Kapitel 3
In dem unsere Heldin zum Missfallen ihres Begleiters eine vergangene Begebenheit aufgreift
Victoria stieg wieder in das Gefährt, das sie erst vor ein paar Augenblicken verlassen hatte. Der Geruch von Maybelles Asche hing immer noch in der Luft, und sie hätte schwören können, dass sie hörte, wie Max schnupperte, als er nach ihr in die Kutsche kletterte.
Sie hatte ihre Röcke noch nicht fertig gerafft und sicher in der Kutsche untergebracht, als er sich an ihr vorbeidrängte und auf der gegenüberliegenden Bank breitmachte. Er setzte sich genau in die Mitte und zeigte durch seine gesamte Körperhaltung, dass er den Platz auf jeden Fall ganz allein für sich beanspruchte.
Der Lakai schloss den Schlag, und Victoria hörte, wie das Schloss einrastete. Im Innern der Kutsche war es dunkel und stickig. Ihr Korsett fühlte sich plötzlich so eng an, dass sie Schwierigkeiten hatte, Luft zu holen.
»Was ist eigentlich aus deiner Souveränität geworden?«, sagte sie, während sie ihm gegenüber in die Polster sank. Sie ließ sich Zeit beim Glätten ihrer Röcke; es bereitete ihr ein beinahe schon abartiges Vergnügen, sie an seiner Hose entlanggleiten zu lassen, die durch Stege unter den Füßen straff und glatt gehalten wurden, genau wie es der gegenwärtigen Mode entsprach.
Fragend zog er eine Augenbraue hoch. Sein Gesicht wurde zur Hälfte von der kleinen Laterne erhellt, die in der Ecke über Victoria hing. Natürlich hatte er sich auf die Seite gesetzt, die nicht so gut beleuchtet war.
Sie nahm das Zucken seiner Augenbraue als Zeichen, sich genauer zu erklären. »Die Botschaft«, erklärte sie und deutete auf seinen lang hingestreckten Körper, »entbehrt deiner sonst so subtilen Art.«
Seine Lippen verzogen sich, als müsse er ein Lächeln unterdrücken.
»Tatsächlich«, fuhr sie fort, »ist es der unbeholfene Versuch, dich vor etwas zu schützen, das du gar nicht wissen willst.« Sie streifte sich den einzelnen Handschuh ab, den sie immer noch anhatte, und sah ihm erwartungsvoll ins versteinerte Gesicht. Ihr Mund war plötzlich ganz trocken, und sie schluckte vorsichtig, während sie die Spannung zu ignorieren versuchte, die auf einmal zwischen ihnen herrschte.
»Wirst du mir nun erzählen, was du mit George Starcasset gemacht hast, oder willst du weiter über Dinge reden, die gar nicht da sind?«
»Warst nicht du derjenige, der mich gesucht hat, weil er mich in einer dringenden Angelegenheit sprechen wollte? Ich nehme eigentlich an, dass du ganz erpicht darauf sein musst, mir irgendwelche Neuigkeiten zu erzählen. Was um Himmels willen war so wichtig, dass du dich zu einem Tanzabend wagst, der voller — wie nennst du es noch gleich? — frivoler Vergnügungen ist?« Ihr Tanzschuh befand sich ganz dicht neben seinem Fuß. Sie drehte ihren Fuß ganz leicht, sodass sie ihn berührte, und wartete.
»Brim und Michalas sind abgereist«, erklärte Max. Die beiden Venatoren waren nach London gekommen, um Victoria, Max und Sebastian zu helfen, Liliths Pläne zu vereiteln. Diese hatte den neuen König von England töten wollen.
»Nach Rom?«
Er schüttelte den Kopf und rückte mit seinem Fuß von ihr ab. »Zurück nach Paris. Wir haben heute Abend erfahren, dass noch ein Dämon gesichtet worden ist. Sie haben sich auf den Weg gemacht, um den Fall zu untersuchen.«
Victoria musterte ihn einen Moment lang. Die Räder der Kutsche ratterten über das Kopfsteinpflaster, und der Boden unter ihren Füßen zitterte. Die Laterne über ihrem Kopf schwang hin und her, sodass sein Gesicht abwechselnd in Schatten und Licht getaucht wurde. »Und?«, fragte sie, als er nicht weitersprach.
»Und Kritanu meinte, dass du sofort darüber in Kenntnis gesetzt werden solltest.«
Victoria unterdrückte ein Lächeln. Und der ach so fügsame Max, der gesellschaftliche Verpflichtungen liebte, war natürlich sofort gesprungen, um bei der Feier der Herzogin zu ihr zu stoßen. Würde er das für Kritanu tun, der ihm so nah wie ein Onkel stand?
