Kapitel 13

In dem wir Venatoren in ihrem natürlichen Lebensraum beobachten

 

Als Sebastian das Goldene Gässchen schließlich verließ, hatte er ganz gewaltig einen in der Krone. Er taumelte natürlich nicht die Straße entlang; dafür war er viel zu kultiviert, um sich derartig gehen zu lassen.

Doch der gute — der sehr gute - Brandy, den Katerina besonderen Gästen vorbehalten hatte, legte eine Art Glasschicht über die Welt, über die dumpf pochende Leere in seinem Innern und die Überreste von Träumen, die nicht weichen wollten und ihn quälten. Alles wirkte viel freundlicher... und davon abgesehen war es ein verdammt guter Brandy.

Vielleicht sogar besser als der Armagnac, um den er Katerina damals erleichtert hatte. Es war wirklich schade, dass sie ihm das nie verziehen hatte, aber sie hatte es ihm, wie gesagt, geschuldet. Es war schließlich nicht sein Fehler gewesen, dass ihre Tochter ihn verführt hatte.

Nun ja, Katerina schien das alles etwas anders gesehen zu haben und war sauer auf ihn gewesen, weil er »seinen Hosenlatz nicht zubehalten« hatte, wie sie es ausdrückte. Also hatte Katerina eine ganze Horde untoter Schläger auf ihn angesetzt, die Vergeltung an ihm üben sollten, wodurch ein Aufruhr angezettelt wurde, der fast das ganze Einsame Pferd in Schutt und Asche gelegt hatte, und nicht zu vergessen Sebastians Arm, Bein und ein paar Rippen, die er sich gebrochen hatte.

Ja, wirklich, dafür hatte sie ihm was geschuldet, und diese Fässer waren ein netter kleiner Anfangsbestand gewesen, als er Besitzer des Silberkelchs wurde.

Nachdem Victoria das Einsame Pferd verlassen hatte, war Sebastian in den geheimen Lagerraum gegangen, um zu sehen, wie viel es von diesem Brandy noch gab. Vielleicht würde er den Rest davon mit nach London nehmen oder an einen anderen Ort, wo er sich niederlassen und ein anderes Etablissement eröffnen konnte, nachdem das Midiversum-Portal geschlossen worden war.

Als Sebastian sich davon überzeugt hatte, dass es tatsächlich einen versteckten, hübschen Vorrat an Getränken gab, leerte er sein Glas und verließ die Gastwirtschaft.

Obwohl es schon später Nachmittag war, musste er im grellen Sonnenlicht blinzeln, als er aus der dunklen Kaschemme nach draußen trat. Die hohen Türme der Teynkathedrale waren in der Ferne, hoch über der Stadt, auf der anderen Seite des Wassers zu sehen. Er wandte den Blick ab. Victoria hatte weder einen Grund angegeben, warum sie das Einsame Pferd schon verließ, noch hatte sie gesagt, wohin sie wollte, aber er wusste es auch so.

Während er sich, fast ohne zu schwanken, auf den Weg zu ihrem Gasthof machte, fragte er sich, wann Wayren, Brim und Michalas wohl in Prag eintreffen würden oder ob sie sich alle auf dem Weg nach Muntii Fagaras trafen. Sebastian hatte eigentlich keine Lust, Liliths Unterschlupf in Rumänien einen Besuch abzustatten, aber im Verlauf des letzten Jahres hatte er sich daran gewöhnt, Dinge zu tun, die er lieber vermieden hätte.

Vampire zu pfählen, seinen Großvater eingeschlossen, war eins davon.

Eine Frau zu lieben, die jedes Mal zu einem Kuss — oder mehr — überredet werden musste.

Auf Leben und Tod gegen Dämonen zu kämpfen, die einen vorübergehend lähmten, wenn man sie traf.

Sogar der Anblick von Katerina, die sich mit einem Puff in eine Wolke aus Asche verwandelte, hatte seine melancholische Stimmung weiter vertieft.

Aber vielleicht lag es auch am Brandy.

Nein. Es war nicht nur der Brandy. Trotz all ihrer Fehler war Katerina früher einmal nett zu ihm gewesen, und es war Sebastians Schuld, dass ihr untoter Ehemann jetzt nicht mehr an ihrer Seite weilte.

Aber zumindest waren sie nun in der Hölle wieder miteinander vereint.

Bei dem Gedanken zog sich sein Magen zusammen. Vielleicht hatte er doch ein bisschen zu viel von dem Brandy getrunken.

