Kapitel 9

In dem unsere Helden sich der neuen Herausforderung stellen

 

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und ihr ganzer Bauch kribbelte, während Victoria stockend Atem holte, als Max auf sie zukam. Noch nie hatte sie diesen Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen: die heiße Lust in seinen Augen, den sanfteren Zug um seine sonst so grimmigen Lippen.

»Du hast... deine Meinung... geändert?« Die matt gehauchten Worte - gar nicht venatormäßig — waren unnötig und völlig absurd angesichts des Blicks, mit dem er sie ansah.

Sie stand auf der zweiten Stufe, und ihre Hand lag immer noch auf dem Pfosten, als er zu ihr an die Treppe trat, sodass sie auf gleicher Augenhöhe waren. Doch statt sie zu packen und an sich zu reißen, um über sie herzufallen, überraschte Max sie damit, dass sie auf gleicher Höhe blieben, während er seine Hände über ihren Oberkörper gleiten ließ und sie dann auf ihre Hüften legte.

Er beugte sich nach vorn, aber nicht, um ihren Mund zu berühren; stattdessen wählte er eine Stelle unterhalb ihres Ohrs — von wo aus ihr die Lust buchstäblich in alle Glieder schoss. Ihre Finger, die sich am Geländer festklammerten, zitterten. Ihre Augen schlossen sich. Er drückte seine Lippen auf die starke Sehne an der Seite ihres Halses und ließ sie dann meisterlich langsam und warm über ihre Haut streichen. Sie bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper und streckte eine Hand aus, um sich an seiner starken Schulter festzuhalten.

Sie spürte das Flattern seiner Wimpern an ihrer Wange und hörte ihre Atemzüge, die wie das Rauschen des Meeres in ihren Ohren klangen. Und das alles nur wegen eines zärtlichen, gekonnten Kusses.

Endlich.

Heftige Gefühle stiegen in ihr auf, und Tränen begannen in ihren Augen zu brennen. Dies war so anders, so warm, so richtig. Keine Schuldgefühle, keine Heimlichtuerei, keine... Hast.

Als sein Mund sich auf ihre Lippen legte, stellte sie sich auf der Treppenstufe auf die Zehenspitzen, lehnte sich gegen seine warme Brust und legte ihre Hände auf seine Schultern. Dann zog sie ihn an sich.

Wo er hingehörte.

Da war kein Drängen, keine Hast, nichts Heftiges, und trotzdem machte der Kuss sie atemlos, raubte ihr den Verstand und verwandelte ihre Beine in Pudding. Ein inniger, langer Kuss, als hätte er alle Zeit der Welt.

Als würde die Sonne nicht schon bald aufgehen, durch das Seitenfenster strömen und sie in warmes Licht tauchen.

Als würde er gar nicht aufhören können, seine Lippen auf ihren Mund zu drücken und einen sinnlichen Tanz mit ihrer Zunge zu vollführen. Seine Hand glitt nach oben in ihr volles Haar und legte sich um ihren Hinterkopf, sodass er den Kuss noch inniger werden lassen konnte.

Der Teufel sollte ihn holen! Er hatte Recht. Wenn er so weitermachte, würde sie tatsächlich ihren eigenen Namen vergessen.

Intuitiv schien er ihre Gedanken zu spüren und löste sich von ihr. Aber sie merkte noch, wie sich seine Lippen an ihrem Mund zu einem Lächeln verzogen. Als wäre er sehr zufrieden mit sich.

»Vielleicht«, meinte er, und seine Stimme klang nicht ganz so gelassen wie sonst, »sollten wir irgendwo hin, wo es... gemütlicher ist.«

Sie ließ ihre Hände nach unten auf seine Brust gleiten und spürte die festen Muskeln und den schnellen Schlag seines Herzens unter ihren Fingerspitzen.

»Wie bitte?«, brachte sie stockend hervor, während sie nach hinten, eine Stufe höher trat und ihn dabei an seinem Hemd hinter sich herzog. »Nicht hier?«, versuchte sie etwas lahm zu scherzen.

Seine Lippen, die jetzt ganz weich und sinnlich waren, verzogen sich zu einem leichten Lächeln. »Weder Treppenstufen noch Kutschen eignen sich, um daraus ein vollkommenes Erlebnis zu machen.« Seine Augen glühten immer noch vor Leidenschaft. »Und ich will es für dich zu einem absolut unvergesslichen Erlebnis machen.«

Victoria wäre beinahe über ihren hinteren Saum gestolpert, doch er war da, um sie zu stützen. Zwar fiel es ihr schwer zu schlucken, trotzdem verzog sich ihr Mund zu einem erfreuten Lächeln. »Das wird aber auch langsam Zeit, Max.« Ihre Stimme war ein verführerisches Schnurren, während ihre Hände immer noch auf seiner Brust lagen. Aber in ihrem Innern tobten Hitze und Erleichterung. Das war er. Das war Max. Das war, was sie immer gewollt hatte.

Statt einer Antwort nahm er sie auf die Arme und trug sie schnell die restlichen Stufen hoch. Während er die Treppe hochstieg, spürte sie den herrlichen Druck seiner Muskeln an ihrem Körper, und sie vergrub das Gesicht an seiner Schulter. Sie zog sein Hemd zur Seite, und darunter kam warme Haut zum Vorschein, die wie Max roch und auch wie er schmeckte.

