Kapitel 7
In dem Sebastian den Frauen abschwört
Sebastian kehrte schließlich doch nicht in Victorias Schlafzimmer zurück.
Er hatte darüber nachgedacht, sein Pferd satteln zu lassen, um zu den Räumlichkeiten zu reiten, die er bewohnte, wenn er in London war, doch es zog ihn zurück in den Salon. Er wollte unbedingt nachschauen, ob die Gardella-Bibel, von der er so viel gehört hatte, tatsächlich da war. Ein seltsamer Gedanke, gewiss... Sie würde bestimmt nicht irgendwo herumliegen, und außerdem: Warum hatte er überhaupt das Bedürfnis, sie zu sehen? Früher war er doch auch nie auf die Idee gekommen. Trotzdem ließ ihn der Gedanke nicht mehr los, und er begab sich zu dem kleinen Raum, statt das Haus zu verlassen, erfüllt von seinen unliebsamen Überlegungen.
Obwohl Victoria gesagt hatte, dass Wayren schlafe, schien sie bereits auf ihn gewartet zu haben. Er hätte den Salon sofort wieder verlassen, wenn sich ihre blaugrauen Augen, denen nichts zu entgehen schien, nicht auf ihn gerichtet hätten, während sie halb liegend auf dem Sofa ruhte.
»Sebastian. Komm herein.«
»Aber du bist doch bestimmt müde.« Etwas tief in ihm sagte ihm, es würde ihm besser bekommen, wenn er wieder ginge.
»Bitte.«
Ehe er sich selbst dessen gewahr wurde, humpelte er bereits in den Salon, als würde er von einem unsichtbaren Band hineingezogen.
Wayren hatte ihn immer durcheinandergebracht - vom ersten Moment an, vor Jahren, als er sie kennenlernte und von seiner Berufung zum Venator erfuhr... bis zu dem Moment vor weniger als sechs Monaten, als er dabei ertappt wurde, wie er im Konsilium, dem geheimen Hauptquartier der Venatoren in Rom, herumschnüffelte.
Doch sie schien ihm nichts antun zu wollen, und im Gegensatz zu Pesaro lag auch keine Missbilligung in ihrem Blick. Er war ruhig. Friedlich.
Und scharfsichtig. Sein entwaffnender Charme wäre bei so viel Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit fehl am Platz.
»Quälen dich die Träume immer noch?«, fragte sie, während er sich setzte.
Von ihrer Frage überrascht, erstarrte Sebastian und verharrte mitten in der Bewegung. »Träume?« Woher wusste sie davon?
Aber sobald ihm dieser Gedanke kam, wusste er auch schon, dass die Frage dumm war. Wayren wusste viele Dinge — aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wahrheit und Hinterlist. Versprechen und Drohungen.
Ihre Schwäche bestand nicht darin, was sie wusste oder nicht. Wayrens Beschränkung war ihre Unfähigkeit, das zu ändern, was sie wusste - oder ahnte. Oder manchmal einfach nur ihre Informationen preiszugeben.
Sie antwortete nicht, sondern sah ihn einfach nur an. Sebastian ließ sich in den Sessel sinken. Der Teufel sollte ihn holen. Er hätte gehen sollen, als er noch die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Doch jetzt war er bereits zu tief verstrickt.
»Ich träume von Giulia, wenn es das ist, was du meinst.« Sebastian konnte kaum glauben, dass er es laut ausgesprochen hatte. Die Frau - oder eher das Mädchen -, die er vor so vielen Jahren geliebt hatte und welche ihm in seinen Träumen erschien, war etwas sehr Persönliches. Er hatte das Gefühl, die nächtlichen Bilder und Erinnerungen zu besudeln — zumindest die schönen -, indem er es laut gestand. Trotzdem sah er sich gezwungen, es ehrlich und ohne Ausflüchte zuzugeben.
Wayren nickte. »Erzähl mir von den Träumen.«
Sebastian schaute auf seine Hände hinunter. Seine Finger zitterten in seinem Schoss. »Ich träume immer wieder von dem Moment, in dem ich sie sah und erkannte, dass sie in eine Untote verwandelt worden war. Ihre Augen wurden nur ganz kurz rot und nahmen dann wieder das Aussehen wie bei einem normalen Sterblichen an.«
Die Augen eines Sterblichen, die er jedes Mal sah, wenn er Giulias Bruder anschaute. Max Pesaro.
