Kapitel 22

In dem unsere Heldin Dinge richtigstellt

 

Victoria schlief tatsächlich in dieser Nacht.

Sie hatte sich in das kleine Zimmer begeben, während Max mit Brim und Michalas in der Wirtschaft saß. Alle hatten sich Verletzungen zugezogen, die verarztet werden mussten, aber die drei Männer hatten sich dafür entschieden, zur Feier des Tages erst ein paar Bier zu sich zu nehmen.

Victoria dagegen wollte nur ein Bett und schlafen. Sie war müde. So müde.

Und morgen würden sie wieder aufbrechen und sich auf den Weg zu Sebastian machen... und Lilith gegenübertreten.

In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander, während sie sich an einem Becken mit heißem Wasser den größten Teil von Blut, Dreck und Sand abwusch. Noch immer schmerzte ihr Rücken von den tiefen Schnitten, die ihr von den Klauen zugefugt worden waren. Schließlich tapste sie zum schmalen Bett und war eingeschlafen, ehe sie es überhaupt merkte.

Max war bei den anderen. In Sicherheit, nur ein Stockwerk unter ihr. Sie konnte schlafen.

Irgendwann kurz vor Morgengrauen erwachte sie, weil jemand im Zimmer war.

Sie erstarrte kurz und streckte dann die Hand nach ihren Waffen aus, wobei sie noch wartete, ob sie ein Frösteln im Nacken spüren würde, um daraufhin entweder nach Pflock oder Schwert zu greifen; doch dann merkte sie, wer es war, und entspannte sich wieder. Sie spürte, wie das schmale Bett unter seinem Gewicht nachgab, und die angenehme Wärme seines Körpers schmiegte sich von hinten an sie. Seine Hand glitt seitlich über ihren Körper, als wollte er sich versichern, dass sie wirklich da war, dann legte er ihren Kopf unter sein Kinn und seinen Arm um ihren Bauch, um sich warm und fest an sie zu drücken. Und sie schliefen.

Als sie erwachte, stand die Sonne bereits hoch an einem wolkenlosen Himmel. Ein heißer Strahl fiel durch den Schlitz des Fensterladens genau auf ihre geschlossenen Augen. Sie bewegte sich und biss die Zähne zusammen, als sie ihre schmerzenden Muskeln spürte. Vielleicht hätte sie etwas auf ihre Wunden tun sollen.

Sie rückte etwas zur Seite, um vom Sonnenstrahl nicht geblendet zu werden, öffnete die Augen und schaute sich schnell im Zimmer um. Das andere Bett war leer, und es schlief auch keiner auf dem Boden. Offensichtlich hatten Brim und Michalas sich letzte Nacht ein anderes Plätzchen zum Schlafen gesucht.

Victoria drehte sich schwungvoll um, wobei sie beinahe aus dem Bett fiel, und stellte fest, dass sie sich fast Nase an Nase mit Max befand, der sie mit weit geöffneten Augen betrachtete.

»Guten Morgen«, sagte sie und sehnte sich plötzlich nach einem großen Glas Wasser.

»Es ist ein guter Morgen.«

»Ich kann gar nicht glauben, dass du hier bist«, sagte sie und streckte die Hand nach seinem Gesicht aus, das voller Schürfwunden und Schnitte war. Das Blut war getrocknet, und die Stoppeln von gestern waren noch ein Stück gewachsen. Seine Augen waren so dicht vor ihr, dass sie die kupferbraunen Flecken in der dunklen Iris erkennen konnte.

»Du hast versucht, mich umzubringen. Bist du immer noch wütend auf mich?«

»Ja. Ich bin wirklich ziemlich wütend. Aber darum habe ich dich gestern nicht angegriffen; ich dachte, du wärst ein Dämon. Jetzt bin ich einfach nur erleichtert, dass du da bist. Wir werden uns wahrscheinlich noch streiten, wenn die Sache hier erst einmal vorbei ist.«

»Ich freue mich schon darauf.«

»Das ist nicht lustig«, erwiderte sie und versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken, als sie das interessierte Leuchten in seinen Augen sah. Bei ihrem letzten heftigen Streit waren sie in seinem Bett gelandet. »Ich bin Illa Gardella. Deine Anführerin.«