Nicht sehr wahrscheinlich, wie er selber sagen würde.
»Und warum musste ich jetzt den Tanzabend eigentlich verlassen?«, fragte sie. »Wenn das die ganze Neuigkeit ist.«
»Deine Haare sind zerzaust, du hast einen Handschuh verloren, und auf deinem Hals ist ein blutiger Kratzer«, erwiderte er. »Du siehst so aus, als kämst du gerade von irgendeinem Treffen. Einem gewalttätigen.«
»Zufälligerweise ist das auch der Fall.« Natürlich saß ihre Frisur nicht mehr. Irgendwie hatte sie noch nicht die richtige Technik entwickelt, den kleinen, in ihrem Haar verborgenen Pflock so herauszuziehen, dass nicht alles zerzaust wurde.
»Und unterwegs hast du einen Vampir angequatscht? Oder war das vielleicht überhaupt der Sinn und Zweck des Treffens?« Er wirkte jetzt entspannter und lehnte sich mit seinen breiten Schultern an das Rückenpolster. »Vielleicht möchtest du ja, dass ich glaube, du hättest ein Schäferstündchen mit George Starcasset gehabt... aber allein der Gedanke ist lächerlich.«
»Wenn ich mich mit irgendjemandem in einer Kutsche treffen würde, dann bestimmt nicht mit George Starcasset.«
Seine langen, eleganten Finger, die oben auf dem Rückenpolster lagen, streckten sich erst und wurden dann zur Faust geballt. »Viog...«
»Und auch nicht mit Sebastian«, fuhr sie gelassen fort und ohne ihm zu erlauben, den Blickkontakt zu unterbrechen.
»Victoria...« Seine Stimme klang angespannt. Und es schwang Ärger darin mit, echte Wut. Er wandte den Blick ab und schaute aus dem Fenster. Seine Finger entspannten sich wieder.
Am liebsten hätte sie die Kluft zwischen ihnen überbrückt, seine Schultern gepackt und ihn geschüttelt, um so etwas Vernunft in seinen feigen Dickschädel zu hämmern, der von seinen moralischen Vorstellungen total aufgebläht war.
In der Lage dazu war sie allemal. Sie war so viel stärker als er.
Aber was würde es bringen?
Es herrschte eine angespannte Stille in der Kutsche.
»Das hier erinnert mich an die Nacht, in der wir zu Bridge und Stokes mussten«, meinte Victoria nach einer Weile. »Erinnerst du dich daran?«
»Ich erinnere mich«, stieß er hervor, während er weiter aus dem Fenster schaute. »Wir mussten deinen Ehemann vor einem Vampir retten.«
Sie nutzte die Gelegenheit, um eine etwas andere Sitzposition einzunehmen, sodass das Licht der Laterne seinen hellen Schein golden über ihr Dekollete fallen ließ. »Ich musste mich in der Kutsche umziehen, erinnerst du dich? Ich zog Männerkleidung an, weil wir in einen Herrenclub wollten, und da konnte ich natürlich nicht so hinein, wie ich angezogen war.«
»Meine Erinnerung ist völlig lückenlos. Du brauchst die Einzelheiten nicht zu erwähnen.«
»Dann erinnerst du dich bestimmt auch noch daran, wie du mir mein Korsett aufgeschnürt hast...«
»Victoria.« Jetzt endlich wandte er den Blick vom Fenster ab. »Was hast du vor?«
Sie konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht sehen, denn sie lagen im Schatten. Aber an seinen zusammengepressten Lippen konnte sie erkennen, dass er wütend war. Und deshalb wusste sie auch, wie seine Augen aussahen: hart, glanzlos und kalt.
»Eine Sache habe ich mich immer gefragt«, fuhr sie fort, als würde er sie nicht mit reiner Mordlust in den Augen anstarren. »Als ich mich damals umzog, während du in deine Ecke gedrückt dasaßt und peinlich bemüht aus dem Fenster schautest oder die Augen geschlossen hattest, wie du behauptetest... hast du da heimlich geguckt?«
Er gab einen Laut von sich, der wie ein ersticktes Schnauben oder ein unterdrücktes Husten klang. Und dann: »Natürlich nicht.«
In dem Moment hielt die Kutsche an, und Victoria bemerkte verärgert, dass sie bereits Tante Eustacias Stadthaus erreicht hatten. Max sprang förmlich hoch und ragte wie eine Fledermaus mit ausgebreiteten Flügeln vor ihr auf.
