor einer großen Holztür. Auf beiden Seiten brannten Fackeln. Die Tür wirkte wie ein angemessener Eingang zu Liliths Gemächern, doch die Fackeln kamen Victoria immer noch seltsam vor. Vielleicht sollten sie eher für Wärme denn für Licht sorgen, dachte Victoria, die sich daran erinnerte, dass in Liliths Umgebung immer Feuer zu brennen schienen.

Sie hielt an, drehte den Vampir zu sich und stieß ihn wieder

gegen die Wand. »Sind Wächter da drin? Ist sie in dem Raum? Sag die Wahrheit, sonst stirbst du hier an Ort und Stelle.«

»Vier Wächter, die sich immer in den Ecken des Raumes verbergen. Sie soll da drin sein, soweit ich weiß.«

»Wird sie mitbekommen haben, dass da vorne gekämpft wird?«, fragte Victoria. »Gibt es einen anderen Weg raus aus dem Raum?«

Er schluckte mühsam, während ihre Hand noch immer seinen Hals umklammerte. »Ich weiß es nicht. Und ich weiß auch nicht, ob es einen anderen Weg nach draußen gibt.«

»Ruf zwei der Wächter nach draußen. Jetzt. Gib ihnen keinen Hinweis, dass ich hier bin.« Sie schob ihn zur Tür und überlegte, ob sie ihn wirklich gehen lassen sollte. Es ging ihr gegen den Strich, aber vielleicht sollte sie großzügig sein, wenn er sie wirklich zu Lilith geführt hatte.

Der Vampir klopfte an die Tür, während sie danebenstand und alles beobachtete. Auch wenn er sie verraten sollte, war sie im Vorteil, wenn die Wächter zur Tür herausgerannt kamen. Und fast hoffte sie, dass er es tat, denn dann würde sie nicht darüber entscheiden müssen, ob sie ihn nun umbrachte oder nicht.

Aber er tat genau das, was sie ihm befohlen hatte, und als die beiden Wächtervampire mit den blitzenden rosafarbenen Augen zur Tür herauskamen und sie hinter sich schlossen, griff Victoria an. Sie stieß sich von der Wand ab und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen den ersten Wächter. Durch die Wucht des Aufpralls stieß er mit dem anderen Vampir zusammen, und beide verloren das Gleichgewicht. Sie nutzte die Gelegenheit, um dem Untoten, der näher bei ihr stand, den Pflock in die Brust zu stoßen.

Doch als sie sich zu dem anderen umdrehte, erwartete der sie bereits und stieß sie mit so viel Kraft gegen die Tür, dass diese in ihren Angeln bebte. Das dumpfe Klappern wiederholte sich, als er ihr die Faust ins Gesicht schlug, sodass ihr Kopf zurückflog und gegen die Metallbänder der Tür krachte. Heftiger Schmerz zuckte durch ihren Hinterkopf, und Victoria spürte, wie ihre Beine nachgeben wollten und ihr Magen sich zusammenzog. Vor ihren Augen tanzten Sterne, deren Strahlen mit den rotorangefarbenen Flammen der Fackeln neben der Tür, die ihr unangenehm nah waren, wetteiferte.

Finger schlossen sich um ihre Kehle, und sie keuchte, um im nächsten Moment ihren ganzen Körper schlaff werden zu lassen, während sie den Pflock hinter dem Rücken versteckt hielt. Das Kruzifix um ihren Hals ließ den Vampir nur kurz zusammenzucken. Es musste wohl ein sehr mächtiger Vampir sein. Wahrend er sie hielt, rutschte der Anhänger unter ihrem Hemd hervor, und er zerrte an der Kette. Sie riss, und das Kruzifix fiel auf den Boden.

Seine Hand drückte immer noch zu, sodass sie kaum Luft bekam. Sie zählte und behielt weiter ihre schlaffe Haltung bei, zwang sich dazu, sich nicht zu rühren und auch nicht das Bewusstsein zu verlieren.