Giulia befand sich auch in der Hölle, und er war der verdammte Mistkerl gewesen, der dafür gesorgt hatte.

Gab es keine Möglichkeit, daran etwas zu ändern? Ihre Seele zu retten?

Natürlich nicht. Seit Jahren dachte er darüber nach, wünschte es sich und hoffte so sehr, einen Weg zu finden, es zu ändern. Was passiert war, war passiert. Asche zu Asche... und in diesem Fall zur Hölle damit.

Verdammt. Der Brandy. Bitterkeit stieg in ihm auf, und Sebastian musste sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn wischen, weil die Sonne so heiß brannte.

Als Wayren ihm die Seiten gegeben hatte, die von Rosamunde Gardella geschrieben worden waren, war Sebastian sich ganz sicher gewesen, dass etwas Wichtiges in ihnen stünde. Etwas, das er wissen musste. Irgendeine Botschaft an ihn. Schließlich war er von ihnen so stark angezogen worden, dass es einen Grund dafür geben musste. Und für all die Träume, die klarer und deutlicher waren denn je.

Lag es nur daran, weil er Victoria verloren hatte, dass Giulia ihn jetzt wieder verfolgte? War seine Beziehung zu Victoria nur eine Ablenkung von Giulia und der Erinnerung an sie gewesen?

Doch bis jetzt, obwohl er Nacht für Nacht über den Papieren gebrütet hatte, sodass die Worte förmlich in seinen Kopf eingebrannt zu sein schienen, hatte er auf diesen brüchigen, eng beschriebenen Seiten nichts gefunden, was irgendwie als Botschaft an ihn ausgelegt werden könnte.

Rosamunde hatte Eustacias Tod in Rom vorausgesagt:

Das goldene Zeitalter der Venatoren wird am Fuße Roms enden.

Sie hatte auch vorhergesehen, dass Victoria Gefahr lief, von Beauregard umgewandelt zu werden:

Und die aufstrebende Tochter wird befleckt werden, während das Böse versucht, sie zu beherrschen. Doch die Kraft eines reinen Herzens vermag diese Prüfung zu bestehen.

Es gab einen weiteren Absatz, der sich tief in seinem Kopf eingegraben hatte, aber er begriff seine Bedeutung nicht.

Und in der neuen Welt wird ein Erlöser sein, der mit einem großen Makel behaftet ist. Er wird ein lang gegebenes Versprechen einlösen, und am Ende werden die, für die er lebt, gerettet werden.

In nüchternen Momenten und in jenen frühen Morgenstunden, wenn ihm die Worte aus dem Manuskript durch den Kopf gingen, dachte Sebastian, dass diese Textstelle vielleicht an ihn gerichtet war. Vielleicht sollte er nach Amerika gehen — in die Neue Welt? Einen großen Makel trug er auf jeden Fall mit sich herum.

Aber war er auch ein Erlöser?

Damit konnte er nicht gemeint sein. Pesaro vielleicht, dieser verdammte Held, der immer seine Pflicht erfüllte. Ein Mann, der auch nicht ein Fünkchen Mitgefühl besaß.

Vielleicht war Pesaro der Erlöser und würde nach Amerika gehen, um ein lang gegebenes Versprechen einzulösen. Und Victoria Sebastian überlassen. Ein grimmiges Lächeln spielte um seine Lippen. Der verdammte Mistkerl konnte gern ein großer Held sein, wenn er sich auf der anderen Seite des Ozeans befand.

Sebastian schluckte und hatte wieder den durchdringenden Geschmack des Brandy auf der Zunge. Er hatte eindeutig zu viel getrunken. Aber es war noch Tag, und ein kleines Nickerchen würde dafür sorgen, dass er am Abend wieder einen klaren Kopf hatte.

Die Tür des Zimmers, das er mit Victoria teilte - mit Victoria teilte; wie sich das anhörte! -, öffnete sich leicht, und er trat mit einem leisen Schlurfen über die Schwelle.

Und blieb abrupt stehen.

Blut. Er roch Blut.

Die Nachwirkungen des Brandy fielen von ihm ab, als er der Szene gewahr wurde, die sich ihm bot: Victoria, bleich, hingestreckt auf dem Bett, das dunkle Haar an ihrem Gesicht klebend... Antonins Gesicht an sie geschmiegt, sein Kiefer, der sich bewegte, während er in langen Zügen trank.