Aber obwohl er so vor ihr stand, dass sie sich nicht auch erheben konnte, wich er nicht zur Seite. Stattdessen drehte er sich zu ihr um und blickte aus seiner halb gebeugten Haltung auf sie herunter. Er legte seine Hände über ihrem Kopf an die Wand -eine Position, mit der er seine Macht ihr gegenüber zum Ausdruck brachte, was er im Moment wohl nötig hatte. Seine gespreizten Beine standen zu beiden Seiten ihrer Füße.
Zum ersten Mal, seit sie in die Kutsche gestiegen waren, konnte sie sein Gesicht deutlich sehen. Ausdruckslos, streng, verschlossen. Sein Ausdruck war so leer, dass ihr das Herz weh tat.
Sie ließ ihren Kopf nach hinten sinken, sodass sich ihr Nacken an die obere Rundung des Rückenpolsters schmiegte. Ihre Finger krallten sich in den dünnen, seidigen Stoff ihrer Röcke, und das Herz schlug ihr bis zum Hals.
»Max«, sagte sie. Flüsterte es. Flehte ihn an.
»Ich kann nicht, Victoria.« In seiner tiefen Stimme schwang die gleiche Unsicherheit mit, und sie war ebenso leise wie die ihre.
»Du willst nicht.«
»Sei keine Närrin, Victoria.« Er hatte sich wieder gefasst, und seine Worte klangen kalt und schroff. »Es ist deine Pflicht, das Richtige zu tun; und das Gleiche gilt für mich. Und das Richtige für dich, Victoria, ist es, mit Vioget zusammen zu sein. Einem Mann, der dir ebenbürtig ist, der an deiner Seite sein kann und sich nicht vor der verdammten Vampirkönigin zu verstecken braucht.«
»Max...«, setzte sie erneut an.
Aber er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Victoria, versteh doch. Du bist die Letzte der Gardellas. Du musst das tun, was richtig für eine Gardella ist, was richtig für die Welt ist. Es ist deine Pflicht und deine Berufung. Du kannst das nicht einfach missachten, nur weil wir« ... jetzt wurde seine Stimme noch leiser... »eine Nacht miteinander verbracht haben. Ich habe dir damals schon gesagt, dass das nichts ändert.«
»Feigling!«
»Gute Nacht, Victoria.«
Er stieß den Schlag auf und war draußen, ehe Victoria noch etwas sagen konnte.
Sie erhob sich ebenfalls, obwohl die hilflose Wut, die schon die ganze Zeit in ihr war, sie völlig erschöpft hatte. Wie konnte ein Mann, der schon so viel getan, so viel gesehen... so viele Entscheidungen getroffen hatte, nur so ein verdammter Feigling sein?
Doch dann wurden all diese Gedanken verdrängt, als Max seinen Kopf wieder in die Kutsche steckte. Seine Augen loderten, als er seine Hand nach ihr ausstreckte und ihren Arm packte.
»Victoria. Wayren ist verschwunden«, stieß er hervor und zog sie dabei so schnell aus der Kutsche, dass sie einen Schuh verlor.
Victoria fand ihr Gleichgewicht wieder, sobald sie festen Boden unter den Füßen hatte. In dem Moment, als Max' Worte in ihr Bewusstsein drangen, bemerkte sie auch, dass Sebastian und Kritanu, der etwas mit dem Arm an seinen Körper drückte, neben der Kutsche standen. Alle drei Männer wirkten angespannt und besorgt.
»Was ist los?«, fragte sie mit scharfer Stimme und ignorierte die Feuchtigkeit an ihrem Fuß, der nur von einem Seidenstrumpf umhüllt wurde. »Was ist passiert?«
Wayren war eine Frau unbestimmten Alters. Sie sah älter aus als Victoria, wirkte aber viel jünger als Lady Melly, und doch war sie mehr als funfeig Jahre Tante Eustacias Freundin und Beraterin gewesen. Sie war die Verwalterin der Bibliothek der Venatoren und hütete die Aufzeichnungen und viele andere Geheimnisse, die in den Katakomben von Rom verwahrt wurden. Sie kleidete sich wie eine mittelalterliche Burgherrin und hatte immer einen Beutel aus Leder bei sich, in dem sich mehr Bücher und Manuskripte befanden, als eigentlich hineinpassen sollten.
Wayren war länger, als irgendeiner sich erinnern konnte, ein Quell an Informationen, Ratschlägen und Empfehlungen für die Venatoren gewesen. Trotzdem wusste man nicht besonders viel über sie.