Er besaß die Frechheit, ein Schnauben auszustoßen. »Ja, dank des Blutes, das in deinen Adern fließt, und aufgrund deines Stammbaumes. Aber das bedeutet nicht, dass ich kein Hirn habe und nicht auch selber Entscheidungen fällen kann. Außerdem habe ich viel mehr Erfahrung als du. Deine Tante«, fuhr er mit lauterer Stimme fort und übertönte damit ihre wütende Erwiderung, »betrachtete mich als ihren engsten Vertrauten. Und hat ganz gewiss nie versucht, meine Vorschläge zu verwerfen.«

»Nie?«

»Selten. Sie vertraute mir. Das musst du auch noch lernen.«

»Das tue ich bereits. Aber, Max... du kannst nicht einfach so verschwinden.«

»Ich hatte keine andere Wahl.«

»Da bin ich anderer Meinung.« Ihr Ton wurde schärfer.

»Dann sei eben anderer Meinung, Victoria. Aber du musst zugeben, dass ich Lilith besser kenne als du. Besser als jeder Sterbliche, wie ich voller Bedauern feststellen muss. Ich wusste, dass es nur einen Weg gab, an diese Ringe zu kommen, und ich war bereit, alles dafür zu tun; aber ich war nicht bereit, dich auch noch in Gefahr zu bringen. Was hattest du dir gedacht? Dass du einfach bei ihr hereinspazieren könntest, und sie würde dir dann die Ringe geben?«

»Natürlich nicht«, fuhr Victoria ihn an. Sie zog die Augenbrauen wütend zusammen. »Aber sie hatte ein genauso großes Interesse wie wir daran, das Portal zu schließen. Die Dämonen sind auch ihre Feinde. Es wäre also zu ihrem Vorteil gewesen.«

Max nickte. Er sah sie ernst an, mit durchdringendem Blick. »Das sagt einem der gesunde Menschenverstand. Aber Lilith wusste, wir würden Himmel und Erde in Bewegung setzen, um dieses verdammte Portal zu schließen. Deshalb befand sie sich in der stärkeren Position. Wärest du mitgekommen, hätte sie uns beide gehabt. Da war es besser, dass sie nur mich in die Finger bekommen hat. Und davon abgesehen wusste ich, dass du kommen würdest, um mich zu retten.«

»Aber du hast ein großes Risiko auf dich genommen.«

»Jeder Tag ist ein Risiko, Victoria. Das wird sich nie ändern. Verstehst du das?«

Sie nickte zögernd, und ihre Wut ließ nach. Mit ihm zusammen zu sein war der Höhepunkt, der schönste Teil eines Lebens, das immer von Gefahr bestimmt sein würde. Das war ihr Schicksal.

Er drückte sich gegen sie und schob eines seiner langen Beine zwischen ihre. »Es gibt noch eine andere Sache, die du verstehen musst. Ich musste es tun, um mir selbst zu beweisen, dass ich es kann. Dass ich tun kann, was getan werden muss, obwohl es... dich gibt. Obwohl du mir so viel bedeutest. Wäre ich nicht in der Lage gewesen, die richtige Entscheidung zu treffen, dann wäre ich nicht besser als Vioget all die Jahre, als er nicht zu seiner Berufung gestanden hat.«

»Max.« Ihr Magen zog sich zusammen, und sie holte tief Luft, um ihm zu sagen, dass sie ihn auch liebte. Aber wieder ließ er sie nicht zu Wort kommen.

»Und denk ja nicht daran, allein loszuziehen, um Vioget zu retten, nur um mir eine Lektion zu erteilen.« Er bedachte sie mit einem strengen Blick.