Als sie am oberen Treppenabsatz ankamen, atmete er nur ein bisschen schneller — aber nicht, weil er mit ihr die Treppen hochgestiegen war. Oben ließ er Victoria in einem Wirbel aus durchsichtiger Seide und Spitze von seinen Armen gleiten. Seine Hände legten sich auf ihre Brüste und bedeckten die Spitze, um dann plötzlich ihre nackte Haut zu umfassen. Seine Daumen fanden die harten, empfindlichen Knospen und wurden dann von seinem heißen, feuchten Mund abgelöst.

Sie wurde von einem trägen Strudel der Lust erfasst, der aus zärtlichen, wissenden Händen, feuchten Mündern, warmer Haut und einem beharrlichen Verlangen bestand, das in ihr wuchs... und dann immer fordernder wurde.

Und dann war plötzlich ihr Bett unter ihr, und sie spürte das weiche Leinen auf ihrer nackten Haut, die Wärme seines Körpers, als er sich neben sie legte, ohne dass seine Hände und sein Mund auch nur einen Moment aufhörten, sie zu erforschen. Ihr Leib wölbte sich ihm entgegen, als seine Lippen nach unten glitten, um ihre vis bullae in den Mund zu nehmen, sie hörte das leise Klicken, als das Metall gegen seine Zähne stieß... und dann hätte sie fast vor Überraschung aufgeschrien, als er sich noch weiter nach unten schob.

Eine starke Hand ruhte fest auf ihrem Bauch und sorgte dafür, dass sie sich nicht bewegen konnte, während sein Daumen unablässig um die Amulette kreiste und sie berührte. Trotzdem wand sie sich, während er sie küsste, leckte und streichelte, bis sie nur noch ihre eigenen lauten Atemzüge hörte... und dann das leise Keuchen, weil ihre Lust immer größer wurde.

Max führte sie zum Höhepunkt und blieb bei ihr, während sie am ganzen Körper zitterte, sich auf die Lippe biss, um nicht zu schreien, und sich der Träne, die aus ihrem Augenwinkel lief, nur

zu bewusst war. Dann lag er schlank und warm wieder neben ihr und schmiegte sich an ihren Körper, als sie nach ihm griff. Sie legte ihre Finger um ihn, und er schloss seufzend die Augen.

Doch nur ein paar Augenblicke später nahm er ihre Hand sanft, aber entschieden weg, legte seinen Mund auf ihre Lippen und schob sich über sie. Er fühlte sich wunderbar fest und warm an, und sie schmiegte sich an seine festen Muskeln, aus denen sein ganzer Körper bestand.

Dann nahm er sie ganz in Besitz, glitt in sie hinein, während sie die Augen schloss und dachte... endlich.

In seinen Träumen kam Giulia zu ihm... und sie hatte seit Monaten nicht mehr so echt, so lebendig gewirkt.

Sebastian wusste nicht, ob es an der Menge von Brandy lag, die er getrunken hatte, oder daran, dass er Victorias Entscheidung endlich akzeptiert hatte.

Was auch immer dafür verantwortlich sein mochte, ließ ihn blindlings nach Max' Schwester greifen, als er erwachte — nur um festzustellen, dass sie genauso wenig da war wie Victoria.

Die zu Max gegangen war.

Max' Schwester.

Max' Geliebte.

Bitterkeit erfüllte ihn, während er im anbrechenden Morgen in seinem Bett lag.

Überreste des Traums schlummerten noch in seiner Erinnerung, und er schloss die Augen, um den Traum zurückzuholen. Er berührte ihr langes, dunkles Haar, das genauso voll und dicht wie bei Victoria war, doch keine Locken hatte. Er schaute in die Pesaro-Augen, spürte die Wärme ihres Körpers neben seinem, wie er es in Wirklichkeit nie erlebt hatte.

In seinen Träumen vermisste er sie, trauerte wieder um sie, haderte mit sich, weil er es gewesen war, der ihr untotes Leben beendete und sie damit der ewigen Verdammnis auslieferte.

Doch in seinen Träumen blickte sie ihn aus klaren Augen an, ohne dass in ihnen ein Vorwurf lag. Zärtlichkeit sprach aus ihnen, ja, sogar... Hoffnung.

Als er erwachte, starrte Sebastian die rissige, von Rauch geschwärzte Decke in seinem kleinen, unpersönlichen Zimmer an. Was jetzt?, fragte etwas in seinem Kopf.

Was jetzt?

»Sag meinen Namen.«

»Max.«

Victoria schloss die Augen. Sie mochte vielleicht nicht genau wissen, wo sie war, was mit dem hauchdünnen rosafarbenen Gewand passiert war oder ob das helle Licht, das durchs Fenster fiel, Mondschein war oder bereits der Morgen dämmerte... aber eines wusste sie ganz genau: wer der Mann war, der neben ihr lag.

Ihr Mund verzog sich unter seinen Lippen zu einem Lächeln, als er sich über sie beugte, um sie wieder zu küssen. Ihre zarte Haut hatte sich längst an seine rauen Bartstoppeln gewöhnt, und ihr eigener Moschusduft hing an seinen Lippen und seiner Zunge. Sein Körper war so warm, so groß, so kräftig und so erfahren.

Und so vertraut.

»Und wer bist du?«, murmelte er an ihren Lippen, während er wundervoll tief in sie hineinglitt. Wieder. Oh ja. Wieder.

