Kapitel 10
In dem Sebastian Lesestoff erwirbt
Sebastian wusste in dem Moment, als Victoria in den Salon des Stadthauses trat, dass sich die Situation geändert hatte.
Er hatte sich mit Wayren unterhalten und saß mit ihr wieder in diesem kleinen Raum, der immer an ihm zerrte, wenn er in Eustacias Haus kam. Während der kurzen Zeit, die er hier auf Victorias Rückkehr wartete, war sein Blick immer wieder wie magisch von dem Schrank angezogen worden, in dem sich die Gardella-Bibel befand.
Mehr als einmal hatte er daran gedacht, Wayren zu fragen, ob er sie sich ansehen dürfte — letztendlich war er ja auch ein Gardella, wenn die Verbindung mütterlicherseits auch jahrhundertelang zurücklag.
Doch dann kam Victoria in einem hellblauen Kleid hereingestürmt, das ihr aber auch so gar nicht gerecht wurde. Um Himmels willen! Er hatte schon Mägde gesehen, die besser angezogen waren. Sie trug keine Handschuhe, der Knoten, zu dem das volle, tintenschwarze Haar hochgesteckt gewesen war, war nach unten gerutscht, und an ihren Schläfen kringelten sich Löckchen. Und in ihrem Gefolge war Max Pesaro.
»Sebastian«, grüßte sie ihn. »Bist du schon lange da?« Sie setzte sich auf eine Seite des leeren Sofas, und Pesaro nahm am anderen Ende Platz. Er achtete sorgfältig auf einen großen Abstand, als hätte er Angst, sich sonst mit irgendetwas anzustecken. Obwohl sein Gesichtsausdruck eher vermuten ließ, dass er ihr bereits nahe genug gewesen war, um sich alles Mögliche einzufangen.
Zum Teufel noch mal. Wie sollte er mit den beiden nach Prag reisen?
Auf einmal erinnerte er sich, dass Victoria ihm eine höfliche Frage gestellt hatte und nun auf die Antwort wartete. »Ich bin noch nicht so lange hier, dass Charley mir schon Tee gebracht hätte«, erwiderte er. »Allerdings weiß ich nicht, ob die Bitte überhaupt an ihn gegangen ist, deshalb ist das vielleicht kein guter Maßstab.« Während er sich darum bemühte, ganz besonders entspannt und gelassen zu klingen, wandte er sich mit seiner nächsten Frage an Max: »Ich habe mitbekommen, dass Sie eine Ausfahrt gemacht haben. Wie fanden Sie es denn in der Kutsche?«
»Beengt«, erwiderte dieser kühl, doch der Blick, mit dem er Sebastian bedachte, bestätigte alles, was dieser sich schon gedacht hatte.
Er wandte seine Aufmerksamkeit nun Victoria zu, deren Wangen sehr anmutig errötet waren. Oder er hätte es anmutig gefunden, wenn ihre Reaktion nichts mit Max Pesaro zu tun gehabt hätte. Er knirschte mit den Zähnen - er hatte selbst Schuld, dass er das Thema überhaupt angeschnitten hatte. Aber er hatte ganz sicher sein wollen, und das war er jetzt. Trotzdem sahen die beiden so aus, als wäre die Kutschfahrt nicht ganz so angenehm verlaufen wie erwartet.
Also trug er weiter sein unbekümmertes Lächeln zur Schau und erwiderte: »Wie schade. Darüber habe ich mich nie beklagt...«
»Ich habe eine Nachricht von Brim und Michalas erhalten«, unterbrach Wayren den Schlagabtausch.
Sebastian legte sein gekünsteltes Lächeln ab, als sich alle ihr zuwandten. Er hatte auch etwas zu berichten, doch das konnte noch ein bisschen warten.