Der Geruch von Eisen stieg Sebastian in die Nase, und ein roter Schleier legte sich vor seine Augen. Er brüllte laut auf, sprang durch das Zimmer und packte den Vampir am Haar, wobei er sich irgendwie daran erinnerte, ihn erst von ihr wegzureißen, wenn die Zähne nicht mehr in ihrem Fleisch waren.

»Sebastian, nicht!«, sagte sie und kam hoch. Er sah Blut an ihrem weißen Arm herunterlaufen. In der anderen Hand hielt sie einen Pflock. Mit müdem, weichem Blick sah sie überrascht zu ihm auf. Er konnte sich gerade noch zurückhalten, Antonin nicht den Pflock in die Brust zu rammen, als sie aus dem Bett sprang und ihn nach hinten drängte.

»Was zum Teufel machst du da?«, schrie er und bemerkte etwas verspätet, dass der Vampir immer noch ein hilflos verschnürtes, an Händen und Füßen gefesseltes Bündel war. Dass er das Blut aus ihrem Handgelenk gesaugt hatte, während sie den Pflock bereithielt. Abscheu stieg in ihm auf, als er begriff. Er packte ihre Schultern und bohrte seine Finger in ihr weiches Fleisch.

»Sebastian«, sagte sie, während sie sich gegen seinen Griff wehrte. Aber er ließ sie nicht los, setzte alle Kraft ein, die er besaß, während Wut und Abscheu sich mit Verlangen und Furcht vermischten. »Hör auf!«

»Victoria, ich begreife es nicht. Warum? Was soll...?« Seine Stimme verklang, und er musste schlucken. Dann schob er sie so heftig von sich weg, dass sie das Gleichgewicht verlor und aufs Bett fiel.

Am liebsten hätte er sich dazugelegt. Sebastian wandte sich ab, während die Übelkeit, die in seinem Magen rumorte, immer stärker wurde.

Sie stand auf. Auf ihrem schönen Gesicht lag ein verschlossener Ausdruck und vielleicht der Anflug eines Schuldgefühls. »Es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe«, erklärte sie mit ruhiger Stimme und ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. »Das wollte ich nicht.«

»Ich wusste nicht, dass du... daran Gefallen gefunden hast«, erwiderte er. Entsetzen, vermischt mit dem Geschmack des Brandy, brannte in seinem Hals. Er wusste nur zu genau, was für ein Gefühl das war, wenn die Fangzähne ins Fleisch glitten, was für ein lustvoller Schmerz, wenn das Blut langsam herausgesaugt wurde. Die Sinnlichkeit, die dem innewohnte, die benommene Erotik. Aber Victoria?

Sie sah Antonin an und dann wieder Sebastian. »Ich dachte«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich dachte, wenn sein Blut mit etwas Gardella-Blut vermischt wäre, könnte das...« Ihre Stimme wurde immer leiser, und sie redete nicht weiter, während ihm plötzlich alles klar wurde.

Pesaro. Sie hatte es für Pesaro getan, wegen dieser verdammten Prüfung.

Sebastian merkte, wie sich seine Lippen verzerrten. »Nun, tja... das ist ein interessanter Gedanke. Obwohl ich bezweifle, dass Pesaro dir für deine Einmischung dankbar sein wird.«

»Du darfst es ihm nicht erzählen.« Victoria stand da und rieb sich die widerlichen Stellen an ihrem Arm. Verdammt noch mal, sie waren tief, und sie sah blass aus. Sie schwankte leicht. Wie viel Blut hatte sie verloren?

»Du Närrin«, sagte er, drehte sich um und fing an, in seinem Beutel zu wühlen. Salziges Weihwasser würde helfen, dass die Wunden schneller verheilten.

Aber sie war schwach. Das erkannte er an ihren tief liegenden Augen und ihrer Blässe.

Trotzdem konnte er ihr keinen Vorwurf daraus machen. Denn würde er nicht auch aus Liebe alles tun?

Später am Abend erfuhren sie durch eine Brieftaube, dass Brim und Michalas in Prag eingetroffen waren. Deshalb begaben sich Victoria und Sebastian zur Steinbrücke, um sich dort mit ihnen zu treffen. Brim umarmte sie bei ihrer Ankunft und überraschte sie mit seiner Kraft und der Zuneigung, die er ihr damit zeigte. Dann zeigte ihr der große schwarze Mann den Ring, den sie aus dem Konsilium geholt hatten.