»Drinnen«, sagte Max, während er sich umschaute. Seine Hand lag an Victorias Ellbogen. »Wer weiß, ob uns nicht vielleicht jemand belauscht.«
Einen Augenblick später hatten sich alle im kleinen Arbeitszimmer versammelt, und Kritanu, der immer noch ein bisschen unbeholfen war wegen seiner fehlenden Hand, erzählte ihnen, was er wusste. Er hielt seinen agilen, siebzigjährigen Körper
ganz gerade, während er die drahtigen Beine, die in der üblichen weiten Hose steckten, an den Knöcheln überkreuzt hatte. Das kleine Bündel, welches er schon draußen auf dem Arm gehabt hatte, erwies sich als weißfedriges Büschel mit Knopfaugen. Eine Taube.
»Ich habe Wayren heute nicht gesehen, mir aber nichts dabei gedacht«, sagte er und schaute Victoria an.
Wenn Wayren sich in London aufhielt, nahm sie sich immer eine Unterkunft, von der keiner wusste, wo sie sich befand. Sie brauchte diese ungestörte Ruhe und einen Ort, an dem sie sich ganz ihren Studien widmen konnte. Aber sie kam häufig zu dem Haus zu Besuch, in dem Victoria, Kritanu und - zumindest im Moment - Max wohnten. »Als Brim und Michalas wieder nach Paris gerufen wurden, sind sie sofort aufgebrochen. Max und ich meinten, du müsstest es sofort erfahren... und Wayren ebenfalls. Wir haben eine Nachricht an Wayren geschickt, und Max ist los, um dich zu informieren.«
»Du hast Myza losgeschickt?«, fragte Victoria und schaute den Vogel an, der auf seinem Schoss saß. »Aber sie ist ohne Nachricht zurückgekehrt?« Myza, eine der vielen Tauben, die die Venatoren benutzten, um miteinander zu kommunizieren, war diejenige, die von Wayren immer am liebsten genommen wurde.
»Nein, Myza war zu dem Zeitpunkt nicht da. Daher wusste ich ja auch, dass Wayren in Schwierigkeiten ist, denn Myza kam mit dem Vogel zurück, den ich losgeschickt hatte. Sie hat sich am Flügel verletzt.« Er strich mit einem seiner fünf verbliebenen Finger über den Kopf der Taube. Der ruhige Vogel zwinkerte mit dem Auge und sah sich mit scharfem Blick um.
Victoria schaute Max an, um zu sehen, ob er das Gleiche dachte wie sie. Er nickte, und sie spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Wenn Wayrens Taube verletzt war, bestand Grund zu der Annahme, dass sie sich auch in Schwierigkeiten befand.
»Myza kann uns zu ihr fuhren«, meinte Max. »Wenn sie fliegen kann.«
Kritanu nickte. »Genau. Darüber haben Sebastian und ich uns auch gerade unterhalten, als ihr nach Hause gekommen seid. Der Vogel ist verletzt, scheint aber unbedingt wieder los zu wollen. Der einzige Grund dafür kann eigentlich nur sein, dass er uns zu Wayren führen will. Myza kann ein bisschen hüpfen, und ich werde ihr helfen.«
»Wir haben auch eine Taube mit einer Nachricht für Brim und Michalas losgeschickt, damit die beiden zurückkommen. Sie sind vor weniger als einer Stunde aufgebrochen und können noch nicht weit sein«, meinte Sebastian.
»Gut, aber wir können nicht auf sie warten. Ich brauche nur einen Moment, um mich umzuziehen«, erwiderte Victoria und schaute dann kurz in Max' Richtung. »Ich möchte das nämlich lieber nicht in der Kutsche tun.«
Max' Mund zuckte, aber er lächelte nicht. »Dann beeil dich.«
»Wie schade«, meinte Sebastian, als Victoria vorbeirauschte. »Das Kleid gefallt mir eigentlich.« Aber sogar er, der meisterhafte Flirter, konnte den Ausdruck der Sorge auf seinem Gesicht nicht verbergen.
Eine verschwundene, vielleicht sogar verletzte Wayren... das war etwas, womit sie sich noch nie hatten befassen müssen. Sie hatte immer so unantastbar gewirkt, so fern der Gewalt und der Auseinandersetzungen, in die die Venatoren verwickelt waren. Die Vorstellung, dass sie, die weise, gelassene, alterslose Frau, dem Bösen in die Hände gefallen sein könnte, war beunruhigend.
Wie versprochen wechselte Victoria mit Verbenas Hilfe schnell ihre Kleidung. Statt des prachtvollen roten Kleides zog sie Sachen an, die kühler waren und sie nicht so sehr einengten. Sie trug nun eine ähnlich weite Hose wie Kritanu, die jedoch dunkelbraun war, und dazu ein Herrenhemd, das ein bisschen abgeändert worden war, damit es ihr passte. Mit gelockertem Korsett, festem Schuhwerk und bewaffnet eilte sie die Treppe nach unten, während sie sich im Laufen die Haare flocht. Sie hatte nicht unnötig viel Zeit dadurch verschwenden wollen, dass ihre Zofe es für sie tat. Das Gefühl, sich beeilen zu müssen, wurde immer stärker.