Victoria hielt den Atem an und wölbte sich dem mit rauen Haaren bedeckten Körper entgegen, der sich an sie drückte. Sie

spreizte ihre Hände über den Muskeln auf seinem Rücken. Der Wirbelsturm hatte sich ein wenig gelegt, und der Sog war jetzt bedächtiger, aber noch genauso stark.

Beinahe hätte sie vergessen, ihm eine Antwort zu geben. »Ich heiße... Jane?«

Sie spürte, wie sich seine Wange verzog, und wusste, dass er lächelte.

Ein Max, der lächelte. Ein Wunder.

Doch dann lösten sich ihre Gedanken in nichts auf, als sein Lächeln wich und sie sich zusammen zu bewegen begannen. Sein Mund lag dabei an ihrem Hals, das Gesicht hatte er in ihren Haaren vergraben. Sie spürte den warmen Hauch seines Atems und seinen Wimpernschlag an ihrer Schläfe, während die Lust in ihr anstieg, noch intensiver, noch stärker, um sie dann auf einer langen Welle davonzutragen.

Sie hörte ihn leise an ihrer Wange stöhnen, als auch er Erfüllung fand, und ihre Lider schlossen sich... ihr schlanker, entspannter und befriedigter Körper schlummerte ein.

Als Victoria etwas später erwachte, spürte sie trotz geschlossener Augen den Sonnenschein auf ihrem Gesicht und wusste, dass es bereits helllichter Tag war.

Einen Moment lang rührte sie sich nicht, sondern gab sich dem Gefühl hin, Max' warmen Körper neben ihrem zu spüren. Sie hatte Angst, die Augen zu öffnen und sich dem zu stellen, was auch immer die Folge der vergangenen Nacht sein würde. Das letzte Mal - das einzige andere Mal —, als sie und Max so miteinander zusammen gewesen waren, hatte sie sich einem Mann gegenübergesehen, der voller Bedauern gewesen war und dem man die blanke Furcht vom Gesicht hatte ablesen können.

Sie hatte nicht das Gefühl, das noch einmal ertragen zu können.

Sie hatte nicht das Gefühl, dass ihr Herz dazu in der Lage wäre.

Als es an der Tür klopfte, riss sie die Augen auf, obwohl sie das doch gar nicht hatte tun wollen; doch ehe sie auf das Klopfen reagieren konnte, drehte sich auch schon der Knauf, und die Tür ging langsam auf.

Hinter ihr im Bett knurrte Max: »Raus«, und Victoria sah, dass die Tür einen kleinen Ruck nach vorn machte — als wäre jemand vor Überraschung zusammengezuckt —, um dann gleich darauf zugeschlagen zu werden, als hätte sich dieselbe Person zu Tode erschrocken. Sie unterdrückte ein Kichern. Das würde Verbena Gesprächsstoff für die nächsten Wochen geben.

Sie holte tief Luft und drehte den Kopf zu Max, der sie aus dunklen Augen musterte.

»Guten Morgen, Jane«, sagte er. Seine Mundwinkel zuckten leicht.

Kein Bedauern. Keine Furcht. Eher fast schon ein Anflug von... Erheiterung? Victoria spürte, wie Freude in ihr aufstieg. »Guten Morgen. Steht ein Fuß schon auf dem Boden, um gleich davonzustürzen?« Sie schlug einen bewusst gelassenen Tonfall an, merkte aber, dass sie den Atem anhielt.

»Gibt es einen Grund, warum ich davonstürzen sollte? Die Rückkehr eines Ehemannes oder Liebhabers vielleicht?«, fragte er leichthin... trotzdem... trotzdem... nahm sie eine leichte Anspannung wahr. Zwar nur ganz schwach, aber doch nicht zu überhören.

»Nein.« Sie setzte sich auf. Die Decke rutschte nach unten und ließ seinen Blick — und seine Finger — zu ihrem nackten Busen gleiten. »Max«, hauchte sie, als seine langen, eleganten Finger zart über ihre Haut strichen, »ich will, dass du weißt, dass es mit Sebastian nie so war. Was ich damit sagen will, ist, dass er... dass wir nie nebeneinander geschlafen haben. Nie miteinander aufgewacht sind. Es war immer viel... verstohlener mit Sebastian.«

»Hmm«, meinte Max in einem ihm völlig unähnlichen Tonfall, »sollte ich jetzt beleidigt sein, weil du dich nach dieser Nacht trotzdem immer noch an seinen Namen erinnerst?«

Doch dann wich das amüsierte Funkeln aus seinen Augen, und seine Miene wurde ernst. »Ich ziehe es eigentlich vor, nicht darüber nachzudenken, was zwischen euch war oder nicht war.«

»Da war nichts«, erwiderte Victoria und bemerkte dabei, wie strahlend weiß die Bettwäsche gegen seine dunkle Haut aussah, »das mit dem vergleichbar wäre, was letzte Nacht zwischen uns gewesen ist.«

»Nichts?«

»Nun ja, vielleicht waren ein paar Techniken ähnlich«, erwiderte sie mit leichtem Schuldbewusstsein. Es war weit mehr als bloße Technik mit Sebastian gewesen. Aber sie hatte sich hinterher nie so befriedigt, so zufrieden... so erfüllt gefühlt wie jetzt.

Max glitt aus dem Bett, und Victoria drehte sich um, um seinen großen, anmutigen Körper anzusehen. Die silberne vis bulla hing immer noch an seiner Brustwarze, und sie erinnerte sich plötzlich sehr deutlich daran, wie das glatte, warme Metall in der letzten Nacht an ihren Zähnen geklickt hatte, dachte an die Woge von Kraft, von der sie dabei durchströmt worden war. Mmm.