»Sie sind wieder in Paris. Zwei weitere Dämonen sind ins Jenseits befördert worden, und im Moment scheint alles ruhig zu sein. Wir wissen jedoch, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis noch mehr von ihnen durch das Portal kommen, und deshalb müssen wir uns beeilen. Sie haben meine Nachricht über die Ringe von Jubai erhalten — danke, Sebastian, für diese Information - und schlagen vor, dass sie den Ring aus dem Konsilium holen, um sich dann mit uns in Prag zu treffen.« Wayren schaute Victoria an. »Wenn du einverstanden bist.«
»Ja, natürlich. Sie können viel schneller in Rom sein als wir, und es ist nur vernünftig, wenn wir uns aufteilen. Wir haben ja die Tauben, um untereinander in Verbindung zu bleiben.«
Sebastian merkte, dass sie weder Pesaro noch ihn anschaute, um ihre Entscheidung bestätigt zu bekommen. Wie sehr sie sich seit dem ersten Mal, als sie einander begegnet waren, verändert hatte. Damals hatte sie noch vergeblich versucht, ihre Weiblichkeit zu verbergen, indem sie ihn in Männerkleidung im Silberkelch aufgesucht hatte, dann aber fast vergessen hätte, ihm die Hand zu schütteln, wie es unter Gentlemen üblich war.
Seitdem hatte sie sich zu einer kühnen, schönen, starken und intelligenten Frau entwickelt.
Welten lagen zwischen ihr und seiner sanften, ernsten Giulia, die trotzdem auch eine leidenschaftliche Seite gehabt hatte, wenn es um ihren Garten ging.
Er erinnerte sich an das erste Mal, als er die Schwester seines Bekannten Max kennen gelernt hatte. Die beiden Jungen hatten das Basilikum und einen Rosmarinbusch zertrampelt, als sie versuchten, in den Nachbargarten zu schauen, wo eine wunderschöne, junge Signora sich immer umzog. Giulia hatte die beiden mit scharfer Zunge zurechtgewiesen und war so streng gewesen, wie er sie nach diesem ersten Mal kaum noch erlebt hatte. Allerdings hatten ihn natürlich auch diese großen, dunklen Augen völlig gefangengenommen — nicht die Signora im Unterrock —, sodass ihm seine Erinnerung da vielleicht einen Streich spielte.
Sebastian schob diese Gedanken beiseite, und als er aufschaute, stellte er fest, dass Wayren ihn musterte. Er schluckte und setzte sein charmantes Lächeln auf, stellte gleichzeitig aber auch fest, dass sonst niemand gemerkt hatte, dass er für einen Moment abwesend gewesen war.
Max und Victoria waren derweil in eine heftige Diskussion verstrickt, ob es nun besser wäre, die Reise mit dem Pferd oder der Kutsche anzutreten, wobei beide übereinstimmend der Meinung waren, dass Pferde die bessere Wahl wären. Dies ließ in Sebastian die Frage aufkommen, worüber die beiden sich eigentlich stritten.
Dann richtete sich seine Aufmerksamkeit plötzlich wieder auf das Gespräch, weil Victoria etwas zu Wayren gesagt hatte. »Einen Vampir? Du brauchst einen Vampir? Was kann dir ein Untoter mehr erzählen als ich?«, meinte er mit einem unverfrorenen Grinsen.
»Es geht eher darum, was ein Untoter für uns tun kann«, entgegnete Pesaro. »Außer natürlich Sie erlauben mir, bei Ihnen Blut abzuzapfen und Sie dann zu pfählen.«
»Es wäre bestimmt interessant, sich für diesen Versuch zur Verfügung zu stellen.«
»Er braucht Vampirblut für die Prüfung«, wies ihn Victoria scharf zurecht. »Max wird die vis bulla wieder anlegen.«
Teufel auch, das hatte er also im Sinn. Sebastian schob die Lippen vor und überlegte, was für Folgen damit einhergingen. Max mit einer vis würde eine wertvolle Bereicherung für die Gruppe sein, wenn es darum ging, das Midiversum-Portal zu schließen und die anderen Ringe von Jubai zu holen. Zähneknirschend musste Sebastian zugeben, dass Victoria bei dem Mann dann auch viel sicherer war, wenn sie denn unbedingt bei ihm bleiben wollte.