»Jetzt haben wir drei Ringe von Jubai«, sagte Victoria. »Die beiden letzten werden am schwierigsten zu bekommen sein. Lilith wird sie nicht so leicht hergeben.«

»Es ist aber auch in ihrem Interesse, die Dämonen aufzuhalten«, meinte Michalas überzeugt und schirmte die Augen gegen die letzten Sonnenstrahlen ab, die tief über die roten Dächer fielen. »Das wird sie bestimmt verstehen - besonders wenn wir diejenigen sind, die das Risiko auf sich nehmen.«

Victoria verzog das Gesicht. »Ich bin nicht überzeugt davon, dass Lilith es so sieht. Aber wir holen uns die Ringe auf jeden Fall. Und dann wird Sebastian uns zu dem See führen.«

»Und hoffen, dass die Ringe tatsächlich den Zauberbann aufheben«, sagte er mit ernster Miene.

»Dein Großvater muss Bescheid gewusst haben«, erwiderte sie. »Ich nehme an, dass er deshalb auch den Ring haben wollte, der in London versteckt war; denn er wusste, welch großen Wert er hatte.«

Sebastian nickte. »Und das Midiversum-Portal ist weniger als zwei Tagesritte vom See entfernt. Wenn also alles nach Plan verläuft, könnten wir in einer Woche dort sein.«

»Wayren bleibt solange im Konsilium, wo sie in Sicherheit ist, und stößt erst zu uns, wenn wir sie brauchen.« Brim sah Victoria mit verständnisvollem Blick an. »Dann bleiben wir also noch einen Tag lang hier?«

Sie nickte. »Bis nach Max' Prüfung. Dann sind wir zu fünft und brechen nach Muntii Fagaras auf.« Unwillkürlich wanderte ihr Blick zur Teynkathedrale oben auf dem Hügel, und als sie sich wieder umdrehte, bemerkte sie die Blickwechsel bei den anderen. Wayren würde am Tag der Prüfung eintreffen, um das Ganze zu leiten. Doch bis dahin blieb den vier Venatoren nichts anderes übrig, als bis zum morgigen Abend zu warten.

»Tja«, meinte Brim, »die Sonne geht unter, und ich kann mir mehrere Möglichkeiten vorstellen, sich die Zeit zu vertreiben.« Er spannte seinen muskulösen Arm an und lächelte bedrohlich.

»Ich weiß, wo es guten Brandy gibt«, bot Sebastian an.

»Und was ist mit Essen?«

»Wenn ihr was essen wollt, kann ich euch zu einem passenden Wirtshaus führen.« Er warf Victoria einen schnellen Blick zu. »Nicht zum Einsamen Pferd.«

»Und danach wäre nichts gegen ein bisschen andere Unterhaltung einzuwenden«, meinte Michalas. »Victoria schließt sich uns doch an, oder?«

Sie nickte; denn sie stellte fest, dass die Alternative wäre, in ihr Zimmer mit Blick auf die Teynkathedrale und zu einem schnarchenden Antonin zurückzukehren oder allein auf der Jagd nach Vampiren durch die Straßen zu ziehen. An einem anderen Abend hätte sie sich vielleicht für Letzteres entschieden, aber heute Abend boten ihre Freunde ihr Gesellschaft und Ablenkung an.

Und sie stellte fest, dass sie beides wollte.

Stunden später saß Victoria mit den drei anderen Venatoren, die bereits eine große Menge Brandy, Bier oder Wein getrunken hatten — je nachdem, was der jeweilige vorzog —, in einem großen, lauten, aber schäbigen Etablissement. Sie selbst hatte auch genug Wein getrunken, sodass ihre Sorgen nicht mehr ganz so drückend waren, und merkte, dass sie sich entspannt hatte und die Gesellschaft der anderen drei, die das gleiche gefährliche Doppelleben wie sie führten, genoss.

Die Wirtschaft wurde eigentlich von Sterblichen frequentiert, aber es mischten sich auch Vampire unter die Kundschaft, was laut Sebastian einen Teil der Anziehungskraft ausmachte... und der Grund war, warum er, Michalas und Brim so viel getrunken hatten. Jedes Mal, wenn ein Vampir hereinkam, merkten das natürlich alle vier. Und dann begannen die Wetten.