Wieder stieg Wut in ihr auf, aber sie drängte sie zurück. Später. Jetzt wollte sie erst einmal den Moment genießen, deshalb schüttelte sie den Kopf, wie es das Kissen eben zuließ, und strich mit der Hand über seinen warmen Arm. »Nein, früher einmal hätte ich das vielleicht getan; aber jetzt nicht mehr. Ich bin nicht ganz so dumm, wie du denkst.«

»Ich halte dich nicht für dumm. Das denke ich schon lange nicht mehr von dir.«

Eigentlich hätte sie diesen Gedanken gern weiterverfolgt, aber Vernunft und Sorge gewannen die Oberhand. Später war noch genug Zeit, um zu schäkern. »Was ist passiert, Max?«

Er presste die Lippen aufeinander und rückte ein bisschen ab, um sich an der Wand hinter ihm abzustützen. Erst jetzt merkte sie, wie wenig Platz er eigentlich hatte, und rückte ein bisschen zur Seite, damit es nicht mehr ganz so eng für ihn war. »Vioget kam zu Lilith und bot sich im Austausch gegen meine Freilassung an.«

»Wie bitte?« Victoria setzte sich auf und wäre aus dem Bett gefallen, wenn er sie nicht am Arm festgehalten hätte. »Er hat sich selber angeboten?«

Max nickte. »Du musst wissen, dass sich die Ringe nicht abnehmen lassen, und deshalb schlug er diesen Handel vor. Er selbst und die Ringe gegen meine Freilassung.«

»Aber warum? Warum in Gottes Namen hast du sie nicht einfach umgebracht? Er kam herein...« Sie konnte nicht weitersprechen. Mit was für wirrköpfigen Männern hatte sie es zu tun, die meinten, sich der verdorbenen Vampirkönigin opfern zu müssen? Fanden die denn keinen anderen Weg, um ihr Ziel zu erreichen? Hatten sie vielleicht Vorbehalte, gegen eine Frau Gewalt anzuwenden? Sogar bei einer Untoten?

Verdammte Narren.

»Er hätte mit mir weggehen können, Victoria. Aber ich glaube... ich glaube, er ist aus einem ganz bestimmten Grund gekommen. Er sagte zu mir...« Seine Stimme wurde leiser; dann setzte er erneut mit kräftigerer Stimme an und stieß die Worte schnell hervor, als sollten sie heraus, ehe er es sich anders überlegte. »Er tat es für dich.«

»Für mich.« Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen, und einen Moment lang musste sie den Blick abwenden. Sebastian hatte sich ihretwegen Lilith geopfert, damit sie glücklich war. Er hatte Max, seinen Rivalen, befreit, damit sie glücklich wurde. Bei dem Gedanken hätte sie am liebsten geweint. Wieder einmal.

Sie sah Max in die Augen, und er fügte hinzu: »Hältst du mich jetzt für selbstsüchtig, dass ich es zugelassen habe?«

»Selbstsüchtig?« Max selbstsüchtig? »Du?« Sie schüttelte den Kopf. »Mach dich nicht lächerlich. Und davon abgesehen, hattest du überhaupt eine andere Wahl?«

»Ich hätte mich weigern können zu gehen.«

Victoria stieß ein Schnauben aus, das sie nicht unterdrücken konnte. »Und dann wärt ihr beide Gefangene von Lilith gewesen. Zwei selbstlose, idiotische Männer. Dann hätte ich euch beide retten müssen.«

Er beugte sich nach vorn und drückte seinen Mund in einem festen Kuss auf ihre Lippen, als wollte er sie daran hindern, ihm weiter die Leviten zu lesen. »Victoria«, sagte er, als er sich einen Moment von ihr löste. »Da ist noch etwas, und ehe du jetzt losrast, um ihn zu retten, muss ich es dir erzählen.«

Sie legte eine Hand auf seine Brust und spürte die rauen Härchen und die Wärme seiner Haut, sein Muskelspiel, als er sich auf einem Arm aufstützte. »Ich habe nach dem Vorfall mit Beauregard aufgehört, planlos loszurasen«, sagte sie.