Und es bestand ja auch noch die verführerische Möglichkeit, dass Pesaro die Prüfung gar nicht überlebte.
»Im Moment gibt es keine Vampire in London«, sagte er. »Aber ich werde liebend gern dabei helfen, einen in Prag aufzuspüren. Ach ja... vielleicht... vielleicht könnten Sie Katerina nehmen.« Zum ersten Mal am heutigen Tage strahlte sein Lächeln echte Erheiterung aus.
»Eine Mätresse Ihres Großvaters, nehme ich an«, meinte Pesaro trocken.
»Natürlich. Und es ist eine recht interessante Geschichte, wie es dazu kam, dass sie Beauregards Geschöpf wurde, wenn ich sie denn erzählen darf; denn sie ist auch wichtig für die Aufgabe, die vor uns liegt.«
»Ein Geschöpf Beauregards«, überlegte Pesaro. »Aber mit Beauregards Tod schuldet sie ihre Ehrerbietung dann demjenigen, der ihn geschaffen hat... was in diesem Fall Lilith ist, wenn ich mich recht erinnere.«
Sebastian sah das Unbehagen in Pesaros Augen aufblitzen, und wie sehr er den Mann auch verabscheuen mochte, in diesem Fall hatte er doch Mitgefühl mit ihm. Liliths Bann über ihn und ihre Besessenheit von Pesaro hatten ihn ins Verderben gestürzt. Und nicht einmal Sebastian, der eine Zeitlang mit den Untoten gelebt hatte, mochte an die Dinge denken, die Max erdulden musste, als er mit ihr zusammen war.
»Ja, Lilith hat Beauregard geschaffen, aber die Bindung zwischen ihnen war mit der Zeit sehr schwach geworden. Er war zwar ein Wächtervampir, aber trotzdem vertraute sie ihm keinen der Ringe von Jubai an. Er hatte sich schon vor Jahrhunderten gegen sie gewandt, und deshalb weiß ich nicht, wie stark die Bindung zwischen Katerina und Lilith ist.«
»Oh ja... Beauregard war ziemlich machtbesessen, nicht wahr?«, meinte Pesaro.
Sebastian sagte nichts darauf. Bevor Beauregard versucht hatte, Victoria gegen Sebastians Willen in eine Untote zu verwandeln, war er von seinem Enkel geliebt worden. Beauregard zu pfählen war für Sebastian fast so schwer gewesen wie damals bei Giulia.
»Sebastian, du sagtest, du hättest noch weitere Informationen«, hakte Wayren nach und riss ihn damit aufs Neue aus seinen Gedanken. Er hatte das Gefühl, als würde sie ihn nicht nur aus seinen Gedanken reißen, sondern auch wissen, welche genau das waren... oder zumindest eine Vorstellung davon haben. Ihr durchdringender Blick schien das zu bestätigen.
»Wie ich schon sagte, es ist eine interessante Geschichte, wie Katerina erschaffen wurde, und sie steht im Zusammenhang mit der Aufgabe, die vor uns liegt.«
»Dann solltest du sie uns jetzt vielleicht erzählen«, forderte Wayren ihn auf.
Sebastian warf Pesaro einen Blick zu. »Ich glaube, ich sollte euch im Ungewissen lassen. Die relevante Information ist, dass
sie einen der Ringe von Jubai hat. Sie erhielt ihn von Germintrude, einem anderen Wächtervampir Liliths, damit sie Beauregard die Treue brach. Das klappte aber nicht, und darüber hinaus behielt sie den Ring. Wenn Sie untotes Blut brauchen und wir den Ring haben wollen, wäre es sinnvoll, beide Anliegen miteinander zu verknüpfen. Und dann wird Ihnen auch das Vergnügen überlassen bleiben, sie zu töten, nach... wie vielen Tagen des Fastens?«, fragte er genüsslich nach.