»Er wird zu dem jungen Mann da drüben gehen. Der sitzt so schön nah an der Tür.«

»Das glaube ich nicht. Siehst du, wie er die Kellnerin ansieht? Auf die hat er's abgesehen.«

»Nein, nein! Seht ihr, wie er die Würfelspieler beobachtet? Er wird sich dazugesellen und den Gewinner später weglocken. Dann kann er auch den Gewinn einstecken.«

Und dann...

»Sie hat ein Auge auf den großen Kerl an der Wand geworfen.«

»Nein, seht ihr nicht, wie sie die zwei drüben am Tresen beobachtet? Der mit den roten Haaren... denkt an meine Worte.«

»Sie hat gerade was fallen gelassen — der Glatzkopf wird es aufheben, und das wird dann sein Todesurteil sein.«

Bei jeder Nennung fielen Münzen klirrend in einen kleinen Topf auf dem Tisch, bis der jeweilige Untote sich für ein Opfer entschieden hatte und es aus der Wirtschaft lockte. Dann steckte der Venator, der das richtige Opfer genannt hatte, das Geld ein, das sich im Topf gesammelt hatte, holte seinen Pflock hervor und ging hinterher.

Die anderen leerten ihre Gläser und gaben eine neue Runde aus.

Nach einer Weile kamen keine Vampire mehr in die Wirtschaft. Vielleicht hatte es schon die Runde gemacht, dass Vampire, die dieses Wirtshaus besuchten, schnell zu Asche wurden.

»Es ist noch früh«, meinte Michalas und holte zwei Würfel heraus. Er warf sie auf den Tisch. »Wer fängt an?«

»Vioget und ich«, sagte Brim und zog die Augenbraue hoch, in der seine vis bulla glitzerte.

Sebastian seufzte, verdrehte die Augen und richtete sich auf, als würde er nur widerwillig mitmachen. Doch Victoria sah das freudige Glitzern in seinen Augen. »Ich nehme an.«

Victoria beobachtete das alles mit Interesse - all diese Arten des Zeitvertreibs waren so neu für sie wie Besuche in Herrenclubs, um den Männern beim Kartenspiel zuzuschauen.

Michalas warf die Würfel. »Zehn.« Er lachte und sah die anderen beiden an. »Viel Glück.«

Brim und Sebastian stellten die Gläser hin, schoben ihre Stühle zurück und stürmten nach draußen.

»Wo sind die hin?«, fragte Victoria.

»Ich habe eine Zehn gewürfelt. Jetzt geht es darum, wer als Erster zehn Vampire erledigt und dann zuerst wieder da ist.«

»Zehn? Jeder?« Sie zog die Augenbrauen hoch und unterdrückte ein Lachen. »Gibt es noch so viele Untote in Prag? Wir sind doch eigentlich ziemlich eifrig gewesen.«

»Jeder zehn, und wer zuletzt zurückkommt, muss den anderen eine Runde ausgeben.« Michalas lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und trank von seinem Lieblingsgetränk — Wein. Sie plauderten ein Weilchen miteinander, als er plötzlich sagte: »Ah, da ist noch einer.«

Victoria spürte das viel sagende Kältegefühl im Nacken und sah den Untoten durch die Tür hereinkommen. »Meiner oder deiner?«, fragte sie.

»Ich erledige ihn.«

»Nein, warte«, sagte sie. »Ich mache das.« Sie stand auf und spürte die beruhigende Wirkung des Weins, während sie wie zufällig auf den Vampir zuging.

Er stand in der Nähe des Tresens und nippte an seinem Getränk. Und obwohl sie unschuldig in eine andere Richtung schaute, merkte Victoria genau den Moment, in dem sie seine Aufmerksamkeit erregte. Sie konnte sich vorstellen, was für einen Eindruck sie auf ihn machen musste — ganz eindeutig eine Frau, die Männerkleidung trug, denn sie hatte ihr Haar nicht zurückgebunden und den Gehrock wegen des warmen Abends ausgezogen.

Der Vampir war groß, fast so groß wie Max, stellte sie fest, als sie näher kam. Er hatte breite Schultern, und trotz der Narbe, die sich über seine ganze Wange zog, war er ein gut aussehender Mann. Victoria war sich beinahe sicher, dass er ein Wächtervampir war. Ganz sicher konnte sie sich allerdings erst sein, wenn seine Augen anfingen zu glühen.