»Deine Abneigung gegen ihn hat keinen Einfluss auf deine Arbeit als Venator... nachdem du jetzt zu uns zurückgekehrt bist«, meinte Wayren ruhig. Es überraschte ihn nicht weiter, dass sie wusste, welche Richtung seine Gedanken genommen hatten. »Ich finde das löblich.«
Abneigung? Das Gefühl, das Sebastian für Max Pesaro hegte, ging viel tiefer als schlichte Abneigung. Max war derjenige gewesen, der Giulia — und auch ihren alten, gebrechlichen Vater — in die Geheimgesellschaft eingeführt hatte, die sich dazu berufen fühlte, Vampiren zu helfen und sie zu schützen. Er hatte geglaubt, die Tutela könnte dabei helfen, ihr Leben zu verlängern. Ja, ihnen sogar durch die Vampire Unsterblichkeit verleihen.
Die schöne und sanfte Giulia hatte im Gegensatz zu ihrem Zwillingsbruder immer gekränkelt. Blass und zart wie sie war, hatte ihr unheilbarer Husten allen Sorge bereitet, die sie liebten.
In seinen großmütigeren Momenten hatte Sebastian fast Verständnis für die Absicht, die hinter Max' Vorgehen gestanden hatte, wie naiv sie auch gewesen sein mochte: seine Familie zu retten und zu schützen.
Aber dieses Einfühlungsvermögen schwand in der Regel, wenn Sebastian sich in Erinnerung rief, dass er wegen Max nicht nur die Frau verloren hatte, die er liebte, sondern er seinetwegen auch gezwungen gewesen war, sie der ewigen Verdammnis anheimzugeben, indem er ihr einen Pflock ins Herz trieb. Giulia war der zweite Vampir gewesen, den er erlegt hatte, und sie wurde die letzte Untote, die er umbrachte... bis zum vergangenen Herbst in Rom. Dazwischen lagen fast fünfzehn Jahre.
Sebastian merkte, dass er schon zu lange nichts mehr gesagt hatte, und schaute auf, wobei er feststellte, dass Wayrens Blick auf ihm ruhte. Ihre Miene, ihre ganze Haltung drückten Geduld und Zuneigung aus.
»Ich träume es immer wieder: dass ihre Augen rot werden und ihre Eckzähne... wachsen... und einen Moment später sieht sie wieder ganz normal aus. Wie eine Sterbliche. Unverändert. Aber ich bringe sie trotzdem um. Ich stoße ihr den Pflock ins Herz, während sie noch den Mund öffnet, um mich anzuflehen.« Er schluckte. »Und dann geht der Traum weiter, ohne dass ich sehen kann, ob sie sich in Asche verwandelt. Und ich frage mich, ob ich wohl einen Fehler gemacht habe... ob ich mich geirrt habe und sie gar keine Untote gewesen ist. Und ich sie völlig grundlos umgebracht habe.«
Es war ihm egal, dass seine letzten Worte gepresst und leise klangen, dass die Wut heiß in ihm loderte. Seine Augen brannten, und er kniff sie zusammen.
Und jetzt war er dabei, die zweite Frau, die er liebte, zu verlieren. An den Mann, den er hasste.