»Die Pferde werden gesattelt und hergebracht«, sagte Max, als sie unten ankam.
Sie nickte zustimmend; einem humpelnden Vogel konnte man leichter zu Pferd als in einer Kutsche folgen.
Draußen herrschten immer noch angenehme Temperaturen, und der sternenübersäte Himmel half dem Mond, die Nacht zu erhellen. Trotzdem waren da immer wieder auch Wolkenstreifen, die den Halbmond und die Sterne zu verhüllen drohten, sodass sich ein unbehagliches Gefühl in ihr breitmachte.
Kritanu entschied sich dafür, zu Hause zu bleiben. Zum einen, weil es ihm mit nur einer Hand schwerfallen würde, mit den anderen mitzuhalten; gesetzt den Fall, sie kamen so schnell voran, wie sie hofften. Zum anderen, weil jemand da sein sollte, falls Wayren, Brim oder Michalas zurückkehrten oder irgendeine Nachricht eintraf.
Sie brachen auf, und Myza wurde an Max weitergereicht, damit er sich um sie kümmerte. Die Taube, deren Augen vor Entschlossenheit zu funkeln schienen, hatte es genauso eilig wie die anderen und flatterte ihnen voraus. Unbeholfen landete sie ein Stück weiter auf einem tiefhängenden Ast, um dann gleich darauf zum nächsten Baum zu fliegen.
Sie flatterte ein bisschen und kam dann hastig zu Max zurück, der sie behutsam auffing und festhielt, bis sie wieder genug Kraft gesammelt hatte, um weiterzufliegen. Unterwegs kamen sie durch Straßen, gesäumt von Stadthäusern. Kutschen rumpelten vorbei und brachten die Mitglieder des ton zu Theateraufführungen, Feiern oder anderen Veranstaltungen oder holten sie von dort ab. Trotz der späten Stunde waren auch noch Angehörige der unteren Schichten mit Karren voller Waren und Mietdroschken unterwegs. Doch während Victoria und ihre Gefährten Myza folgten, wurden die Straßen immer leerer, schmaler und unheimlicher.
Sie waren schon mehr als eine halbe Stunde in der von der Taube vorgegebenen Geschwindigkeit unterwegs, als Myza umdrehte und auf Max' große Hand zurückflatterte. Sie saß mit lang gestrecktem Hals und zur Seite geneigtem Kopf da, während sie sich umschaute. Victoria trieb ihr Pferd an und schloss zu ihnen auf. Ihr Bein streifte das von Max, als sie ihr Pferd ganz dicht neben seines brachte und den Vogel betrachtete, der ein leises Gurren von sich gab.
Plötzlich waren Flügelschläge zu hören und das Gurren einer anderen Taube, die damit ihr Kommen ankündigte. Und dann ertönte das laute Klappern galoppierender Pferde, als Brim und Michalas um eine Ecke gejagt kamen.
Myza und die neue Taube, die Thrush hieß, schienen eine Art Unterhaltung in der Vogelsprache zu führen, und plötzlich schwang der zweite Vogel sich in die Luft und begann im Kreis um sie herum zu fliegen. Dann stieß die Taube wieder herab und zupfte an Max' Ohr. Damit errang sie seine Aufmerksamkeit, und er verstand. Sie würden der unverletzten Taube folgen, der von Myza die Richtung vorgegeben worden war.
Jetzt kamen sie viel schneller voran, und fünf Reiter folgten Thrush in donnerndem Galopp, weg von den belebteren Straßen in ruhigere Gegenden. Thrush musste häufig anhalten, im Kreis zurückfliegen, um dann über Max die Position zu halten, weil die Pferde einen weniger direkten Weg nehmen und dem Straßenverlauf folgen mussten. Endlich, nach einem mehr als einstündigen harten Ritt am Südufer der Themse entlang, erreichten sie einen kleinen Friedhof am Rande eines Dorfes, wo alle Fenster dunkel waren.
Der Friedhof war von einem mit Spitzen bewehrten Eisenzaun eingefriedet, der an hohen gemauerten Pfeilern befestigt war. Unheimliches schwarzes Moos und Erde überzogen den einst kalkweißen Stein, der im fahlen Mondlicht nun nur noch stellenweise schimmerte. Mehrere Bäume am nördlichen Rand des Friedhofes warfen lange Schatten, die sich mit der aschgrauen Farbe der Grabsteine vermischten.