»Na, na«, meinte er mit angenehm weicher Stimme, die irgendwie das dumpfe Dröhnen im Schankraum übertönte. »Was macht denn eine so bezaubernde Dame an einem so hässlichen Ort wie diesem?«

Victoria widerstand dem Impuls, die Augen zu verdrehen.

Stattdessen sah sie ihn mit großen, unschuldigen Augen an und erwiderte: »Eigentlich wollte ich mich mit meinem Bruder hier treffen, aber er ist noch nicht da.«

»Mit Ihrem Bruder?« In seiner Stimme schwang jetzt nicht mehr so viel Interesse mit.

»Wir wollten uns eigentlich gestern Abend hier treffen«, sagte sie. »Aber er hat sich verspätet.«

Der Vampir lachte — seine Zähne sahen normal aus. »Ja, das sieht mir auch ganz so aus. Wie lange wollen Sie denn noch auf ihn warten?«

»Ich glaube nicht, dass er überhaupt noch kommt«, erwiderte sie aufrichtig. »Ich denke, so langsam sollte ich nach Hause gehen.«

»Ganz allein? Nachts ist es gefährlich auf den Straßen«, meinte er und rückte näher an sie heran.

Das wusste wohl jede Frau. »Ich habe keine Angst.« Und zumindest das stimmte.

»Vielleicht hätten Sie gern einen Begleiter?«, fragte er.

»Lieber nicht«, erwiderte sie und schenkte ihm ein neckisch-verschämtes Lächeln. »Normalerweise gehe ich nicht mit fremden Männern mit.« Sie legte ein paar Münzen auf den Tresen, um den Eindruck zu vermitteln, dass sie gekommen war, um ihre Rechnung zu begleichen. »Gute Nacht, mein Herr.«

Sie war schon fast zur Tür hinaus, als sie spürte, wie sich das Frösteln in ihrem Nacken verstärkte. Ein wissendes Lächeln spielte um ihre Lippen, und sie ging langsamer, damit er sie einholen konnte.

Aber gerade als sie auf die kleine Straße hinaustrat, sah sie Sebastian und Brim auf sich zukommen. Beide gingen schnell; denn offensichtlich wollten beide die Wette gewinnen.

»Victoria«, sagte Sebastian, als sie fast bei ihr waren. Sie merkte, dass der Vampir Angst bekam und an ihr vorbeiging um im Schatten zu verschwinden. Weder Brim noch Sebas tian unternahmen den Versuch, ihm zu folgen, und statt in die Gastwirtschaft zu treten, blieben sie am Eingang bei ihr stehen.

»Es tut mir sehr leid«, sagte Brim. »Ich habe einen Fehler ge macht.«

»Einen Fehler?« Victoria runzelte fragend die Stirn.

»Ich suchte gerade nach meinem zehnten Vampir, damit ich die Wette gegen Vioget gewinne«, erklärte Brim. Victor bemerkte, dass Sebastian sie nicht aus den Augen ließ, und ein unangenehmes Gefühl machte sich in ihr breit. Warum sah er sie so an?

Max. Es musste etwas mit Max zu tun haben. Was war passiert?

Sie schluckte und merkte dann, dass Brim mit seiner Erklärung fortfuhr. Sie dachte gar nicht mehr an den Vampir und hörte zu.

»Ich konnte keinen finden oder irgendwo spüren, und so suchte ich immer weiter. Die ersten neun hatte ich ziemlich schnell gefunden. Aber dann nichts mehr. Schließlich kam ich zu einem kleinen Gasthaus und spürte, dass ein Untoter in der Nähe war. Ich fand ihn, in einem der Räume. Er schlief. Gerade als ich ihn pfählte, merkte ich, dass er...«

»Gefesselt war«, beendete Victoria den Satz, und sie wurde ganz mutlos.

»Gefesselt war«, wiederholte Brim.

Also gab es Antonin nicht mehr.

Sie schaute zur Teynkathedrale und nickte langsam.

Sie hatte wohl nichts anderes verdient, nachdem sie versucht hatte, den göttlichen Willen zu beeinflussen.

Die sanfte Hand auf seiner Schulter holte Max in die Wirklichkeit zurück.

Er blinzelte, schluckte, und dann atmete er ein. Ein langer, tiefer, bebender Atemzug.

Die Steine unter seinen Knien hatten schon lange aufgehört, ihm Schmerzen zu bereiten, aber in dem Moment, als er sich bewegte, schoss die Pein in alle Glieder. Seine Beine fühlten sich erst schwer wie Blei an, und dann, als er sie bewegte, setzte ein widerliches Kribbeln in ihnen ein, das sich von den Zehen bis in den Po fortsetzte.

