Kapitel 2

In dem die Dienste unserer Heldin in Anspruch genommen werden

 

Dass Sie ausgerechnet mich um Hilfe bitten, entbehrt nicht einer gewissen Ironie«, erwiderte Victoria. Sie hatte versucht, keinen sarkastischen Tonfall anzuschlagen, aber angesichts des beschämten Ausdrucks auf Georges Gesicht war ihr das wohl nicht so ganz gelungen.

Aber er gab nicht auf und zeigte damit eine Hartnäckigkeit, die sie so bei ihm nicht erwartet hätte. Diesmal schaute er ihr nicht erst in den Ausschnitt. »Ja, wahrscheinlich ist es verrückt, aber es gibt einfach keinen anderen, der helfen könnte.«

Victoria konzentrierte sich einen Moment lang ganz auf den Walzer, wenn auch nur, um angesichts seiner Bemerkung nicht laut herauszulachen. Im Verlauf des letzten Jahres hatte er sie im Auftrag unterschiedlicher Schurken - darunter Vampire und ein Dämon - fangen wollen. Und das, nachdem er sich eines Nachts in ihr Schlafzimmer und Bett geschlichen und versucht hatte, sie zu küssen. Natürlich war er damals hereingelegt und von einem boshaften Sebastian angespornt worden... aber trotzdem. Und so konnte sie nicht verhindern, dass sich ein Lächeln auf ihre Lippen stahl, obwohl sie sich so sehr bemühte, sich nur aufs Tanzen zu konzentrieren.

»Sie sollten wirklich der allerletzte Mensch auf Erden sein, an den ich mich hilfesuchend wende, nachdem Sie meine Schwester umgebracht haben«, stieß George bitter hervor. »Aber mir bleibt nichts anderes übrig.«

»Das ist nun einmal das, was ich mit Vampiren mache, George. Ich pfähle sie«, rief Victoria ihm trocken in Erinnerung. »Und Sie... Sie schützen diese Kreaturen und dienen ihnen. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich Ihnen Ihrer Meinung nach helfen könnte oder sollte.«

»Sie sind alle fort«, erklärte er. »Seitdem Sie Liliths Plan, King George zu ermorden, vereitelt haben, ist sie fortgegangen und hat sie mitgenommen. Fast alle.« Grimmig verzog er den Mund. »Und da brauche ich jetzt Ihre Hilfe.«

»Inwiefern? Ist da etwa ein Vampir, der nicht mit Lilith mitgegangen ist und den ich jetzt für Sie verjagen soll?« Victorias Worte

waren als Scherz gemeint gewesen, doch als sich sein Gesicht vor Entsetzen verzog, merkte sie, dass ihre schnodderige Bemerkung genau den Punkt getroffen hatte. »Das ist es also tatsächlich?«

George umfasste ihre Taille fester und zog sie dichter an sich, um durch einen Richtungswechsel den Zusammenstoß mit einem anderen Tanzpaar zu verhindern. »Sie will nicht gehen«, gab er zu. »Ich war etwas ... äh ... eingenommen von ihr, aber sie wird immer fordernder. Ich will, dass sie geht.«

»Sie fordert? Was denn? Dass die Vorhänge zugezogen werden, damit keine Sonne hereinkommt? Ach nein, frisches Blut natürlich. Lässt sie Sie Kaninchen und Mäuse fangen? Zum Schlachter gehen?« Victoria merkte, dass ein Kichern in ihr aufsteigen wollte, und unterdrückte es, während sie sich vorstellte, wie George zwischen Schlachter und Mausefallen hin und her hetzte. Es war etwas ganz Ungewöhnliches in der Welt, in der sie lebte - einer Welt, in der Sterbliche gegen Untote kämpften —, dass sie mit einer Situation konfrontiert wurde, die bei ihr Erheiterung hervorrief.