»Drei«, erwiderte Pesaro. »Wir brechen morgen früh auf.« Er stand auf, machte ganz knappe Verbeugungen vor Wayren und Victoria und verließ den Raum.
Hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Furcht, dass auch Wayren gehen und ihn mit Victoria allein lassen könnte, blieb Sebastian sitzen. Doch Victoria erhob sich als Erste und wandte sich ihm zu, als er ebenfalls höflich aufstand. »Dann wirst du also mitkommen?«
Glaubte sie wirklich, dass er es unter Umständen nicht tun würde? Dass er sie allein zu Katerina und Lilith gehen ließe — denn irgendwann würde sie auch ihr gegenübertreten müssen, um die anderen beiden Ringe zu bekommen - und sie das Portal ohne seine Hilfe schließen musste?
Hatte er sich denn noch immer nicht bewährt?
Doch er behielt diese Gedanken für sich und nickte. »Ich werde vor Tagesanbruch hier sein.« Er wollte schon zur Tür und den Raum verlassen, als ihn Wayrens Stimme zurückhielt.
»Sebastian, ich hätte mich gern noch mit dir unterhalten.«
Seine Nackenhaare stellten sich auf. Hätte sie sich denn nicht vorhin mit ihm unterhalten können? Jetzt wollte er nur noch weg. Raus aus diesem Haus, in dem Victoria nach oben in ihr Zimmer gehen und dort mit einem Mann zusammen sein würde, den er verabscheute. Wie konnte sie ihn lieben, diesen kaltschnäuzigen Mistkerl?
»Wenn ihr mich dann bitte entschuldigt«, sagte Victoria und eilte aus dem Zimmer.
Sebastian zog es vor, nicht darüber nachzudenken, wohin sie jetzt ging.
Stattdessen drehte er sich zu Wayren um, obwohl er sich eigentlich nicht sicher war, ob eine Unterhaltung mit ihr das geringere von zwei Übeln wäre.
»Wenn du dir die Gardella-Bibel anschauen möchtest, so gibt es keinen Grund, das nicht zu tun.«
»Ist es eigentlich Blasphemie, wenn ich sage, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn du das tust?«, fragte er mit einem schiefen Grinsen, während er sich dem Schrank zuwandte.
Wayren lachte leise. Er konnte sich nicht erinnern, sie jemals lachen gehört zu haben — leise, sanft, elfenhaft. »Ach nein. Ich habe im Laufe der Jahrhunderte viel Schlimmeres gehört. Sebastian, weißt du, wonach du suchst?«
Er musste den Kopf schütteln. »Nein.« Ein Gefühl von Ehrlichkeit zwang ihn, ganz offen zu reden. »Mir kommt es so vor, als würde ich darauf warten herauszufinden, was man als Nächstes von mir verlangt.«
Der schwere Riegel ließ sich leicht umlegen und öffnete die Tür des Schrankes. Darin lag die Bibel, groß und den Geruch von Alter verströmend. Er holte sie heraus, wobei er achtgab auf das vergilbte, brüchige Papier und die ausgebleichten Bänder, die bestimmte Seiten in dem schweren Band markierten.
»Die ersten Seiten der Bibel wurden von den Schwestern geschrieben, die mit Rosamunde in Lock Rose Abbey lebten. Rosamunde, die Mystikerin, die viele eigene Offenbarungen zu Papier brachte, ehe sie dazu berufen wurde, die vis bulla anzulegen.«
Sebastian nickte und schlug den schweren Buchdeckel vorsichtig auf. Das, was er über die Geschichte der Venatoren wusste, war nur bruchstückhaft und unvollständig, weil er sich so viele Jahre von ihnen distanziert hatte. Doch von Rosamunde hatte er gehört, und er hatte auch das Gemälde von ihr im Konsilium gesehen. Die ruhige Gelassenheit, die das schmale Gesicht ausgestrahlt hatte, ließ Lady Rosamunde Gardella viel weniger beeindruckend wirken, als ein Venator normalerweise sein sollte.