»Ach wirklich? Tja, ich will nicht mit dir über Einzelheiten streiten.«

»Was gibt es sonst noch?«

»Seine genauen Worte waren: >Ich habe es nicht Ihretwegen getan, sondern für sie. Sie beide.<«

»Beide?«

Max nickte. »Ich habe viel Zeit gehabt darüber nachzudenken, während ich hierher geritten bin, und ich bin sicher, dass er Giulia meinte.« Seine Stimme wurde ganz rau, als er den Namen seiner Schwester aussprach. »Es ist kein Geheimnis, dass der Grundstein für unsere Feindschaft mit Giulias Tod gelegt und... nun ja... sie deinetwegen fortgeführt wurde. Wenn er also von >beiden< spricht, meint er bestimmt das.«

»Aber was hat es mit Giulia zu tun, wenn er sich Lilith ausliefert?«

»Ich kann nicht behaupten, dass ich wüsste, wie er denkt, aber er sagte noch, ich sollte Wayren nach irgendeinem >Versprechen< fragen.«

Victoria runzelte die Stirn. »Du hast keine Ahnung, was er gemeint haben könnte? Denkt er vielleicht, dass es in Liliths Unterschlupf etwas gibt, das Giulia helfen könnte? Und wollte er eine Gelegenheit haben, danach zu suchen?«

Max zuckte die Achseln, und sie kam nicht umhin, die geschmeidige Bewegung seiner breiten, dunklen Schultern zu bemerken. Sie schluckte und musste den Drang unterdrücken, ihn noch einmal zu berühren. Dafür war später auch noch Zeit. »Er musste irgendeinen Grund haben, freiwillig da hinzugehen. Er war in letzter Zeit häufig mit Wayren zusammen, und Wayren, nun ja, du weißt, wie weise sie ist. Sie hat mir mehr als einmal den richtigen Weg gewiesen.«

»Mir auch. Ich bin froh, dass sie in Sicherheit ist.«

Er nickte. »Aber jetzt wieder zurück zu Sebastian. Victoria, es könnte sein, dass er gar nicht gerettet werden möchte.«

Sie starrte ihn an. »Wovon zum Teufel redest du da?«

»Du meine Güte, für eine Marquise hast du dir aber ein ziemlich nettes Vokabular angeeignet.«

»Du hast einen schlechten Einfluss auf mich.« Doch die Leichtigkeit schwand gleich wieder, und sie fuhr fort: »Ich werde Lilith töten, und somit wird Sebastian gerettet werden, ob er es nun will oder nicht. Kommst du mit mir mit?«

»Gleich.« Dann schlang er den Arm um sie, zog sie an sich und küsste sie.

Max näherte sich dem Eingang zu Liliths Unterschlupf so selbstsicher, wie er es immer getan hatte. Er hatte keine Angst davor, von einem der anderen Vampire angegriffen oder verletzt zu werden, denn die Gefolgsleute der Vampirkönigin wussten sehr genau, wie wichtig er für sie war.

Zumindest ein Vorteil, wenn man das Objekt der Begierde einer Vampirkönigin war. Der einzige verdammte Vorteil, der ihm überhaupt einfiel.

Die Vampire, die den Eingang bewachten, natürlich Wächtervampire, lungerten unter dem Vorsprung herum, der sie während des Tages vor dem Sonnenlicht schützte. Da es erst kurz nach zwölf war, konnten sie sich nicht frei auf dem Vorsprung bewegen, sodass sie die Bergseite und die grasbewachsenen Hänge nicht voll im Blick hatten.

Obwohl Max Victoria, Brim und Michalas nicht sehen konnte, weil sie sich versteckt hatten, wusste er, dass sie in der Nähe waren und nur auf sein Zeichen warteten.

Wie schon bei anderen Gelegenheiten trat er direkt vor die Vampire. »Ich bin hier, um Lilith zu sprechen«, verkündete er. Er hielt einen Pflock an der Seite, sodass sie ihn sehen konnten. Es war nicht sein Lieblingspflock mit den silbernen Intarsien; deshalb würde er seinen Verlust verschmerzen.

»Konnten sich wohl nicht fernhalten, was?«, meinte einer der Wächter.

»Offensichtlich nicht.« Max trat näher, als ein zweiter Wächter dazukam. »Hat sie immer noch diesen Fatzke Vioget bei sich?«

»Er ist da drin. Sind wir etwa ein bisschen eifersüchtig?«

»Kein bisschen«, erwiderte Max. Mehr hatte er nicht wissen müssen. Er stürzte sich auf den Vampir, wobei er mit den Füßen vom Boden abhob, als er gegen den Untoten krachte.