Doch dann wurden ihre Augen ganz schmal. »Sie tun gut daran, George, ihr keine Menschen zu bringen. Denn sonst werde ich Sie höchstpersönlich töten.« Das war eine leere Drohung; natürlich würde sie George nicht umbringen. Er war ein Mensch, wenn auch ein unerträgliches Mitglied der Rasse, die sie zu schützen hatte, egal, was es kostete. »Nein, vielleicht fessle ich Sie einfach und lasse sie dann auf Sie los.«

Er schluckte, und ihm gelang ein gequält wirkendes Lächeln. »Dafür ist es zu spät, Victoria.« Er ließ ihre Hand los, um den hohen, gestärkten Kragen vom Hals zu ziehen. Darunter kamen vier hochrote Bissspuren zum Vorschein. Sie waren so frisch, dass sein Kragen von innen mit Blut beschmiert war.

»Davon abgesehen habe ich ihr nur zwei Menschen zugeführt...« Er musste wohl gespürt haben, wie Victoria sich unter seinen Händen anspannte, denn er fuhr schnell fort: »Sie waren willig, das schwöre ich. Die wollten wissen, wie das ist.« Er beugte sich nach vorn, und ein boshaftes Grinsen verzerrte plötzlich seine Lippen. »Sogar Ihre liebe Lady Fenworth wollte es, Victoria.«

»Lady Nilly?« Victoria zweifelte keine Sekunde lang an seinen Worten. Seit Polidoris Buch war die zwitschernde, ältliche Dame fasziniert von Vampiren - oder zumindest von den romantisierten literarischen Geschöpfen.

George nutzte den Moment, um weiter in sie zu dringen. »Wenn Sie mir nicht helfen, nehme ich sie zu einem Besuch bei Maybelle mit.« Er schien zu glauben, dass seine Ankündigung die perfekte Gelegenheit wäre, Victorias Ausschnitt genauer in Augenschein zu nehmen.

»Maybelle?« Victoria geriet aus dem Takt und wäre George dabei fast auf den Fuß getreten. Das war ihr seit ihrem Debüt nicht mehr passiert. Damals hatte sie allerdings all ihre Venatorenkraft in den kleinen, spitzen Absatz gelegt, als sie dem widerlichen Lord Beetleton auf die Zehen getreten war. In diesem Fall war das Bedürfnis nicht ganz so groß, obwohl die Aussicht ebenfalls verlockend war. George linste ihr immer noch in den Ausschnitt.

»Sie sprechen nicht etwa von Miss Maybelle Felicity-Underwood, von der es heißt, sie sei mit einem Mann, mit dem sie um zehn Ecken verwandt ist, nach Gretna Green durchgebrannt?«, fragte sie und bohrte ihm einen spitzen Fingernagel hinten in den Hals.

»Genau die«, erwiderte George. Er besaß den Anstand, ihr

wieder ins Gesicht zu sehen, und während die Musik verklang, führte er sie an den Rand der Tanzfläche zurück. »In letzter Zeit wird viel über Leute geredet, die weggelaufen sind, nicht wahr? Es erscheint mir besser, als das Gerücht zu verbreiten, sie seien auf See verschollen, oder was meinen Sie, Lady Rockley?« Es war das erste Mal, dass er sie mit ihrem Titel ansprach, und das mit voller Absicht.

Victoria behielt eine ausdruckslose Miene bei und ließ sich von George ins große Foyer des Hauses führen. Seine Anspielung auf die Geschichte, die Victoria verbreitet hatte, um den Tod und das Verschwinden ihres Gatten Phillip zu erklären - dass er auf einem Schiff gestorben wäre -, erinnerte sie an den niederträchtigen Bemis Goodwin. Goodwin war ein Bow Street Runner und der Bruder eines Vampirs gewesen, den sie im ersten Jahr, nachdem sie Venator geworden war, gepfählt hatte. Goodwin war fest entschlossen gewesen, sie wegen Mordes der Obrigkeit zu überstellen, und beinahe wäre es ihm gelungen, sie nach Newgate zu bringen.