»Am Anfang des Buches stehen alle, die den Titel Illa Gardella tragen«, fuhr Wayren fort. »Und hinten stehen alle Venatoren. Dein Name wird da auch aufgeführt, genau wie der von Max.«
Und dazwischen fand Sebastian vergilbte Seiten, die eng mit mittelalterlichen Texten des Neuen und Alten Testaments beschrieben waren. Viele davon waren mit großen Illustrationen verziert, deren Farben längst verblichen waren. Diese Seiten waren immer wieder gebunden worden und steckten jetzt in einem viel neueren Ledereinband.
Neben diesen mittelalterlichen Texten gab es aber auch Seiten, die eine andere Handschrift aufwiesen und mit einem großen, verzierten R signiert waren.
Bei diesen Seiten hielt Sebastian inne. Seine Hände verharrten darüber und blätterten nicht weiter, während er den Drang verspürte zu lesen.
Er bemerkte, dass Wayren ihn interessiert beobachtete, und sah Verständnis in ihrem Blick, als er aufschaute. »Rosamundes Texte. Natürlich. Hättest du gern eine Abschrift davon?«, fragte sie.
Sebastian sah, wie Wayren in ihren immer präsenten, zerschlissenen Lederbeutel griff und darin herumwühlte. Schließlich zog sie einen Stapel Papiere heraus. Diese waren nicht ganz so alt wie die Blätter, die auf seinem Schoss lagen, doch nicht weniger mürbe und nur von einem Lederriemen zusammengehalten.
»Vielleicht findest du das, wonach du suchst, hier drin«, meinte sie und reichte ihm den Stapel.
Sebastian schloss vorsichtig die Bibel und griff nach den Papieren. Als er dabei Wayrens Hand berührte, strömte eine beruhigende Wärme durch seinen Arm und breitete sich in ihm aus.
»Ja, vielleicht.«
Victoria schlief in der Nacht, ehe sie nach Prag aufbrachen, und in den darauf folgenden, weil es nicht anders ging, allein in ihrem Bett.
Die Reise ließ nur wenig Zeit fürs Schlafen übrig. Sobald sie den Kanal überquert hatten, saßen sie, Max und Sebastian von Sonnenaufgang bis nach Sonnenuntergang im Sattel. Wayren ritt nicht mit. Sie hatte ihre eigene Art zu reisen und würde sich Brim und Michalas in Rom anschließen, um sich dann mit den anderen in Prag zu treffen.
Im Grunde war Victoria erleichtert, dass Wayren nicht mit ihnen reiste. Zu wissen, dass sie schon einmal von Dämonen angegriffen worden war, beunruhigte sie, und deshalb hatte sie ein besseres Gefühl, wenn Wayren sich in der Sicherheit des Konsiliums aufhielt.
»Aber ich werde nach Prag kommen, um bei Max' Prüfung dabei zu sein«, erklärte die blonde Frau Victoria, nachdem sie übereingekommen waren, dass sie sich auf schnellstem Wege nach Rom begab. »Ich muss da sein, um sicherzustellen, dass alles gut geht, und um dafür zu sorgen, dass er auch gut vorbereitet ist.«
Victoria hatte weder das Verlangen noch einen Grund, sich darüber mit ihr zu streiten. Sie war sich sicher, dass Wayren jetzt und auch bis zu ihrem Treffen in Prag nichts mehr passieren würde, weil sie sich vor Dämonen in Acht nahm. Sie wollte, dass Max für die Prüfung, bei der es auf Leben und Tod ging, gut vorbereitet war, und sie schwankte zwischen dem Wunsch, ihn anzuflehen, sie nicht auf sich zu nehmen, und dem Verständnis dafür, warum er es tun musste. Er hatte das Gefühl, dass er sie... und auch sich selbst... dann besser beschützen konnte. Über dieses Denken oder Gefühl konnte sie mit ihm nicht streiten.