»Es heißt, dass die Seelen von Untoten der ewigen Verdammnis anheimfallen, wenn ihre körperliche Hülle zerstört wird«, sagte Wayren. Ihre Stimme behielt einen sanften, tröstenden Klang bei. Und trotz des inneren Aufruhrs, der Wut und des Schmerzes spürte Sebastian, wie so etwas wie Ruhe und Frieden über ihn kamen. »Und das ist auch der Grund, warum du dich vor Jahren von den Venatoren abgewandt hast, nicht wahr? Weil du glaubtest, dass du nicht das Recht hast, auch nur eine einzige Seele der ewigen Verdammnis preiszugeben.«
»Ja. Wie konnte ich mir anmaßen, dieses Urteil über jemanden zu verhängen? Woher sollte ich wissen, wer es verdiente? Denn wenn sie, als sie noch lebten, gute Menschen gewesen waren ...« Zu seinem großen Verdruss brach seine Stimme, so sehr nahmen ihn die Gefühle mit, die in ihm aufstiegen. Sebastian schluckte und zwang sich weiterzusprechen. »Wenn sie in ihrem wirklichen Leben gut gewesen sind, keine Schuld auf sich geladen haben, dann aber gegen ihren Willen in einen Untoten verwandelt wurden... was gab mir das Recht, sie dann der ewigen Verdammnis zu überlassen?«
»Du glaubst, dass es für diese Untoten Hoffnung geben könnte.« Es war keine Frage, die Wayren stellte, sondern die Feststellung einer Tatsache. Sie sprach eine Hoffnung aus, die so tief in Sebastian verborgen gewesen war, dass er sich noch nicht einmal zugestanden hatte, daran zu denken. Ganz zu schweigen davon, dieser Hoffnung Ausdruck zu verleihen, indem er sie in Worte fasste.
Doch ermutigt - oder vielleicht auch gänzlich entmutigt — von ihrer Frage, sah er sie an. »Ist es möglich?«
Ihr Blick veränderte sich nicht. Er konnte keine Antwort in ihren Augen erkennen. Aber sie erwiderte: »Alles ist möglich, Sebastian. Ich mag viel wissen, aber ich weiß nicht alles. Ich habe den Verdacht, dass göttliche Entscheidungen viele Aspekte mit einbeziehen, die außerhalb unseres Begriffsvermögens stehen. Und wir nur das tun können, wozu wir berufen sind. Egal wie schwer uns das auch fallen mag.«
Sebastian sank in sich zusammen. Eine Antwort, die keine Antwort war. Er stand auf und strich ohne weiteres Nachdenken sein krauses Hemd glatt. »Danke, Wayren.«
In ihrem Lächeln schwang ein Hauch Erheiterung und etwas mehr Mitgefühl mit. »Ich danke dir, Sebastian. Ich weiß, wie schwer es für dich war, zurückzukehren und diese Unterhaltung mit mir zu führen.«
Ein etwas schiefes Grinsen verzog seine Lippen bei ihren Worten. »Ich hatte viele schwierige Unterhaltungen mit Frauen in den letzten Wochen«, meinte er und erinnerte sich an den Moment, als Victoria versucht hatte, ihm etwas zu erklären, das er bereits wusste: dass sie Max auf eine Art und Weise liebte, wie sie ihn nie lieben würde. »Ich komme allmählich zu der Überzeugung, dass ich Frauen meiden sollte, bis sich mein Glück wieder wendet.«
»Es tut mir leid, dass du dich im Moment so quälst«, meinte sie. »Aber manchmal muss man erst diese Qualen durchleiden, ehe man erkennt, welcher Weg der richtige für einen ist.«
Sebastian hätte gern eine geistreiche Bemerkung über symbolische Pflöcke gemacht, die einem ins Herz getrieben wurden. Aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Er schloss den Mund, und erleichtert, den Raum jetzt endlich verlassen zu können, verbeugte er sich.
»Wir haben dich nirgendwo finden können«, beschwerte Lady Melly sich mit schriller Stimme.
Victoria setzte sich ein bisschen anders hin, sodass ihr Ohr der hohen Stimme ihrer Mutter nicht mehr ganz so direkt ausgesetzt war. Da sie allerdings neben ihr saß, war dies nicht ganz so leicht zu bewerkstelligen, aber sie tat ihr Bestes. »Ich war aber eine Zeitlang da, Mama«, erklärte sie, um dann ihre Gastgeberin anzuschauen. »Die Herzogin hat mich gesehen.«
Victoria hatte nach ihrem Bad und der sich daran anschließenden Unterredung mit Sebastian und Max in ihrem Zimmer ein kurzes Nickerchen machen können, aber sie war immer noch müde, und alles tat ihr weh. Der einzige Grund, weshalb sie sich darauf eingelassen hatte, das Haus zu verlassen und sich mit den drei Damen zu einem frühen Tee zu treffen, war der, dass sie sonst gezwungen gewesen wäre, diese in ihrem Haus zu empfangen.