Das Problem im Falle Goodwins - und in jedem anderen Fall, bei dem es um den Tod eines Vampirs ging - war, dass es keine Leiche gab. Nachdem man einen Untoten gepfählt hatte, blieb nur ein Häufchen stinkender Asche übrig. Deshalb war es notwendig, sich eine plausible Geschichte auszudenken, die das plötzliche Verschwinden von Menschen wie Phillip und dann dem neuen Marquis von Rockley (der ein Hochstapler gewesen war), von Gwendolyn Starcasset, Georges Schwester, und jetzt

offensichtlich auch Miss Maybelle Felicity-Underwood erklärte.

»Sie wollen also, dass ich Ihnen helfe, Miss Maybelle loszuwerden, die zur Untoten geworden ist und die mit irgendjemandes Hilfe den guten Namen eines mit ihr verwandten Mannes

in den Dreck gezogen hat. Sagen Sie mal, George, wie konnte das passieren?«

Sie blieb am Rand des Ballsaales stehen und sah ins Foyer. Noch immer trafen neue Gäste ein, obwohl schon gut drei Dutzend da waren. Energisch entzog sie ihren Arm seinem festen Griff und trat einen Schritt von ihm weg, um ihm in die blassblauen Augen zu schauen.

»Dieser weit entfernte Verwandte von ihr ist ein Schwein und ein Dummkopf und leistet höchstwahrscheinlich gerade den Fischen auf dem Grund der Themse Gesellschaft«, meinte George ganz ungezwungen.

»Das bedeutet wohl, dass Miss Maybelle einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Blutes getrunken hat, ehe sie sich seiner entledigt hat. Oder haben Sie das für die Dame besorgt?«

George besaß so viel Anstand, den Blick abzuwenden. »Er war ein Schwein«, wiederholte er, und Trotz schwang in seiner Stimme mit.

»Aber immer noch ein Mensch. Zufälligerweise kenne ich auch ein paar Typen, die in die Kategorie Schwein fallen.« Sie bedachte ihn mit einem bedeutungsvollen Blick. »Aber ich würde nie so weit gehen, sie an die Fische zu verfüttern — oder an Untote.« Sie schürzte die Lippen und genoss es beinahe zu beobachten, wie George sich wand. An den Vorgängen, an denen er beteiligt gewesen war, gab es natürlich nichts Belustigendes, und wenn je ein Mensch für eine wohlverdiente Strafe prädestiniert gewesen war, dann George Starcasset. Die sehr ernst zu nehmende Drohung, er könnte Lady Nilly mit hineinziehen, war der einzige Grund, warum sie sich überhaupt noch mit ihm befasste und es ihm nicht selbst überließ, sich um seine Vampirfreundin zu kümmern.

»Haben Sie etwas mit der Verwandlung des Mädchens zu tun?«, fragte sie noch einmal.

Ein nervöses Lächeln zuckte um seinen Mund, und seine Wangen rundeten sich noch stärker als sonst. Diese Weichheit seiner Gesichtszüge ließ ihn noch jungenhafter wirken. »Äh... sie war neugierig, und da hat Gwennie eben nachgeholfen... und im nächsten Moment hatte sie auch schon rote Augen und Fangzähne. Und«, fügte er hinzu und schluckte dabei, »sie entwickelte eine gewisse Anhänglichkeit an mich.«

Victorias Augenbrauen hoben sich. »Und was meinte die gute Sara Regalado zu dieser Anhänglichkeit? Sie beide schienen doch recht eng verbunden zu sein, wann immer Sie gemeinsam auftraten.«

Sara Regalado war ein mächtiges Mitglied der Tutela gewesen. Sie war so weit gegangen, Menschen zu opfern, ganz egal, ob sie nun willig waren oder nicht. Ihr Vater, der Conte Regalado, war der Anführer der Tutela in Rom gewesen, ehe er zu einem Vampir wurde und versucht hatte, Lady Melly zu betören.

Sara war mittlerweile tot, aber sie hatte im letzten Jahr bei Victorias Abenteuern eine wichtige Rolle gespielt; die junge Frau hatte sich erst mit ihr angefreundet und dann verkündet, dass sie mit Max verlobt wäre. Später hatte sich herausgestellt, dass es nur eine Finte von Max gewesen war, um sich in die Tutela einzuschleusen.