Und seit ihrer Unterhaltung in der Kutsche in London hatten sie ohnehin nicht mehr unter vier Augen miteinander reden können. Seine finstere Ausstrahlung und die unterschwellige Wut machten sie unsicher... und ängstlich.
Es ging nicht darum, dass er sich zu wenig Sorgen um sie machte oder sie zu wenig liebte.
Das Problem war, dass er sich zu viele Sorgen um sie machte und sie zu sehr liebte. So sehr, dass er vielleicht in Versuchung geraten könnte, seine Pflicht zu vernachlässigen, wenn ihr Leben auf dem Spiel stand.
Endlich begriff sie, warum er sich dagegen wehrte, mit ihr zusammen zu sein; sie zu einem Teil seines Lebens zu machen. Er hatte Angst, dass sie Einfluss auf seine Entscheidungen, seine Ehre, seine Pflicht nehmen würde.
Und vielleicht... vielleicht sollte auch sie sich darüber Gedanken machen und zögern.
Aber das konnte sie nicht. Sie hatte gefunden, was sie wollte, und wenn sie schon ein Leben als Illa Gardella führen musste -ein Leben voller Opfer und Gefahren, Pflichten und Notwendigkeiten —, dann wollte sie wenigstens, dass Max ein Teil davon war.
In der Nacht, ehe sie nach Prag aufbrachen, hatte sie noch einmal einen kurzen Moment des Alleinseins mit Max im kalari-Zimmer gehabt, nachdem sie Sebastian und Wayren im Salon verlassen hatte.
In dem großen, mit Matten ausgelegten Raum gab es viele Waffen, aber auch Polster und Kissen. Kritanu benutzte sie als Schutz gegen Schläge und Tritte, wenn er mit Victoria kalaripa-yattu trainierte oder die chinesische Kampfkunst Qigong... jene Fähigkeit, sich halb fliegend, halb gleitend durch den Raum zu bewegen, die Max fast in Vollendung beherrschte.
Victoria und Max hatten die Kissenberge vor ein paar Wochen für etwas ganz anderes benutzt.
Als sie die Tür öffnete, stand Max gerade vor dem schmalen Waffenschrank, in dem Kritanus umfangreiche Klingensammlung verwahrt wurde.
Obwohl sie sich ganz leise bewegte, drehte er sich um, als sie den Raum betrat. Er hielt ein ungewöhnlich geformtes Schwert in der Hand, das in einem Bogen von der Klinge in das Heft überging. Mit den nackten Füßen, dem vollen dunklen Haar und der gebräunten Haut erinnerte er an einen furchteinflößenden Piraten. Seine Miene verstärkte diesen Eindruck noch.
»Drei Tage Fasten?«, fragte sie und ahmte damit seine Gewohnheit nach, gleich auf den Punkt zu kommen, während sie den Raum durchquerte und auf ihn zuging. »Und was dann?«
»Drei Tage Fasten und Gebete, während du und Vioget den Ring von Jubai holt«, korrigierte er sie. »Ich weiß, wie wichtig der Zeitfaktor in dieser Sache ist, aber das Ganze ähnelt dem Ritual, das Ritter im Mittelalter durchliefen, wenn sie bereit waren, ihren Schwur abzulegen. Drei Tage lang werde ich auf den Knien hocken, ehe man mich mit einem Untoten in einem Raum einsperrt. Nur einer von uns wird lebend wieder herauskommen.«
Victoria hatte das Gefühl, als würde der Boden unter ihren Füßen beben und die Wände wackeln.