Thrush flog jetzt im Kreis, und zwar genauso leise wie die Fledermäuse, die um die Taube herum durch die Luft flitzten und tanzende Schatten auf die Pferde und deren Reiter warfen. Victoria trieb ihr Pferd auf der Suche nach dem Tor dichter an den Zaun heran. Myzas Verhalten zeigte deutlich, dass Wayren sich irgendwo in der Nähe befand. Die Taube hatte den Kopf gehoben, gurrte leise und wollte losfliegen.
Max ließ sie frei, und die weiße Taube hüpfte auf den tief hängenden Ast eines Baumes; wegen ihres verletzten Flügels hatte sie nicht genug Kraft, um über den Zaun hinwegzufliegen.
Während Victoria nach einem Einlass suchte, hörte sie, dass die anderen sich trennten und unterschiedliche Richtungen einschlugen — einige folgten ihr, andere ritten in der entgegengesetzten Richtung davon, um den Friedhof von der anderen Seite zu umrunden und sich dann wieder mit ihr zu treffen. Als sie an der westlichen Seite des Zaunes ankam, erblickte Victoria ein kleines Mausoleum, das tief im Schatten lag.
Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Zwar war es nicht das Frösteln, das die Anwesenheit eines Vampirs bei ihr hervorrief, aber ein genauso unbehagliches Gefühl. Im gleichen Moment gelangte sie an ein kleines Tor zwischen zwei Pfeilern, das gerade breit genug war, um einen Mann durchzulassen, wenn er sich seitwärts hindurchschob.
Sie war bereits vom Pferd gestiegen, als Sebastian donnernd angaloppiert kam und sich leichtfüßig neben ihr aus dem Sattel schwang.
Ein kurzer Blick genügte, um zu erkennen, dass das Tor aufgebrochen oder darüber hinweg geklettert werden musste. Die oberen Enden der Gitterstäbe waren spitzer, als das für eine Verzierung nötig gewesen wäre. Sie sahen so aus, als würden sie mit Leichtigkeit Fleisch und sogar Knochen durchbohren, wenn genug Wucht dahintersteckte. Einfach das Tor aufzubrechen würde also vernünftiger sein.
Victoria und Sebastian waren gerade dabei, das Tor genauer in Augenschein zu nehmen, als Max und die anderen Venatoren, die den Friedhof umrundet hatten, zu ihnen stießen.
»Es gibt keinen anderen Eingang«, berichtete Max. »Es muss dieser hier sein. Sind Untote in der Nähe?«, fragte er, denn natürlich konnte er im Gegensatz zu den anderen die Gegenwart von Vampiren nicht mehr spüren.
»Nein«, erwiderte Victoria, die sich wieder vom Tor entfernte, um sich umzuschauen. Sie richtete den Blick auf das Mausoleum: Das flache, gedrungene Gebäude lag nur knapp fünfzig Meter weiter im Schatten einiger Bäume. »Da ist etwas... irgendetwas...« Ihre Stimme wurde immer leiser, und sie hielt inne, um Luft zu holen.
Nein.
Sie schnupperte wieder, und ihr Magen zog sich zusammen. Der Geruch des Bösen und des Todes konnte vom Duft nassen Torfs und Pferdeschweiß nicht ganz überdeckt werden.
Victoria schaute auf und begegnete Max' Blick. Dann sah sie Brim an. Der große, dunkelhäutige Mann, der seine vis bulla am Ende der einen Augenbraue trug, hatte den Kopf gehoben, als würde auch er etwas riechen. Er nickte und sah sie dann mit beinahe schwarz wirkenden Augen an.
Dämonen.
Nicht jeder Venator konnte die Gegenwart eines gefallenen Engels oder Dämons spüren, doch Victoria und Brim waren in der Lage, den bösen Odem, der sich unter anderen Gerüchen zu verstecken suchte, wahrzunehmen.
Neben ihren Pflöcken würden sie also auch Schwerter brauchen, denn Dämonen musste man köpfen, um sie endgültig zu vernichten. Um auf alle Situationen vorbereitet zu sein, hatten die Venatoren sich nicht nur mit Pflöcken bewaffnet, sondern hatten auch Pistolen und Schwerter dabei, die an ihren Sätteln befestigt waren.