Anfang des Sommers waren Sara und George wieder in London aufgetaucht, nachdem Max den Dämon Akvan in Rom getötet hatte — der auch ihr Herr gewesen war.

»Sie fand es ziemlich amüsant, wenn Sie es unbedingt wissen wollen«, gab George zu. »Sie liebte es, dabei zuzusehen, wie Maybelle trank.«

Victoria nickte. Sie erinnerte sich daran. Sara hatte es außerordentlich genossen, den Untoten dabei zuzusehen, wenn sie Blut tranken. »Wenn sie Ihr Blut trank natürlich.«

Er wandte den Blick ab und knirschte so stark mit den Zähnen, dass sein Kinn sich bewegte und hörbar knackte. »Ich bin fertig mit Vampiren«, stieß er hervor und sah sie wieder an. »Helfen Sie mir dabei, sie loszuwerden?«

Victoria sah an ihrem herrlichen Kleid herab. Seit sie Venator war, stand Mode nicht mehr sehr weit oben auf der Liste ihrer Prioritäten... aber das Gewand war neu. Und nach ihrem Hochzeitskleid das schönste Kleid, das sie je besessen hatte. Verbena würde bestimmt schimpfen. Sie wollte nicht, dass es zerriss oder Flecken bekam. Andererseits lag es bereits zwei Wochen zurück, dass sie ihren letzten Vampir gepfählt hatte. Ihre Finger hatten bereits angefangen zu jucken. Und dann war da auch noch die Tatsache, dass die ungeklärte Situation mit Max sie in einen Zustand ständiger Frustration versetzte.

Es würde eine leicht zu erledigende Aufgabe sein. Vielleicht wäre es sogar möglich, erst Maybelle zu pfählen und dann gleich wieder zum Tanzabend zurückzukehren, ohne dass jemand mitbekam, dass sie überhaupt weg gewesen war.

»Es gibt da ein paar Bedingungen«, erklärte sie George mit strenger Miene.

Seine Augen leuchteten hoffnungsvoll auf. »Dann tun Sie es also?«

Sie nickte kurz und rasselte dann ihre Forderungen herunter. »Wir nehmen meine Kutsche. Sobald wir bei Ihnen angekommen sind, steigen Sie aus und sorgen dafür, dass Maybelle zu mir in die Kutsche kommt. Es ist mir egal, was Sie ihr erzählen: dass Sie ein Opfer für sie haben oder sonst was. Sobald sie in der Kutsche ist, werde ich sie für Sie ins Jenseits befördern. Und ab dann«, erklärte sie und funkelte ihn böse an, »werden Sie sich von der Tutela und den Untoten fernhalten. Sollte ich je herausfinden, dass Sie sich wieder mit ihnen eingelassen haben — oder auch nur daran denken, sich mit irgendwelchen Untoten im Mondlicht herumzutreiben -, werde ich Sie töten.«

Er nickte nachdrücklich. »Natürlich, klar.«

Sie fixierte ihn lange und eindringlich und sah nur hoffnungsvolle Ernsthaftigkeit in seinen Augen. Zumindest jetzt meinte er, was er gesagt hatte. »Und wenn es mir in den Sinn kommt, werde ich egal wann und egal in welcher Form eine Gefälligkeit einfordern, die Sie mir für diese Sache schulden.«

»Einverstanden.« Nachdem er bekommen hatte, worum er sie gebeten hatte, ließ George seinen Blick wieder zu ihrem Ausschnitt wandern.

Victoria seufzte. »Dann lassen Sie uns gehen.«

»Heute Abend? Sie erledigen es gleich heute Abend?« Er sah so aus, als hätte sie ihm angeboten, sich gleich hier an Ort und Stelle die Kleider vom Leib zu reißen.

»Natürlich. Oder glauben Sie, ich würde zusehen, wie Sie ihr noch einmal jemanden zufuhren, dessen Blut sie trinken kann?« Sie setzte sich Richtung Ausgang in Bewegung, und er folgte ihr wie ein treues Hündchen.