Farbige Lichtstrahlen in Rot, Blau und Gold, die durch buntes Bleiglas fielen, ließen das Mittelschiff der Kathedrale erstrahlen und tauchten Altar, Kirchengestühl und Gewölbe in ein weiches Licht. Am Einfallswinkel erkannte er, dass die Abenddämmerung bevorstand.

Das Ende des dritten Tages.

Die alles sehende, alles wissende Wayren hatte seine Schulter berührt, um seine tiefe Meditation zu beenden. Dann zog sie sich zurück, damit er wieder zu sich selbst zurückfand. Als er sich schließlich umdrehte, sah er sie auf einer Kirchenbank unter einem niedrigen Bogen sitzen. Der Bereich wurde nur von ein paar Kerzen erleuchtet, die von Gläubigen gespendet worden waren. Einen Augenblick lang meinte er zu sehen, dass sie von einem Licht umgeben war, doch dann war es wieder fort.

Mit steifen Gliedern ging er zu ihr und setzte sich nach drei Tagen das erste Mal wieder hin.

»Du bist gekommen«, sagte er.

»Ja, das bin ich.«

»Haben wir den dritten Ring?«

Sie nickte kurz. »Ja, haben wir. Jetzt müssen wir nur noch das hier erledigen und die anderen beiden von Lilith holen.«

Er konnte jetzt nicht darüber nachdenken. Noch nicht. Eins nach dem anderen.

Wayren schien das zu verstehen, und sie berührte seine Hand. Ihre Finger fühlten sich kühl und weich an auf seiner rauen Haut. Er spürte, wie plötzlich Kraft durch seinen Körper strömte. Kraft und Ruhe. »Du bist fiebrig. Bist du krank?«

Er zuckte die Achseln. »Ich war's. Ein bisschen.«

Sie reichte ihm eine Wasserflasche, und er trank daraus. Er hatte noch nie etwas so Reines, Kaltes und Sauberes genossen. Die Hitze, die in seinen Gliedern brannte, ließ etwas nach, verschwand aber nicht ganz. Er war krank und verdammt schwach. Aber dennoch hatte er etwas zu erledigen.

»Hast du Ylito gefragt, was er meint?«

Wayren nickte. »Er denkt auch, dass du die vis bulla während des Kampfes nicht ablegen solltest. Dafür besteht kein Grund, und bei dir liegen besondere Umstände vor. Es gab noch nie einen Venator, der die Prüfung noch einmal bestehen musste und dabei seine eigene vis bulla trug. Du hast doch wieder deine eigene, nicht wahr?«

Max verdrängte die Erinnerung an den Moment, als Victoria ihm seine, die sie heimlich getragen hatte, zurückgab und er ihr ihre - die er getragen hatte. »Ja.« Er sah Wayren an. »Hast du auch über die andere Sache mit ihm gesprochen?«

»Er ist auch der Meinung, dass es nicht schaden kann, es zu versuchen, Max. Normalerweise haben wir natürlich das Blut vom bereitstehenden Vampir, während die vis bulla in Weihwasser liegt. Nachdem der Vampir tot ist, nimmt man die vis bulla aus dem Weihwasser, taucht sie ins Blut des Vampirs und sticht sie dann durch die Haut des Venators. Das ist der Moment der Wahrheit: entweder der Tod oder ein Leben als Venator. Aber in deinem Fall meint Ylito, du könntest diesen Schritt auslassen und die Prüfung früher beenden, weil du die vis bereits trägst. Wir werden vor dem Kampf Weihwasser über das Amulett gießen. Wenn die vis während des Kampfes mit dem Blut des Vampirs in Berührung kommt, könnte das deine Venatorenkräfte reaktivieren.«

»Oder auch nicht.«

»Oder auch nicht.«

Wie auch immer es ausging, das Ergebnis würde dasselbe sein. Wenn es geschehen sollte, würde es geschehen, ob nun während des Kampfes mit dem Vampir oder danach.

Max wusste, dass er keinen Vampir töten wollte, nur um hinterher zu sterben.

Er wollte überhaupt nicht sterben, stellte er plötzlich zum ersten Mal nach langer Zeit fest. Zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte.

Aber es bestand die Möglichkeit, und er war darauf vorbereitet. Er stand auf. »Ich bin bereit.«