Der Wächter stürzte auf den Fels, und Max machte eine geschmeidige Drehung und stieß dem zweiten Wächter den Pflock in die Brust. Dann wirbelte er wieder zu dem auf dem Boden herum. Puff.

Als sich die Asche der beiden Wächter gelegt hatte, kamen Victoria, Brim und Michalas gerade auf den Felsvorsprung geklettert, nachdem sie ihr Versteck verlassen hatten. Max wollte schon zum Eingang gehen, als Victoria seinen Arm packte und ihn wegzog.

»Was ist?«, fragte er und sah die anderen an. Sie betraten schon die Höhle wie abgesprochen, und er wollte hinter ihnen her.

»Ich...« Sie schaute zu ihm auf, und ihr aufgeschürftes Gesicht mit den blauen Flecken war so schön und auch so entschlossen, dass ihm die Brust ganz eng wurde. »Ich liebe dich.«

»Das weiß ich. Was sonst noch?«, fragte er. Er umfasste seinen Pflock fester und wartete darauf, dass sie ihm weitere Anweisungen gab.

Sie sah ihn nur an und blinzelte. »Oh.«

»Sonst noch etwas?«

»Nein. Lass uns an die Arbeit gehen.« Sie lächelte, und dann verschwand vor seinen Augen die Weichheit aus ihrem Gesicht, und sie wurde zur Kriegerin.

Der Blick ihrer grün-gold gesprenkelten Augen wurde durchdringend; ihr Mund, der einen tiefen Schnitt in der Unterlippe hatte, wurde fest; das Kinn hob sich. Das kurze, lockige Haar hing ihr wild zerzaust um Wangen und Kinn, sodass sie aussah, als wäre sie eben nach einer langen Nacht im Bett aufgestanden, und in einer Hand schwang sie einen Pflock.

Trotz der Kraft und des Selbstvertrauens, das sie ausstrahlte, verspürte Max den plötzlichen, instinktiven Wunsch, sie zurückzuhalten und zuerst hineinzugehen... ja, sie sogar wieder den Berg hinunterzuschicken. Aber genauso schnell verdrängte er ihn wieder. Er würde ohnehin kein Gehör finden.

Also holte er tief Luft und folgte ihr in den hohen Felsspalt.

Sie trägt zwei vis bullae.

Trotzdem spürte Max Angst in sich aufsteigen, als sie vor ihm durch den Gang stürmte. Ihre Gestalt war so viel schmaler und kleiner als die der anderen.

Doch dann hatte Max keine Zeit mehr, sich Sorgen zu machen, denn plötzlich strömten ganze Horden von Untoten aus dem Berg. Die Vampire, die rote, rosafarbene oder rubinrot glühende Augen hatten, stürmten in dem hohen Gang auf die vier Venatoren zu. Wächtervampire hatten sie alarmiert, um die Eindringlinge abzuwehren.

Die schon vertraute Kraft durchströmte ihn, geschmeidige Bewegungen und das befriedigende Gefühl seiner Muskeln, die sich unter der Haut anspannten. Er war bereit zum Angriff. Nachdem er monatelang ohne diese Kraft, die einem Venator durch seine vis bulla verliehen wurde, gekämpft hatte, bedeutete diese Auseinandersetzung fast schon eine erfreuliche Abwechslung.

Seine Schnelligkeit war zurückgekehrt, ebenso wie die außergewöhnliche Kraft, an die er früher gewöhnt gewesen war, und das völlige Fehlen von Beschwerden statt Schmerzen, Atemlosigkeit, Beklommenheit.

Er war nicht so dumm, völlig eingenommen von sich zu sein oder den Kampf auf die leichte Schulter zu nehmen. Besonders, weil Victoria ja auch mit drinsteckte und Lilith wie eine Spinne irgendwo tief in der Höhle wartete. Aber allein die Freude darüber, wieder ganz zu sein, verlieh ihm noch mehr Kraft und Wendigkeit.