Max musterte die Gäste im Ballsaal nebenan und achtete darauf, sich nicht vom Rand des Foyers des Hauses der Herzogin wegzubewegen. Er hatte keine Lust, in die Fänge einer ehrgeizigen Mutter des ton zu geraten, die der Meinung war, er wäre der passende Ehemann für ihre dünne, blasse, sommersprossige oder redselige Tochter, obwohl er weder der guten Gesellschaft Londons angehörte noch ein italienischer Adliger war. Einige schienen tatsächlich jeden unverheirateten Mann, der noch in der Lage war zu gehen (und bei manchen war nicht einmal das ein Ausschlusskriterium) und zu gesellschaftlichen Ereignissen geladen wurde, als potenziellen Heiratskandidaten zu betrachten.

Er wäre heute Abend lieber zu Hause geblieben, nachdem er wusste, dass Victoria ausgegangen war und ihn nicht im kalari stören würde... in jenem Raum, der dem Training in ostasiatischer Kampfkunst vorbehalten war. Er hatte überlegt, Kritanu zu bitten, mit ihm zu arbeiten, und ihn damit vielleicht ein wenig von seinem Kummer abzulenken - aber dann hatte er hierherkommen müssen.

Verflixt. Wo zum Teufel war sie eigentlich?

Schließlich war der Stoff dieses verdammten roten Kleides -das bisschen, was davon vorhanden war — nicht leicht zu übersehen; besonders bei all dem blassen Rosa, Blau, Grün und Gelb, das den Raum bevölkerte. Allmächtiger.

Was hatte die Herzogin denn da an? Es war schockierend... orange. Sogar von der Stelle aus, wo er stand, konnte er die Dunstwolke riechen, die sich aus den unterschiedlichen Parfüms der Damen und Herren zusammensetzte; wie erstickend musste es dann erst im Ballsaal selber sein?

Er würde sich am Rand der Tanzfläche entlang zu den Verandatüren einen Weg bahnen müssen, um im Garten nach Victoria zu suchen.

Gerade wollte er sich in Bewegung setzen, als er ein paar Worte einer hinter ihm geführten Unterhaltung aufschnappte: »... in diesem roten Kleid.«

Max drehte sich um und richtete den Blick auf zwei Männer, die dicht nebeneinander standen und lüstern kicherten.

Der eine war der Butler, dem Max nicht erlaubt hatte, seine Ankunft laut anzukündigen, und der andere schien ein Lakai oder anderer Hausbediensteter zu sein.

»Das ist echt 'n Glückspilz, der die in die Finger bekommt«, sagte der Lakai gerade, den Max auf Anhieb aufgrund seiner großen, feuchten Lippen für den Vulgäreren der beiden einschätzte. »Die sieht so aus, als wäre sie reif zum Pflücken.«

Max trat zu ihnen, und die beiden Männer beendeten ihre nicht sonderlich leise geführte Unterhaltung, um sich aufzurichten.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Mylord?«, fragte der Butler.

Max war eigentlich kein Lord, aber er unterließ es, den Mann darauf hinzuweisen. Je höher der Stand, den man ihm zuschrieb, desto größer seine Chance, die Informationen zu bekommen, die er brauchte. Natürlich gab es auch immer noch die Möglichkeit, die Köpfe der beiden Männer mit Wucht gegeneinanderzuhauen. »Haben Sie da gerade von Lady Rockley gesprochen?«

Der Butler richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Damit war er sogar noch größer als Max, aber er wog bestimmt zehn oder zwanzig Kilo weniger und war auch nicht so schnell und wendig. Sein Adamsapfel hüpfte über den hohen Kragen seines Hemds. »Was ist mit Lady Rockley?«

»Ich bin auf der Suche nach ihr.« Die beiden Männer gaben keinen Ton von sich, und der Lakai wirkte leicht beunruhigt. Eigentlich war er kaum mehr als ein Junge. Doch als Max in dem Alter gewesen war — sechzehn oder vielleicht siebzehn —, hatte er bereits seit mehr als einem Jahr Jagd auf Vampire gemacht. Auf eigene Faust und ohne den Schutz seiner vis bulla.