Doch als sie Max' suchenden Blick durchs Zimmer Schweifen sah, unterdrückte Victoria ein Lächeln. Sie war schließlich verheiratet gewesen und wusste also um die morgendlichen Bedürfnisse eines Mannes, deshalb schickte sie Max ins Ankleidezimmer nebenan, wo der Nachttopf stand.

Sie nutzte den Moment des Alleinseins, während er im anderen Zimmer war, um sich um ihre eigenen Bedürfnisse zu kümmern. Dabei fragte Victoria sich nicht zum ersten Mal, was den Sinneswandel bei ihm ausgelöst hatte. Nicht dass sie sich während der Nacht oder am Morgen viel Gedanken darüber gemacht hätte. Aber irgendwie beschäftigte es sie schon.

Monatelang hatte er versucht, sie Sebastian in die Arme zu treiben. Letzte Nacht hatte er vorgehabt zu gehen, und Victoria gab sich keinen Illusionen darüber hin, dass er irgendwann zurückgekommen wäre.

Aber sie hatte dann wohl irgendetwas gesagt, das ihn seine Meinung hatte ändern lassen, denn Victoria wusste, dass es nicht allein am rosa Nachthemd gelegen haben konnte. Sie hatte eher den Verdacht, dass ihr Geständnis, seit Monaten nicht mehr mit Sebastian zusammen gewesen zu sein, den Ausschlag gegeben hatte.

Ich habe kein Interesse an dem, was Vioget übrig gelassen hat. Oder ist es dir egal, wer der Vater deines Kindes ist?

Das musste es gewesen sein. Er hatte schon früher Bemerkungen über ihre vielen Liebhaber gemacht, und er hatte wohl angenommen, dass sie mit ihnen beiden herumtändeln wollte. Sie hoffte, dass sie mit ihrem Geständnis letzte Nacht alles richtiggestellt hatte.

Als Max ins Zimmer zurückkam, blieb er einen Moment lang auf der Türschwelle stehen, um die Schnüre an seiner Hose festzuziehen. Victoria musste schlucken. Ihr Mund war plötzlich ganz trocken. Ihre Absicht, mit ihm über seine Entscheidung, nun doch zu bleiben, zu sprechen, war vergessen. Diese sehnigen Muskeln, die breiten Schultern, das dunkle Haar, das seine braune Haut bedeckte...

»Hast du gestern irgendetwas von Vioget erfahren?«, fragte er ohne Vorrede.

Victoria musterte ihn mit scharfem Blick, konnte aber nichts außer ganz normalem Interesse in seiner Miene erkennen. Aha. Wieder zum Thema zurück. »Er sagt, wir brauchen alle Ringe von Jubai«, antwortete sie und spürte seinen Blick, als sie einen dünnen Morgenmantel überstreifte. »Er hat mir auch erzählt, dass Lilith den Teich bei Muntii Fagaras mit einem Bann belegt hat, sodass keiner an das Wasser herankommt.«

»Und was ist mit den Ringen? Sollen wir mit Lilith verhandeln, um an die Kugel zu kommen?«

Victoria schüttelte den Kopf. »Lilith hat diese fünf Kupferringe anfertigen lassen und ihren stärksten Wächtervampiren gegeben. Sebastian sagt, wenn man alle fünf an eine Hand steckt, kann man mit dieser Hand in den Teich greifen, ohne dass einem etwas passiert.«

Max' Miene war, während sie sprach, immer ernster geworden. Er nickte. »Was Vioget sagt, stimmt in der Regel. So nützen uns die Jahre, die er mit Beauregard verbracht hat, jetzt zumindest etwas.«

»Wir haben zwei der Ringe von Jubai«, meinte Victoria mehr zu sich selbst denn zu Max. »Einen hat Sebastian letzten Monat aus Liliths unterirdischer Höhle geholt.«

»Ich erinnere mich«, merkte er trocken an. Das sollte er auch, denn Victoria und Sebastian hatten Max mit dem Ring freikaufen wollen, wenn sie keine andere Möglichkeit gefunden hätten, ihn aus Liliths Klauen zu befreien. »Der andere befindet sich im Konsilium.«

»Sebastian hat mir gesagt, dass ein dritter irgendwo in Prag sei.«

»Prag? Da bin ich seit Jahren nicht gewesen«, stellte Max fest. »Weiß Vioget, wo er genau ist?«

»Er behauptet, er könnte ihn finden. Er hat sich schon bereit erklärt, mich... und dich zu begleiten, wenn du willst.«

Max richtete sich auf und schaute aus dem Fenster. Sein dunkles Haar fiel ihm voll und zerzaust bis zu den Schultern, rahmte sein Gesicht ein und streifte seitlich seinen Hals, sodass sie es am liebsten berührt hätte.

Aber dafür besaß sie noch nicht genug Selbstvertrauen. Es war gut möglich, dass Max zurückwich, ohne es ihr zu erlauben.

»Ich muss einen Vampir finden«, sagte er, während er weiter aus dem Fenster schaute. Sein Kiefer wirkte angespannt, und das Sonnenlicht hob seine hohen Wangenknochen hervor.