Endlich, als sie es nicht mehr länger aushalten konnte - das Pochen in ihrem Kopf, den Sauerstoffmangel, die Berührung seiner untoten Hand —, lockerte er seinen Griff etwas. Sie schnappte nach Luft, riss ihr Knie hoch und trat ihm dann mit dem Fuß in den Unterleib.

Überrascht ließ er sie los, und sie sackte zu Boden, wo sie keuchend Luft holte und versuchte, wieder einen klaren Blick zu bekommen. Der Vampir stand über ihr und wollte sich auf sie stürzen, als ihre Hand mit dem Pflock hochkam. Der Pflock traf ihn mitten ins Herz, als er sich über sie beugte.

Er erstarrte und zerstob in einer widerlich stinkenden Wolke aus Asche, die auf sie herabrieselte.

Nachdem sie sich mühsam wieder aufgerafft hatte, stellte Victoria fest, dass der Vampir, den sie gezwungen hatte, ihr zu helfen, verschwunden war. Sie hoffte nur, dass er keine Verstärkung holte.

In ihrem Kopf dröhnte es, und sie spürte immer noch die Nachwirkungen der Finger, die so fest um ihren Hals gelegen hatten, dass ihr die Luft abgeschnürt worden war. Aber jetzt stand sie wieder, und sie drückte den Rücken durch. Das war noch gar nichts gegen das, was sie hinter der Tür erwartete, wenn sie Lilith gegenübertrat.

Sie hörte einen Schrei hinter der Tür und wappnete sich, indem sie eine der Fackeln aus der Halterung nahm. Gleich würde jemand durch die Tür kommen.

Sie hatte Recht gehabt. Sekunden später sprang die Tür auf, und sie schleuderte die Fackel dem Ersten entgegen, der durch sie hindurchkam. Feuer konnte Vampiren nicht wirklich etwas anhaben, aber es diente zur Ablenkung, denn es erfasste seine Haare und die Kleidung, sodass sie ihren Pflock dem Untoten, der hinter ihm war, in die Brust stoßen konnte.

Dann glitt sie, gewandt durch jahrelange Übung, durch die offene Tür und schlug sie hinter sich zu, ohne auf das wütende Kreischen des brennenden Vampirs zu achten.

Sie drehte sich um.

Der erste Eindruck, den sie von dem Raum bekam, war Röte. Und Hitze. Und drückende Schwere.

Aber mehr als einen schnellen, prüfenden Blick über die mit Seide bespannten Wände, den mit Teppichen bedeckten Boden, die beiden Feuerstellen, in denen Flammen loderten, und die einzelnen Möbelstücke, die auch blutrote Bezüge hatten, erlaubte sie sich nicht.

Und schließlich blieb ihr Blick an Lilith hängen, die tatsächlich überrascht wirkte, Victoria zu sehen.

Die Vampirkönigin stand leicht gebeugt und schien bei irgendetwas gestört worden zu sein, als sie ihre Besucherin anschaute. Dann richtete sie sich auf, und der überraschte Ausdruck verschwand von ihrem Gesicht. »Victoria Gardella.«

»Wo ist Sebastian?«, fragte sie und ließ ihren Blick wieder durch den Raum schweifen.

»Na, aber hier ist er doch.« Lilith machte eine lässige Handbewegung, und da sah Victoria ihn. »Komm her, mein Schätzchen.«

Er war von der stehenden Lilith verdeckt worden, und jetzt konnte Victoria sehen, dass er in der Ecke einer kleinen Polsterbank saß. Auf Geheiß der Vampirkönigin rückte er jetzt nach vorn. Genau wie Max, als sie ihn damals in London gerettet hatte, trug auch er nur eine Hose. Bisswunden verunzierten die glatte, goldbraune Haut seines Halses und der Schultern. Die vis bulla glitzerte stolz in seinem Bauchnabel.