Sie hatte schon von dieser Prüfung gehört, war aber noch nie dabei gewesen und hatte abgesehen davon, dass es dabei um Leben oder Tod ging, nicht gewusst, wie das Ganze genau ablief. Max hätte nie von sich aus das Thema angeschnitten, und seit sie Venator geworden war, hatte niemand mehr versucht, sich der Prüfung zu stellen. Es war eine Probe, die von Wayren, nicht von Illa Gardella, beaufsichtigt wurde... und jetzt, wo Victoria wusste, wer Wayren in Wirklichkeit war, ergab das auch alles einen Sinn.
»Du musst gegen einen Vampir kämpfen, nachdem du drei Tage lang weder gegessen noch geschlafen hast? In einem geschlossenen Raum?« Sogar ihr würde dies mit ihren zwei vis bullae schwerfallen.
Und auch wenn sie sich mit dem Schließen des Portals beeilen mussten — eine Verzögerung von ein oder zwei Tagen in Prag würde zu verkraften sein, wenn Max dann wieder als Venator für die Gruppe da war. Besonders, wenn es darum ging, Liliths Unterschlupf zu finden und ihr gegenüberzutreten.
Aber wenn er es nun nicht schaffte? Oh Gott! Dann müssten sie ohne ihn auskommen. Sie müsste ohne ihn auskommen. Nach allem, was sie schon durchgemacht hatten. Victoria schluckte und schaute zu ihm auf. »Max«, sagte sie, während sie noch nach Worten suchte, um ihre Sorge so zu formulieren, dass er es verstand und nicht als beleidigend empfand... aber er unterbrach sie.
»Dachtest du, es würde leicht werden?«, fragte er spöttisch. Er legte das khukuri-Messer zurück und verriegelte den Schrank. »Bisher haben es nur vier andere geschafft.«
»Aber, Max...«
»Hör auf mit dem theatralischen Getue, Victoria. Das passt nicht zu Illa Gardella. Meinst du etwa, deine Tante Eustacia hätte Daclid angefleht, sich nicht der Prüfung zu stellen?«
»Wen?«
»Ehe sie sich in Kritanu verliebte, der nur ein junger Mann war, der sie im Kämpfen ausbilden sollte, liebte Eustacia einen Mann namens Daclid, der meinte, er könnte die vis bulla tragen. Er stellte sich der Prüfung, scheiterte aber wie viele andere im Laufe der letzten Jahrhunderte.«
Er schenkte ihr keinen Trost. Seine Miene blieb verschlossen und streng. »Es gibt keine Garantie, dass ich die Prüfung bestehe; auch wenn ich mich ihr bereits das zweite Mal stelle.«
Victoria versuchte, ihre Gedanken zu sammeln, die bei diesen Enthüllungen in tausend Richtungen zu flüchten schienen. Das letzte Mal, dass etwas so unerwartet für sie gekommen war, so außerhalb ihres Vorstellungsvermögens, war gewesen, als sie Zeugin der Enthauptung von Eustacia durch eben diesen Mann wurde, der hier vor ihr stand. »Wie kommst du an das Blut, wenn du den Vampir pfählst? Wofür ist es überhaupt?«
»Wir nehmen das Blut vor dem Kampf ab — dafür darf ich mir Hilfe holen, weil es nicht Teil der Prüfung ist«, fügte er hinzu und klang nicht besonders stolz darauf. »Gerade genug Blut, um die vis bulla darin einzutauchen.«
Er stand so dicht vor ihr, dass ihr Saum seine Füße streifte. »Dazu kommt es aber nur, wenn ich es schaffe, den Raum lebend zu verlassen. Dieser Teil der Prüfung geht übrigens auf die Kampfe im Kolosseum zurück. Du weißt schon... die Menschen, die zur Volksbelustigung den Löwen vorgeworfen wurden ... aber sobald es dunkel war, hat man sie stattdessen Vampiren vorgeworfen. Das Publikum waren Mitglieder der Tutela und Vampire.«
Victoria mochte gar nicht daran denken, was auf Max wartete. Nicht wenn er so dicht vor ihr stand, dass sie die einzelnen Barthaare erkennen konnte, die wieder begannen an seinem Kinn zu sprießen, und seinen Herzschlag seitlich am Hals sah. Aber sie konnte es auch nicht einfach ignorieren. Sie musste es wissen. Sie war Illa Gardella. »Und wenn du den Raum lebend verlässt?«, fragte sie weiter.