Victoria zog die Augenbrauen zusammen, doch ehe sie antworten konnte, ließ ein Klopfen an der Tür sie zusammenzucken. Sie drehte sich um und rief: »Ja?«

Ein orangefarbener Schopf schob sich schüchtern um das Türblatt, und gleich darauf erschienen auch Verbenas kecke Nasenspitze und die sandfarbenen Wimpern. »Hätten Sie gern etwas zum Frühstück? Äh... ich dachte, Sie wären vielleicht hungrig. Es ist bald Mittag.«

Victoria unterdrückte ein Lächeln, als Verbena Max, der in seinem zerzausten, hemdlosen Zustand und mit dem finsteren Gesichtsausdruck ziemlich furchteinflößend wirkte, einen bösen Blick zuwarf.

»Ja, in der Tat«, gab sie ihrer Zofe Recht.

Aber sie hatte Max' Bemerkung noch nicht vergessen... die sich fast so angehört hatte, als hätte er sie sich abringen müssen.

Sobald Verbena den Raum verlassen hatte — nachdem sie ein mit Speisen vollbeladenes Tablett auf der Frisierkommode abgestellt hatte -, sah Victoria Max nur mit hochgezogener Augenbraue fragend an. Und wartete.

»Für die Prüfung«, sagte er schließlich. »Alle Vampire haben London verlassen, aber ich brauche einen, wenn ich die Prüfung noch einmal absolvieren will.«

Plötzlich stürmten ganz viele Empfindungen auf Victoria ein. Daher zog sie es vor, die Speisen, die ihre Zofe gebracht hatte, erst einmal einer genauen Musterung zu unterziehen. Da war Angst... eine Woge von Furcht, die von einer angespannten Erregtheit begleitet wurde... und dann der Anflug eines sanfteren Gefühls. Zärtlichkeit?

»Max«, setzte sie an.

Doch er brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen, als er sich doch endlich vom Fenster abwandte und zu ihr umdrehte. »Ich hatte mich bereits dazu entschlossen; schon vor... der letzten Nacht.« Bildete sie es sich nur ein, oder hatte ihm bei den letzten Worten tatsächlich ein bisschen die Stimme versagt? Hatten die Erinnerungen sie ein wenig rauer werden lassen? Oder war das nur Wunschdenken ihrerseits? »Aber wenn wir nach Prag reisen und die Ringe finden...« Er hielt inne; presste die Lippen zusammen, und sie sah, nein, spürte sogar, wie sich sein ganzer Körper anspannte. »Ich nehme an, dass Lilith die anderen beiden hat.«

Victoria nickte. Von Sebastian wusste sie, dass es Lilith nur gelungen war, zwei der Ringe wieder in ihren Besitz zu bringen.

Als sie des Ausdrucks auf Max' Gesicht gewahr wurde, verwandelte ihr Magen sich in einen Bleiklumpen.

Sie würden eine Möglichkeit finden müssen, um an die letzten beiden Ringe von Jubai zu kommen... entweder indem sie die Vampirkönigin dazu brachten, mit ihnen zusammenzuarbeiten, um so ihrer beider Rassen zu schützen, oder mit Gewalt.

Und sie wusste, wenn Max die Prüfung überlebte und wieder Venator war, würde er mittendrin stecken... was immer das auch sein mochte.

Wenn Victoria gedacht hatte, dass mit Max nun alles vollkommen anders sein würde, nachdem ihr dieses rosa Nichts von ihm ausgezogen worden war (das Verbena zufälligerweise zerknüllt und in zwei Teile gerissen unter einem der Tische, die oben neben der Treppe standen, gefunden hatte), lag sie falsch.

Es fühlte sich so an, als würden sie Kleidungsstücke tragen, die noch nicht richtig saßen.

Mit einer nichts sagenden Entschuldigung verließ er kurz nach Verbena das Schlafzimmer und griff sich im Hinausgehen ein von knusprigem Brot umhülltes Stück Käse, wobei sein Blick noch etwas länger auf Victoria verweilte, als er durch die Tür verschwand.

Er gab ihr keinen Kuss; aber sie wusste, dass er es gern getan hätte.

Sie seufzte wütend, nachdem er fort war. Er fühlte sich eindeutig nicht wohl mit dem neuen Arrangement. Trotzdem streckte sie sich ausgiebig, lächelte und drehte sich auf den Bauch, um das Gesicht in die Laken zu drücken und seinen Geruch einzuatmen, der immer noch in der Bettwäsche hing. Sie nahm sich einfach diesen seltenen Moment in ihrem aufreibenden Leben, um etwas zu genießen, das die meisten Menschen als selbstverständlich ansahen.

Früh genug - bereits morgen - würden sie auf dem schnellsten Wege nach Prag reisen und dann weiter zu jenem Ort, wo immer Lilith sich auch aufhalten mochte. Für irgendwelche Freuden würde nur wenig Zeit sein.

Als wäre es nicht genug, dass Victoria sich plötzlich in Max' Gegenwart nicht mehr wohl in ihrer Haut fühlte, musste sie sich auch noch mit Lady Melly befassen, die sie keine zwei Stunden später besuchte.