Ein leises Kreischen ließ Victorias Blick zu Sebastian und Michalas schnellen, die mit Hilfe ihrer Venatorenkräfte dabei waren, ein Scharnier aus dem Mauerwerk zu lösen. Während sie drückten und zogen, knirschte und quietschte das lange nicht benutzte Tor. Als Brim, der Kräftigste von allen, dazukam, kreischte das Tor noch einmal leise und kippte dann fast um. Es hing immer noch in der unteren Angel und wurde auf der anderen Seite von dem schweren Schloss gehalten, war jetzt aber kein Hindernis mehr. Man konnte darüber hinwegsteigen.
Victoria schnallte ihr Schwert vom Sattel ab und befestigte es mit Hilfe des Gürtels an ihrer Taille. Dann kletterte sie als Erste über die schrägen Gitterstäbe und benutzte Sebastians dargebotene Hand, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Während sie sich auf der anderen Seite zu Boden gleiten ließ, musterte sie das Mausoleum und schaute, ob sich irgendetwas bewegte.
Auf dem Friedhof war es ganz still. Nur die leisen Schritte der anderen waren zu hören, als diese zu ihr traten.
Victoria näherte sich dem Gebäude, und je dichter sie kam, desto mehr Einzelheiten konnte sie erkennen. Das Bauwerk war etwa ein halbes Stockwerk hoch, mit einem flach geneigten Spitzdach und schmucklosen Außenwänden. Das Mausoleum war vielleicht halb so groß wie eine Remise und wurde auf drei Seiten von Bäumen eingerahmt.
Der Boden unter ihren Füßen war weich und feucht und mit kleinen und größeren Steinen bedeckt. In den Boden eingelassene Ziegelsteine begrenzten Familiengräber, und an einigen Stellen waren Grassoden zu sehen. Je näher sie dem Gebäude kam, desto stärker wurde der Geruch der Dämonen, ohne jedoch alles andere zu überdecken. Sie bemerkte eine Bewegung in der Luft. Kein Windhauch, sondern irgendetwas anderes.
Dann sah sie es. Es befand sich über dem flach geneigten Dach des Mausoleums, nicht sehr hoch über ihrem Kopf: Schwaden von Nebel? Oder Rauch?
Nein, die Dunstschleier waren zu dunkel, um Nebel zu sein. Also vielleicht doch Rauch.
Die Kehle schnürte sich ihr zu, und sie musste schlucken.
Schwarze Wolkenfäden wanden sich zwischen den dunklen Bäumen, flossen wie Strähnen langen Haars über dem Mausoleum und zogen immer wieder Kreise.
Victoria blieb stehen und merkte, dass jemand direkt hinter ihr war. Sie drehte sich um und sah Sebastian, dessen Blick genau wie ihrer eben auf die Stelle über dem Dach des Mausoleums gerichtet war. Ihr Herz pochte laut, und sie griff nach seinem Arm, während sie darauf wartete, dass die anderen aufschlossen.
Als sie sich näherten, suchte Victoria im wabernden Licht Max' Blick. Auf seinem Gesicht lag der gleiche aufmerksame Ausdruck wie auf ihrem. »Was ist das?«, fragte sie, während sie ihn anschaute, die Frage jedoch an alle richtete.
Max schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf. Sebastian rückte näher an sie heran und murmelte: »Was immer das sein mag, es hat nichts mit Vampiren zu tun.«
Victoria schaute Brim an, dessen Blick wie gebannt auf die wirbelnden Dunstschleier über dem Dach gerichtet war. Mit knappen Worten wies sie ihn und Michalas an, in der einen Richtung um das Mausoleum zu gehen, während sie, Max und Sebastian auf der Suche nach einem Eingang die andere Richtung nahmen.
Sie fand ihn, zugewuchert von zwei Wacholderbüschen. Die Tür war über vier unebene, schmale Stufen erreichbar, die nach unten führten.
Victoria schaute zu dem schwarzen Wirbel über ihren Köpfen auf. Es schien irgendeine Art Nebel zu sein, denn die Schwaden hatten sich weder verändert, noch wirkten sie bedrohlich. Doch der Dunst waberte und wand sich weiter und war zwischen den Schatten der Bäume kaum zu erkennen. Er hing wie eine unheimliche Warnung über dem Dach und unter und zwischen den Zweigen.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. In den letzten zwei Jahren als Venator hatte sie es mit vielen Dämonen und Untoten zu tun gehabt, aber diese Erscheinung war beunruhigender als alles, was sie bis jetzt erlebt hatte - einerseits, weil es etwas Unbekanntes war, aber andererseits auch, weil sie wusste, dass es etwas mit Wayren zu tun hatte.
Neben ihr tauchte ein Schatten auf, und Victoria griff nach ihrem Schwert. Aber es waren nur Brim und Michalas, die einmal ums Mausoleum herumgegangen waren.
Sie bemerkte, dass auch Brims Hand an seinem Schwert lag.