»Die zuvor in Blut getauchte vis bulla wird durch meine Haut gestochen — genau wie bei dir. Der einzige Unterschied ist, dass meine, weil ich kein Gardella bin, sowohl in untotes Blut als auch in Weihwasser getaucht wird. Das ist die letzte Prüfung. Entweder ich überlebe es, und die Kraft der vis geht auf mich über, oder ich sterbe an der Mischung aus Sünde und Heiligkeit, die mein Fleisch durchbohrt.«
Und dann begriff Victoria endlich. »Wenn du die Prüfung bestehst... wenn du alles bestehst... ist es göttlicher Wille.«
»Natürlich. Genau wie deine Berufung göttlicher Wille ist.«
»Max, du...«
»Nicht.« Er stieß es zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Also sagte sie nichts, sondern ließ sich nur in seine Arme fallen.
Seine Arme legten sich mit einer Kraft um sie, mit der sie nicht gerechnet hatte, eine Kraft, die ihr sagte, dass er nicht so leidenschaftslos war, wie er vorgab.
Sie spürte zum ersten Mal so etwas wie Verzweiflung in seiner Berührung, und sie wusste, dass es die gleiche Furcht war, die sich auch in ihrem Verhalten widerspiegelte. Das leichte Zittern ihrer Finger, als sie ihn so eng an sich zog, wie es ging, und er kurz seine Stirn an ihre drückte, während ihrer beider Herzen im Gleichklang schlugen und ihr Atem sich vermengte. Wie sie einander Sekunden später zu Boden zogen, an der Kleidung zerrten, sie anhoben, wegschoben, wegrissen, sodass sie einander wieder Haut an Haut spüren konnten.
Sie stürzten wild übereinander her, ohne Feinfühligkeit oder Zurückhaltung. Und als sie fertig waren und mit verschwitzten Gliedern und zerzauster Kleidung aneinandergeschmiegt dalagen, öffnete Max die Augen und schaute Victoria an.
Das Herz ging ihr auf, begann zu flattern und zu beben, und sie öffnete schon den Mund, um ihm zu sagen, wie sehr sie ihn liebte, dass sie es nicht ertragen könnte, wenn ihm etwas passierte ... und vielleicht auch, um ihn zu bitten, sich nicht der Prüfung zu stellen.
Doch er sprach zuerst, und durch seine Worte stoben ihre hochfliegenden Gedanken in alle Richtungen davon. »Halte dich von mir fern, bis ich die Prüfung hinter mich gebracht habe, Victoria. Ich darf nicht abgelenkt werden. Verstehst du das?«
Sie nickte, während er ihren Kopf mit beiden Händen umfasst hielt. Dabei drückte sich sein Körper sanft an sie. Sie fuhr
sich mit der Zunge über die Lippen, um sie zu befeuchten, holte schon Luft, um zu widersprechen... und nickte dann wieder.
In seinen Augenwinkeln bildeten sich ganz leichte Fältchen, gerade so viel, damit sie erkannte, dass er wusste, wie schwer es ihr fiel, sich mit seiner Entscheidung abzufinden.
Sie standen auf, richteten ihre Kleidung, verließen den Raum, und jeder ging in sein eigenes Zimmer.
Und am nächsten Morgen brachen sie nach Prag auf.