»Meine liebe Victoria«, sagte Lady Melly und sah ihre Tochter mit gerunzelter Stirn an, »was ist eigentlich los mit dir?«

Victoria wurde etwas blass, und ihre Hand fuhr zu ihrem Hals, als wollte sie ihn nach... was? Vampirbissen? Liebesbissen? ... abtasten. »Was meinst du, Mutter?«

»Nun, du siehst so aus, als könntest du kaum laufen. Bist du gestürzt?«

Victorias Wangen wurden ganz warm, und ihre Hand fiel in ihren Schoss zurück. »Nein, nein. Ich bin nur ein bisschen müde.«

»Tja, ich finde, du siehst überhaupt nicht müde aus«, meinte Melly und musterte sie mit kritischem Blick. »Du siehst... nun ja, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken... du siehst... gut aus.«

Liefen die Wangen ihrer Mutter etwa rot an?

»Mutter, es tut mir leid, dass ich keine Zeit habe, aber ich wollte gerade los.«

»Du willst los? Willst du deinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen und Besuche machen? Vielleicht komme

ich mit... aber du bist nicht passend angezogen, um Besuche zu machen, Victoria. Du kannst doch nicht...«

»Mutter«, unterbrach Victoria sie und bedeutete Charley, eine Kutsche zu rufen, die sie eigentlich gar nicht brauchte. Aber verzweifelte Umstände verlangten verzweifelte Maßnahmen.

»Ich will keine Besuche machen. Ich muss mich mit Tante Eustacias Anwalt treffen«, erklärte sie, nachdem sie schnell überlegt hatte. »Es sieht so aus, als müsste ich vielleicht wieder nach Rom reisen, um dort ein paar Sachen zu erledigen.« Das zumindest stimmte... sie musste den Kupferring aus dem Konsilium holen. Aber von dort würde es dann weiter nach Prag gehen.

»Du gehst zum Anwalt hin, statt ihn hierherzubestellen? Aber das tut man einfach nicht, Victoria! Und eine Marquise schon gar nicht. Und wo sind deine Handschuhe? Ich wage zu behaupten...«

»Mutter«, erklärte Victoria sehr deutlich artikuliert, »ich darf nicht zu spät zu meiner Verabredung kommen. Gibt es noch etwas, das du unbedingt mit mir besprechen musst?«

»Ah... äh... du hast gesagt, du willst nach Rom? Um dort etwas zu erledigen? Aber, Victoria, dafür hast du doch einen Anwalt, damit er die ganzen Erbschaftsangelegenheiten deiner Tante für dich regelt. Mit so etwas brauchst du dir doch nicht die Hände schmutzig zu machen. Und wo ich gerade davon spreche... wo sind überhaupt deine Handschuhe? Und« - ihre Stimme wurde durchdringender, als ihre Tochter den Mund öffnete, um etwas zu sagen - »davon abgesehen ist der mutmaßliche Marquis von Rockley heute in London eingetroffen... deshalb bin ich auch so schnell hergekommen, um dich darüber in Kenntnis zu setzen.«

»Danke für diese wichtige Information, Mutter«, meinte Victoria trocken. Sie warf einen sehnsüchtigen Blick zur Tür hin.

In dem Augenblick ging sie auf, und Max kam herein.

Lady Melly sah ihn an. Sah zu ihm auf. Und trat einen Schritt zurück. Einen kleinen zwar, aber immerhin. Ihr Blick schoss zu Victoria, als wollte sie Victorias Reaktion auf den beeindruckenden Mann abschätzen, der ihr Haus gerade betreten hatte, ohne hereingebeten worden zu sein.

Melly hatte Max immer nur kurz gesehen in den Jahren, in denen er Tante Eustacia geholfen hatte, und Victoria war sich nicht sicher, ob sie sich überhaupt an ihn erinnerte oder ihn gar wiedererkannte.

»Ihre Kutsche steht bereit, Mylady«, verkündete Max mit völlig trockener Stimme. Es bestand noch nicht einmal der Hauch einer Möglichkeit, ihn mit einem Lakaien zu verwechseln. Victoria nahm einen Anflug von Erheiterung in seinen Augen wahr, und sie hob das Kinn, um nicht lächeln zu müssen.

»Es tut mir leid, Mutter, aber ich muss jetzt wirklich los. Richte dem Marquis meinen Gruß aus.« Ihre Hand lag bereits auf dem Türknauf, als sie sich noch einmal umdrehte. »Ich werde wahrscheinlich morgen nach Rom abreisen.«

»Morgen?«, rief Lady Melly mit schriller Stimme.

Victoria zuckte zusammen.

Max verzog das Gesicht, und Victoria schlüpfte an ihm vorbei durch die offene Tür. Die Worte ihrer Mutter folgten ihr wie das durchdringende Kreischen einer Eule, und Victoria meinte, sie irgendetwas von einem Willkommensball für den Marquis sagen zu hören.

»Du musst mich bei ihm entschuldigen, Mutter«, sagte sie über die Schulter. Sie war sich sicher, dass Melly diesen Vorwand nutzen würde, um mit dem Marquis zu sprechen, wenn sie ihm schon nicht ihre Tochter in die Arme treiben konnte.

Überrascht stellte Victoria fest, dass Max ihr zur Kutsche folgte. Er sprach kurz mit dem Kutscher, dann stieg er ein. Er schloss den Schlag, und als das Gefährt sich mit einem leichten Schwanken in Bewegung setzte, nahm Max... ihr gegenüber Platz.

Alte Gewohnheiten legte man offensichtlich nicht so leicht ab.

Eine Weile war das rhythmische Schlagen der Hufe auf den Pflastersteinen und das leise Quietschen der Kutschfedern das einzige Geräusch. Victoria musterte ihn und hatte dabei das Gefühl, sich zumindest das Privileg verdient zu haben, ihn so lange und so intensiv betrachten zu dürfen, wie sie wollte.