Es herrschte eine seltsam angespannte Stille.
Victoria hob einen Fuß, um ihn auf die erste Stufe zu setzen, die nach unten ins Mausoleum führte, doch Sebastian legte seine Hand um ihren Arm und schob sich vor sie. Sie ließ es zu, ohne sich darüber zu ärgern, denn die Geste galt nicht ihr als Frau, sondern weil er sie liebte. Victoria folgte ihm.
In dem kleinen Bereich vor der Tür am Fuß der Treppe war nur Platz für eine Person, und so war Victoria gezwungen, auf der untersten Stufe stehen zu bleiben, sodass ihr Kopf auf einer Höhe mit seinem war, als er die Tür untersuchte. Sie sah zu, wie er mit der verstümmelten Hand, der linken, über das Holz strich, und hörte dann das leise Klicken, als er den Eisenriegel fand und dagegenstieß. Victoria spürte eine Bewegung hinter sich und stellte fest, dass Max eine Stufe hinter ihr stand, sodass er sie beide überragte.
Weitere dumpfe, metallische Schläge ertönten, dann hörte man ein leises Knirschen, als Sebastian den Riegel zurückschob. Die Tür drehte sich ohne das protestierende Kreischen in den Angeln, das das Tor beim Öffnen von sich gegeben hatte. Das war ein Hinweis darauf, dass diese Tür häufiger benutzt worden war.
Sebastian schaute zu ihr auf, als wollte er sich davon überzeugen, dass alle bereit waren, dann drehte er sich wieder zur Tür um und stieß sie mit einer Hand auf.
Die schwere, mit Metallbändern versehene Tür bewegte sich widerstrebend, und es war so still, dass man das leise Schaben von Holz über den unebenen Boden hören konnte. Über Victoria bewegten sich Schatten, sodass die ohnehin schon schwache Beleuchtung vorübergehend ganz wegfiel. Sie nahm an, dass Brim und Michalas jetzt auch dichter herangekommen waren.
Dann erkannte sie mit plötzlichem Entsetzen, dass die Schatten nicht von den anderen herrührten, die näher gerückt waren. Mit weit aufgerissenen Augen schaute sie auf, als die Luft sich zu bewegen begann. Sie spürte die stärker werdende Brise an ihrer Wange.
Die dunklen Wolken wirbelten jetzt schneller herum, drehten und wanden sich und kamen wie ein Strudel auf sie herab. Es ging alles so schnell, dass sie innerhalb kürzester Zeit ganz von der wirbelnden Luft, dem schwarzen Nebel, von erstickender Dunkelheit umhüllt waren.
Victoria konnte nichts mehr sehen, doch sie spürte Max hinter sich. Er griff von oben nach ihren Schultern, während ihr langer, dicker Zopf wie eine Peitsche hin und her schnellte, und Sebastians warmer, fester Körper drückte sich plötzlich von vorn
gegen sie. Sollte einer von ihnen etwas gesagt oder gerufen haben, dann wären die Worte vom Wirbelwind mitgerissen worden, denn bis auf das Dröhnen in ihren Ohren konnte Victoria nichts hören. Die Luft, die plötzlich kalt geworden war, roch alt — alt und tot, wie vermodernde Knochen und verwestes Fleisch. Die Kälte war unerträglich, eine beißende Kälte, die im Gesicht und durch die Kleidung auf der Haut stach.
Tiefes Schwarz drückte auf Augen und Ohren, hieb auf sie ein, zerrte und zog an ihrer Hose, als wäre sie ein Segel auf einem Schiff. Sie hörte ein lang anhaltendes, lautes Kreischen, doch vielleicht war es auch nur in ihrem Kopf. Sie spürte den hinter ihr aufragenden Max, berührte Sebastian und behielt eine Hand am Heft ihres nutzlosen Schwertes.
Dann war der Sturm plötzlich noch heftiger, sodass ein Ast abgerissen wurde und auf sie herunterkrachte. Er zerkratzte Victoria das Gesicht, und der Kopf tat ihr weh, obwohl der Ast sie nicht mit voller Wucht getroffen hatte.
Die dämonische Wolke war wieder über ihnen, noch dunkler und lauter als zuvor. Victoria drückte Sebastian nach hinten, drängte ihn auf die offene Tür zu, während Max gleichzeitig versuchte, sie zurückzuziehen. Sie schrie, aber sie konnte sich nicht einmal selber hören, und so drückte sie mit aller Kraft gegen Sebastian und setzte ihm hinterher.
Der schwarze Sturm tat das Seine dazu, dass die beiden durch die Tür ins Mausoleum taumelten.