»Victoria«, sagte er, »was machst du hier?«

Sie musterte ihn und stellte erleichtert fest, dass er bis auf die Bisswunden unversehrt schien. »Ich bin wegen Lilith hergekommen.«

Die Königin lachte. »Aha. Wo wollen Sie mich denn hinbringen? Und wo ist mein lieber Maximilian?«

»Ich würde das anders formulieren. Die Frage ist nicht, wohin ich Sie bringen will«, erwiderte Victoria und umklammerte ihren Pflock fester. »Sondern wohin ich Sie schicke: zur Hölle.«

Lilith lachte wieder, während ihre Hand träge über Sebastians gelocktes Haar strich. »Ich muss Sie leider darüber in Kenntnis setzen, dass ich dort bereits gewesen bin. Und ich habe nicht vor, dahin zurückzukehren.«

»Nur einer von uns wird diesen Raum verlassen, und das werden nicht Sie sein.« Mit diesen Worten stürzte Victoria sich auf die großgewachsene Frau.

Liliths Gesicht verzog sich zu einer schrecklich anzusehenden, langen und grauen Fratze, in der die Augen so hell loderten, dass sie blendeten. Lange Nägel, die wie Sicheln gekrümmt waren, schossen aus ihren Fingerspitzen hervor. Sie wehrte Victoria mitten im Sprung ab und ließ sie zu Boden krachen.

Victoria spürte die Wunden, die die skelettartigen Finger und tödlichen Nägel auf Arm und Brust bei ihr hinterlassen hatten, als sie sich mit einem Klingeln in den Ohren wieder aufrappelte und dabei sorgfältig dem gefährlichen Blick ihrer Gegnerin auswich. Lilith hatte wieder ihre normalen Gesichtszüge angenommen und sah Victoria jetzt voller Hohn und Bosheit an. Jeder Anflug von Erheiterung und Wohlwollen war verschwunden.

»Das hat Maximilian vor langer Zeit auch einmal versucht«, erklärte Lilith ihr voller Verachtung. »Würde ich ihn nicht so sehr begehren, hätte ich ihn damals getötet. Bei Ihnen dagegen habe ich keinerlei Bedenken.«

Victoria erwiderte nichts. Sie stand nur da, nahm ihren ganzen Verstand und alle Kraft zusammen und überlegte, welche Waffen ihr zur Verfügung standen. Ein schneller Blick sagte ihr, dass sie hier im Zimmer nichts finden würde: Es gab nichts aus Holz, kein Schwert, gar nichts. Sogar Sebastian wirkte unfähig — oder unwillig —, sich zu rühren. Er kniete einfach nur auf dem Boden neben Liliths Chaiselongue und hatte den gleichen leeren Blick, den Max in Liliths Gegenwart gehabt hatte.

Sie hatte also nur die Pflöcke, die sie bei sich trug, das Weihwasser ... und ihren Verstand.

Und vielleicht noch das Geheimnis, das Adolphus ihr anvertraut hatte.

Sie hatte nur einen kurzen Moment, um über all das nachzudenken, denn Lilith war in höchstem Maße verärgert und spielte jetzt nicht mehr die hoheitsvolle Herrscherin. Kaum hatte Victoria wieder festen Stand, als die Vampirkönigin sich auch schon auf sie stürzte.

Die langen, spitzen Fangzähne bohrten sich in ihre Unterlippe, und das wehende kupferrote Haar verströmte einen widerlichen Gestank nach Rosen. Lilith stieß sie zu Boden, packte Victoria vorne am Hemd und schleuderte sie gegen die Wand.

Der Aufprall riss ihr den Kopf nach hinten und drückte ihr die Luft aus der Lunge, aber Victoria behielt den Pflock fest in der Hand und stieß damit nach Lilith. Er fuhr der Untoten über das Gesicht und hinterließ einen langen, tiefen Kratzer, aus dem Blut tropfte.