Wie so häufig schaute Max aus dem kleinen Fenster, sodass sie von ihm nicht viel mehr als sein Profil mit der prägnanten, geraden Nase und dem energischen Kinn, das jetzt glatt rasiert war, zu sehen bekam. Und seinen Mund.

Ihr Mund wurde ein bisschen trocken, als sie sich mit absoluter Klarheit an all die herrlichen Stellen erinnerte, wo diese Lippen gewesen waren und welche atemberaubenden Dinge sie getan hatten. Victorias Bauch zog sich zusammen, sodass diese wohlvertraute Wärme in ihre Glieder zu strömen begann, und sie musste schlucken.

»Eigentlich eine Schande, die Pferde nur für eine Runde um den Block anspannen zu lassen«, brach sie schließlich das Schweigen. »Aber ich wusste, dass ich das Haus verlassen musste, um meine Mutter loszuwerden.«

»Ich dachte, du könntest die Kutsche vielleicht für etwas anderes benutzen.«

Victoria warf ihm einen scharfen Blick zu, aber er sah immer noch aus dem Fenster. An seinem Profil konnte sie nicht erkennen, ob da ein Anflug von Erheiterung... oder Wärme in seinen Augen war.

Es war jedoch eindeutig Wärme, die ihre Wangen erröten ließ.

»Für was denn?«, fragte sie.

Er lehnte sich in den blauvioletten Polstern zurück und legte entspannt einen Arm darauf. Endlich drehte er sich um und schaute sie an. Ein gefährliches Funkeln lag in seinen dunklen Augen, doch er erwiderte nur: »Einen Besuch in der Fleet Street? Brauchst du nicht irgendwelche Kinkerlitzchen oder Firlefanz für deine Reise nach Rom?«

»Du meine Güte, Max, willst du damit etwa sagen, dass du mit mir einkaufen gehen möchtest?« Schüchtern senkte sie den Blick. »Wie unerwartet zuvorkommend von dir.«

Das Schnauben, das Max ihr zur Antwort gab, klang verdächtig nach »Wie verrückt«, aber seine wundervollen Lippen pressten sich aufeinander, als versuchte er, ein Lächeln zu unterdrücken. »Ich bin ständig zum Einkaufen mitgekommen, als ich Sara den Hof machte.«

»Oh ja, das sieht dir ähnlich.« Jetzt konnte Victoria ihr Lächeln nicht mehr zurückhalten. Dass Max damals so getan hatte, als würde er Sara Regalado den Hof machen, störte sie längst nicht mehr, und sie konnte sich sogar über die Vorstellung amüsieren, wie er der modebewussten italienischen jungen Dame von Laden zu Laden gefolgt war. Im Rahmen der Pflichterfüllung würde Max alles tun.

Alles.

Victoria wurde wieder ernst. »Max, du musst nicht wieder eine vis bulla haben. Das spielt für mich keine Rolle.«

Auch aus seinem Gesicht wich die Erheiterung. Es war jetzt genauso ernst wie ihres. »Für mich aber.«

»Ich will nicht, dass dir irgendetwas passiert«, erklärte sie, ehe sie die Worte zurückhalten konnte. Verdammt. Sie hörte sich wie eine schwache Frau an! Sie, Illa Gardella. War es das, was die Liebe aus einem machte?

Max stieß ein freudloses Lachen aus. »Mir geht es ebenso, Victoria. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass mir etwas passiert, wenn ich keine vis habe, ist viel größer.«

Er hatte natürlich Recht. Max würde nicht aufhören, gegen Vampire zu kämpfen, nur weil er keine vis bulla trug. Und obwohl er keine Venatorenkräfte besaß, gelüstete es Lilith trotzdem nach ihm. Es war keine drei Wochen her, dass Max von ihr gefangen genommen worden war und Victoria und die anderen Venatoren ihm geholfen hatten, sich zu befreien.

»Und dir soll auch nichts passieren«, fügte er hinzu. Der Blick seiner dunklen Augen ruhte auf ihr, und sie spürte, wie Wärme in ihr aufstieg... und Furcht.

Dieses Gefühl, diese kribbelnde, funkensprühende Verbindung, die zwischen ihnen bestand, flößte ihr Angst ein - es war eine starke, doch unsichere Verbindung.

Und die Zukunft machte ihr auch Angst, denn eine Zukunft ohne Max konnte sie sich nicht vorstellen.

»Max«, fing sie an, aber er unterbrach sie.

»Was du einfach nicht zu verstehen scheinst«, meinte er mit leiser, kühler Stimme, »ist, dass ich jetzt keine andere Wahl mehr habe. Ich werde diese Prüfung über mich ergehen lassen und sie bewältigen.«

»Willst du damit sagen, dass ich dich dazu getrieben habe?«

»Natürlich nicht.« Er presste die Lippen aufeinander.

»Warum hast du dich schließlich doch entschieden, die Nacht zu bleiben?«, fragte sie kühn.

»Erst wollte ich nicht... aber, nun ja, ich wollte dich auch nicht teilen. Mit niemandem.«

Wie sie es sich schon gedacht hatte. »Du dachtest tatsächlich, ich würde erst in Sebastians Bett steigen und dann zu dir kommen?« Victoria wusste nicht, ob sie wütend oder beleidigt sein sollte. Deshalb behielt sie einen gelassenen Tonfall bei.