»Ich bin mir nicht sicher...«

Max trat noch einen Schritt näher. »Ich empfehle Ihnen«, meinte er, und seine Stimme troff von gespielter Freundlichkeit, »dass Sie aufhören, Ausflüchte zu machen, und mir sagen, wo sie ist. Und«, fugte er hinzu, und seine Stimme wurde so leise, dass die Lider des Lakaien zu flattern begannen, »ich empfehle Ihnen, damit aufzuhören, in so unschmeichelhafter Weise über die Marquise zu sprechen.«

Der Butler schluckte. »Sie ist vor einiger Zeit gegangen, Mylord. Mit... äh...«

»Ja?«

»Mit einem blonden Mann«, ergänzte der Lakai, der offensichtlich ganz besonders hilfsbereit sein wollte, um Max' Zorn von sich abzuwenden.

Ein blonder Mann. Vioget?

»Ging sie freiwillig mit? Ich meine, war sie bereit zu gehen? So früh?«

Der Butler nickte, aber man merkte ihm deutlich an, dass er zögerte. Er war sich offensichtlich nicht sicher, ob Max nun verärgert oder erfreut darüber war, dass Victoria die Feier verlassen hatte. Da waren sie schon zu zweit. »Sie... äh... lächelte und lachte ein bisschen, kurz bevor sie gingen, Mylord.«

Dann war es ganz bestimmt Vioget gewesen. Das war gut. Vielleicht hatten die beiden überhaupt vorgehabt, sich hier zu treffen, und Victoria hatte sich entschlossen, ihm nichts davon zu erzählen. Das würde ihn nicht weiter überraschen.

»In wessen Kutsche sind sie fortgefahren?« Das spielte eigentlich keine Rolle. Vioget würde jedes Fahrzeug zu nutzen wissen, und schon bald wäre das tiefrote Kleid nur noch ein zusammengeknüllter Haufen. Vielleicht zerriss es aber auch unter seinen

übereifrigen Händen. Der Stoff war so fein, dass er schon bei der leisesten Belastung nachgeben musste.

»In der von Mylady, Mylord. Die beiden haben ihre Kutsche genommen.«

Zufriedengestellt trat Max zurück. Trotzdem bereitete ihm irgendetwas Unbehagen. Er unterdrückte das Gefühl und wandte sich ab, um zu gehen. Es war wirklich nicht so schrecklich wichtig, Victoria heute Abend noch einmal zu sehen.

Aber wenn es nun doch nicht Vioget war? Wenn sie doch mit einem anderen Mann weggefahren war?

»Der Mann, wie groß war er? Was wissen Sie sonst noch über ihn? Wissen Sie, wie er heißt?«

Und dann war sie plötzlich da. Genau in seiner Blickrichtung.

»Max?« Überraschung schwang in ihrer Stimme mit, als sie durch die Haustür ins Foyer trat. Es war tatsächlich ein blonder Mann an ihrer Seite. Nur war es nicht Vioget.

Was zum Teufel hatte sie ausgerechnet mit George Starcasset in ihrer Kutsche zu tun gehabt?

Max riss seinen Blick von Victoria los und richtete ihn auf ihren Begleiter. Doch trotz des kurzen Moments war ihm nicht entgangen, dass ihre Frisur nicht mehr ganz saß und einer ihrer Handschuhe fehlte.

Max sah Starcasset kalt an. Der Mann gab sich noch nicht einmal den Anschein von selbstsicherer Großspurigkeit, was jedoch nicht weiter überraschte. Schließlich hatte er keine Waffe zur Hand, mit der er sich hätte aufspielen können. Die runden Wangen des Mannes waren leicht gerötet, als er eine Verbeugung andeutete. »Signore Pesaro«, grüßte er förmlich. »Wir sind gerade zurückgekommen.«

»Das sehe ich.« Max wagte nicht, mehr zu sagen; denn er traute seiner Stimme nicht und war sich nicht sicher, wie er wohl reagieren würde. Es waren einfach zu viele Menschen um sie herum, und wenn er sich auf eine Diskussion einließ, würde das höchstwahrscheinlich damit enden, dass sich seine Finger um die Kehle des anderen schlossen — sein Ruf, seine legendäre Selbstbeherrschung betreffend, würde dadurch argen Schaden erleiden.