Victoria keuchte und entwand sich Liliths übernatürlich festem Griff. Sie wühlte in ihrer Hosentasche nach einem Fläschchen mit Weihwasser. Während sie sich duckte und wegrollte, versuchte sie das Gefäß zu öffnen.

Doch Lilith schlug ihr die Flasche aus der Hand und stürzte sich mit einem freudigen Kreischen und weit aufgerissenem Mund auf Victoria. Ihre Augen loderten, und Victoria merkte, wie ihr Blick gefangengenommen wurde. Sofort wurde sie langsamer, und die Vampirkönigin begann, sie in ihren Bann zu ziehen.

Nein.

Sie schüttelte den Kopf, entzog sich mit aller Kraft dem Bann und rollte sich über den Boden zur Flasche, wobei sie den Pflock die ganze Zeit fest in der Hand hielt. Lilith folgte ihr, aber Victoria war schneller. Sie stieß mit dem Ellbogen nach hinten und trat nach den Beinen der Untoten, sodass diese zu Boden stürzte, während sie selbst nach der Flasche griff. Sie erwischte sie nicht, war aber froh, dass der Verschluss sich wenigstens nicht gelöst hatte.

Kreischend kam Lilith mit fliegendem Haar wieder hoch, als auch Victoria - allerdings ohne das Weihwasser - wieder stand. Als die Vampirkönigin sich mit ihren widerlich gekrümmten Nägeln auf sie stürzte, ging Victoria in die Hocke, wirbelte herum und packte eine Handvoll von dem schlangenähnlichen Haar.

Obwohl es wie Kupfer strahlte, fühlte es sich dick und hart an wie Draht, kein bisschen geschmeidig. Schnell schlang Victoria es sich ums Handgelenk und riss fest daran, sodass der Untoten, die laut kreischte, der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.

Victoria warf sich gegen die Vampirkönigin, deren Haare sie immer noch festhielt, und sie krachten zusammen gegen die Wand und dann zu Boden. Die Flasche mit dem Weihwasser war ganz nah. Sie steckte sich den Pflock vorn in die Hose und streckte die Hand nach der Flasche aus, schrie erleichtert auf, als sich ihre Finger darum schlossen.

Victoria führte die Flasche mit dem Weihwasser an den Mund und zog den Korken mit den Zähnen heraus, wobei sie gleichzeitig immer wieder nach Lilith trat und an ihren Haaren zerrte, während diese mit ihren Klauen auf sie losging. Aber die Kreatur konnte sich nicht befreien, obwohl sie sich wie wahnsinnig wand, weil Victoria ihre Haare immer noch festhielt. Ineinander geknäult, aufeinander einschlagend rollten sie über den Boden.

Endlich löste sich der Korken, und Wasser spritzte heraus, aber Victoria schaffte es dann doch, dass sich die Flüssigkeit auf die Untote ergoss.

»Hilfe!«, kreischte Lilith, als das Wasser ihr Gesicht traf. Sie wehrte sich noch heftiger, und der widerwärtig süßliche Geruch nach Rosen wurde stärker, aber Victoria behielt die Ruhe.

Jetzt. Victoria griff nach dem Pflock, den sie sich in den Hosenbund gesteckt hatte, legte die Finger darum und zog ihn heraus.

Sie holte mit dem Arm aus, um ihn der sich windenden Vampirkönigin, mit der sie über eine Strähne langen Haars verbunden war, in die Brust zu stoßen. Sie führte den Pflock nach unten auf die knochige Brust der Untoten zu.

Als der Pflock sich mit dem vertrauten leisen Geräusch durch ihre Haut bohrte, verdrehte Lilith sich mit einem Ruck, und Victoria spürte, wie kräftige Hände an ihr zu ziehen begannen. Sie schaute auf in Sebastians Gesicht.

Und in seine glühenden roten Augen.