Max' Augen wurden schwarz und ausdruckslos. »Du vergisst, dass ich dich im Laufe der letzten zwei Jahre mit verschiedenen Galanen gesehen habe. Du schienst dich nie lange mit einem abzugeben.«

Victoria hätte ihn in rechtschaffener Wut anfahren und mit Worten aufspießen können, aber sie spürte, dass da unterschwellig etwas war, das er nicht aussprach. Etwas, das er sehr gut verbarg. Deshalb entschied sie sich dafür, völlig ehrlich zu sein. »Das habe ich auch nicht. Bis jetzt.«

Die Streitlust in seinen Augen verschwand, und sein Mund entspannte sich. Aber er sagte nichts.

»Max«, sagte sie, selbst nicht sicher, was an Worten aus ihrem Mund kommen würde... doch dann stockte ihr der Atem. Weil er sie wieder so anschaute wie in der letzten Nacht... mit dreistem, von Leidenschaft erfülltem Blick.

»Allmählich merke ich, was Kutschfahrten so interessant macht«, sagte er und streckte die Hand aus, um seine Finger um ihr Handgelenk zu legen. »Der Rhythmus, die Ungestörtheit...«

Sie sah ein eindeutig lüsternes Lächeln aufblitzen, als er sie auch schon in seine Arme riss.

»Vor allem die Ungestörtheit«, murmelte sie nach einer Weile, als sie sich aus einem langen, intensiven Kuss löste. »Keine Verbena, die hereinkommt. Das arme Ding«, hauchte sie, um, nachdem sich ihre Lippen wieder berührten, fortzufahren. »Da hat sie schon fast Angst vor dir... und dann blaffst du sie heute Morgen auch noch an.«

Er lächelte an Victorias Mund, während seine Finger bereits die Knöpfe im Rücken ihres Kleides öffneten.

Natürlich schnell und gewandt wie in allem, was er tat.

Doch plötzlich hörte er auf und zog sie an sich. Eine kräftige Hand legte sich um ihren Hinterkopf, wobei sich seine Finger in den lockeren Knoten schoben, die andere glitt auf ihren Rücken, wo das Kleid bereits zu klaffen begann. »Victoria«, sprach er leise, fast unhörbar in ihr Ohr, »ich kann nicht zulassen, dass dir etwas passiert. Ich kann es einfach nicht. Das meinte ich damit, als ich sagte, ich hätte keine andere Wahl.«

Sie lehnte sich zurück und schaute ihm in die Augen. »Ich habe die gleiche Entscheidung gefällt, Max. Verstehst du das nicht?«

Er wandte sich ab, während seine Miene hart wurde. »Ich wünschte fast, dass du das nicht getan hättest. Fast«, fügte er scharf hinzu, ehe sie etwas sagen konnte.

Er entfernte sich von ihr, indem er sie erst von seinem Schoss hob und auf ihre Bank setzte, ehe er auf Abstand ging. »Du bist diejenige, die nicht versteht, Victoria.« Er packte ihre Hand und schloss seine kräftigen braunen Finger um ihre schmale weiße Hand. »Du hast mich einmal einen Feigling genannt.«

»Zweimal«, rief sie ihm in Erinnerung.

Der Anflug eines Lächelns ließ seine Mundwinkel zucken. »Ja, dann eben zweimal. Und es stimmt. Ich bin ein Feigling. Ich habe so lange dagegen angekämpft...«

»Wie lange, Max? Seit du mich heimlich dabei beobachtet hast, wie ich mich in der Kutsche umzog?« Victoria konnte einfach nicht widerstehen.

Wieder war da dieses unfreiwillige Zucken um seine Mundwinkel. »Lange genug. Und ich habe dir bereits gesagt, dass ich weder den Wunsch noch einen Grund hatte, dich heimlich zu beobachten.« Dann wurde er wieder ernst, und Victoria spürte unterschwellige Verärgerung. »Sei still und lass es mich jetzt sagen.«

Er schaute aus dem Fenster. »Das Schwerste, was ich je in meinem Leben getan habe, war, Eustacia umzubringen. Ich habe sie wie eine Mutter geliebt, wie eine Anführerin, eine Mentorin und eine Freundin... und sie befahl mir, sie zu töten.«

»Du musstest es tun, Max«, sagte Victoria mit ernster Stimme, während sie seine Hand drückte. »Du musstest es tun, um nah genug an die Vampire heranzukommen, damit du den Obelisken zerstören konntest.«

Tante Eustacia hatte Max tatsächlich befohlen, sie zu opfern, um den Vampiren seine Ergebenheit zu beweisen.

»Verdammt noch mal, das weiß ich, Victoria. Natürlich musste ich es tun; es war das einzig Richtige. Ein Leben opfern, um unzählige andere zu retten. Ich habe mich dafür gehasst. Ich verabscheute den Umstand, dass ich es tun musste, aber ich tat es. Ich habe keinen Augenblick lang gezögert. Ich habe das getan, was verdammt noch mal getan werden musste.«

Er wandte sich vom Fenster ab und schaute sie an. In seinem Blick lag Trostlosigkeit, seine Miene war ernst. »Aber wenn ich dich hätte umbringen müssen? Ich hätte es nicht tun können. Verstehst du? Ich hätte es nicht tun können.«

Er zog seine Hand zurück. »Davor habe ich Angst, Victoria. Dass ich vor so eine Wahl gestellt werde.«