Die Luft hing voll untoter Asche, und jeder leise Knall hallte wie ein kurzer Schlag in dem Gang wider. Aus dem Augenwinkel bekam er mit, wie Victoria sich anmutig auf einen Wächtervampir stürzte, der doppelt so groß war wie sie, und ihn mit einem einzigen gut gezielten Stoß ihres Pflocks unschädlich machte. Sie stieß sich ab, wirbelte herum und wandte sich ihrem nächsten Opfer zu. Beruhigt setzte Max zu einem kurzen Sprung an und warf sich auf eine Gruppe von Untoten, die er wie Puppen gegen die Wand krachen ließ.

Er konzentrierte sich ganz auf den Kampf. Wie immer schien um ihn herum alles langsamer zu werden, sodass er reichlich Zeit hatte, zu schlagen und zu treten, herumzuwirbeln und zuzustoßen, ehe seine Gegner wussten, wie ihnen geschah. Er hob vom Boden ab. Er fühlte sich schwerelos und frei, als er leichtfüßig durch den Gang schwebte und glitt.

Sie kamen gut voran und drängten die Vampire bis zu der Stelle des Unterschlupfs zurück, wo sich die Gänge in unterschiedliche Richtungen verzweigten. Max wusste, dass Liliths Gemächer zur Rechten lagen, aber wohin der linke oder auch der mittlere Gang führte, hatte er nie herausgefunden.

Im Verlaufe des Kampfgeschehens fand er sich plötzlich auf der linken Seite wieder, wo er es mit einem Imperialen aufnehmen musste, dessen Klinge gefährlich funkelte und blitzte. Er und Max umkreisten sich im Gang und drangen dabei immer tiefer in ihn vor, bis sie das Kampfgetümmel der anderen hinter sich gelassen hatten.

Während Max zustieß und sich drehte, auswich und angriff, war ihm nur zu bewusst, dass er Victoria, die sich mitten im Kampfgeschehen befand, nicht mehr sehen konnte.

Sie ist Illa Gardella.

Er sprang und stieß sich den Arm an der Felswand, denn der Gang war jetzt deutlich schmaler und nicht mehr so hoch. Der Imperiale lachte und riss seine Klinge hoch, die Max' rechten Arm aufschlitzte, sodass Blut hervortrat. Die Augen des Vampirs glühten, und er griff erneut an. Max landete auf dem Boden und schlug einen Salto, sodass er direkt vor dem Vampir aus der Hocke hochkam. Mit seiner Aufwärtsbewegung brachte er den Vampir aus dem Gleichgewicht, und Max half nach, indem er ihn mit einem kraftvollen Stoß gegen die Wand krachen ließ.

Sie trägt zwei vis.

Der Vampir sackte in sich zusammen, und das Schwert fiel klappernd zu Boden. Max beugte sich nach vorn, stieß ihm den Pflock in die Brust und wirbelte dann gerade rechtzeitig herum, um seinen nächsten Angreifer abzuwehren.

Und so ging es immer weiter, einer folgte dem anderen. Er griff an und wehrte ab und bemühte sich, an nichts anderes zu denken, während er versuchte, sich zum Hauptgang zurückzubewegen.

Ais er endlich den letzten Untoten erledigt hatte, der dumm genug gewesen war, ihm nachzusetzen, klopfte Max sich schwer atmend die Asche von der Kleidung und bemerkte plötzlich lautes Geschrei hinter sich.

Er drehte sich um und stellte fest, dass er in einer Nische gelandet war, in der sich hinten eine schwere Holztür befand. Oben in die Tür war ein kleines Fenster geschnitten worden, welches mit Gitterstäben gesichert war, und er trat an die Tür, um hindurchzusehen.

In dem Raum dahinter befanden sich mehr als ein Dutzend Menschen, die dicht zusammengedrängt weinten, klagten und flehten. Sterbliche. Liliths höchsteigene Speisekammer.

»Gütiger Himmel«, sagte er und begann die Tür aufzubrechen, obwohl eigentlich das drängende Verlangen an ihm nagte, nach Victoria zu sehen. »Haltet aus. Ich bin da, um zu helfen«, rief er, als er auch schon die Gegenwart eines weiteren Un toten hinter sich spürte.

Er umfasste seinen Pflock fester und drehte sich um.