Wo zum Teufel war eigentlich Vioget? Warum war er nicht auf diesem verdammten Tanzabend und schützte seine Interessen?

»Max, was machst du denn hier?«, fragte Victoria, während sie näher kam. Sie bedachte ihn mit einem scharfen Blick, in dem nicht einmal ein Hauch von Scham lag, sondern fast so etwas wie Selbstgefälligkeit. Zur Hölle! »Hattest du vielleicht doch Lust auf einen Walzer?«

»Ich bin hergekommen, um dich wegen einer ziemlich dringenden Sache zu sprechen«, erklärte er und verdrängte dabei schnell die Erinnerung an das erste und einzige Mal, als sie miteinander Walzer getanzt hatten. Er tanzte nicht gern, aber er konnte es ziemlich gut, und das freudige Aufleuchten, ganz abgesehen von der Überraschung in ihren Augen, war es wert gewesen, diese lächerliche Übung zu absolvieren. Er starrte Starcasset finster an. »Allein.« In einer Kutsche.

Nein.

Victorias rote Lippen zogen sich in den Winkeln nach oben, sodass sich mehrere kleine Grübchen in ihren Wangen bildeten. »Aber natürlich, Max.« Da war dieser wissende Ton in ihrer Stimme, dieser lockende Ton, als sie zu ihm aufschaute, als wüsste sie — sie wusste es tatsächlich -, wie verdammt unbehaglich er sich fühlte.

Verflixt und zugenäht. Er hätte London schon vor Wochen verlassen sollen.

Er hätte Vioget ausfindig machen und an seiner Stelle hierher schicken sollen.

Er hätte einfach nur eine Augenbraue hochziehen und sie mit arroganter Miene von oben herab ansehen sollen, während er sie fragte, ob sie bereit wäre, jetzt Vampire zu jagen, oder ob sie es für wichtiger hielte, erst alle Männer auf ihrer Tanzkarte zu beglücken.

Aber das war jetzt so viel schwerer. Danach. Seitdem.

Da stand so viel zwischen ihnen.

Victoria schob ihre Hand unter Max' Arm, ehe er reagieren konnte, und drückte Hüfte, Oberkörper, Bein an seinen Körper. »Gute Nacht, George«, verabschiedete sie Starcasset ganz gelassen, als würde sie nicht gerade fast mit Max verschmelzen. Verdammter Mist. »Vergessen Sie unsere Vereinbarung nicht. Ich werde mein Versprechen halten.«

»Natürlich. Vielen Dank noch mal, Lady Rockley.«

»Lass uns gehen«, fuhr Max sie an und löste sich von dem roten Kleid und der Frau, die es trug. Als er sich umdrehte, stieß er fast mit ihr zusammen, und er sah zum ersten Mal den schmalen roten Striemen auf ihrem Hals. »Was zum Teufel ist das denn?«

Ohne überhaupt zu überlegen, berührte er die Stelle und erkannte, dass es ein schmaler, mit getrocknetem Blut bedeckter Kratzer war, der fast unter dem Haaransatz verschwand und weiter in ihrem Nacken verlief. Kein Vampirbiss.

Ehe sie etwas erwidern konnte, packte er ihren Arm, brachte sie auf Abstand zu sich und setzte sich mit ihr Richtung Haustür in Bewegung. »Lassen Sie die Kutsche vorfahren«, fuhr er einen glotzenden Lakaien an, der sich wahrscheinlich wegen Max' Gesichtsausdruck fast in die Hosen machte.

»Mein Gott, Max, du brauchtest doch nicht so grob zu dem armen Mann zu sein«, meinte Victoria.

Er beachtete sie nicht. Und ausnahmsweise einmal machte Victoria den Mund zu und sagte nichts, während sie auf die Kutsche warteten.

Die Kutsche. Die kleine, dunkle, geschlossene Kutsche.

Verdammter Mist.