Doch so hatte sie zumindest die Möglichkeit, die Flucht zu ergreifen, wenn es zu anstrengend wurde.
»Ein ganz reizendes Kleid, meine Liebe«, meinte Herzogin Winnie, während sie sich nach vorn beugte, um ein Küchlein mit eingemachten Erdbeeren und Sahnehäubchen zu nehmen. Obwohl sie erst am Abend zuvor das Haus voller Gäste gehabt hatte, die zu einem Ball im kleinen Kreis geladen gewesen waren, liebte sie es, mit ihren Busenfreundinnen am nächsten Tag allen Klatsch und Tratsch, den sie gehört hatten, noch einmal durchzugehen. Und davon abgesehen war es eine bekannte Tatsache, dass ihr Koch die besten und einzigartigsten Kuchen und Naschereien in ganz London zubereitete. »Ein bisschen skandalös war es natürlich schon, aber du bist ja schließlich keine jungfräuliche Debütantin mehr, nicht wahr?«
Lady Melly bedachte sie mit einem finsteren Blick, der sie zum Schweigen brachte, und wandte sich wieder an Victoria. »Aber wo bist du denn dann hin? Ich habe mich gar nicht mit dir unterhalten können. Dabei wollte ich doch, dass Jellington dich dem Erben von Davington vorstellt, der gerade erst vom Kontinent zurückgekehrt ist.«
»Mama«, setzte Victoria an, aber es war vergeblich.
»Sag mir jetzt nicht, dass du immer noch der Meinung bist, in irgendeiner Form mit diesem Monsieur Vioget verbunden zu sein«, erklärte Melly, während ihr Löffel laut klapperte, als sie ihren Tee umrührte. »Er war gestern Abend ja noch nicht einmal da, und ich könnte mich überhaupt nicht damit abfinden, wenn dein zweiter Ehemann Franzose sein sollte. Und noch nicht einmal dem ton angehört. Ich würde es einfach nicht erlauben.«
»Aber, Melly, du musst doch zugeben, dass er ein sehr gut aussehender Gentleman ist«, meinte Lady Nilly, die gerade erst wieder in den Salon zurückkam.
Aufgrund ihrer gestrigen Unterhaltung mit George Starcasset verspürte Victoria unwillkürlich den Drang, die schlaffe Haut an Nillys Hals nach Vampirbissen abzusuchen. Doch leider hatte Lady Nilly ein enges, breites Halsband angelegt, von dem Victoria aus eigener Erfahrung wusste, wie gut man damit Bissspuren verdecken konnte. »Was für ein hübscher Anhänger«, sagte Victoria.
Mit ihrem Aufstehen vom Sofa verfolgte sie zwei Absichten: Zum einen entkam sie so der schrillen Stimme ihrer Mutter, und zum anderen gab ihr das die Möglichkeit, den Anhänger näher in Augenschein zu nehmen... und dabei auch gleich einen Blick auf den Hals seiner Trägerin zu werfen.
»Ach, gefällt er dir?«, fragte Nilly und rückte näher an Victoria heran, damit diese ihn sich besser anschauen konnte.
Victoria nahm den (ziemlich hässlichen) Anhänger in die Hand, der... nun, sie war sich nicht ganz sicher, was er darstellen sollte, zumindest war es nicht sofort erkennbar... Nillys Halsbeuge bedeckte, wobei sie so tat, als würde sie ihn sich genauer ansehen. Dabei verschob sich auch das Spitzenband, das den Anhänger hielt, und Victoria sah, dass sich keine Bissmale auf dem Hals der Freundin ihrer Mutter befanden. Sie ließ den Anhänger wieder los.
Und dann blieb Victoria nichts anderes übrig, als sich wieder aufs Sofa zu setzen.
»Und die andere Sache, die du bestimmt interessant findest«, fuhr Lady Melly fort, als wäre sie in ihrem Vortrag nicht unterbrochen worden, »... man hat bekannt gegeben, wer der neue Erbe des Rockley-Vermögens ist.«
»Ach ja?« Gegen ihren Willen war Victoria tatsächlich leicht interessiert. »Nachdem man so lange und intensiv nach James Lacy gesucht hat, hätte ich gedacht, dass es viel länger dauern würde, bis man den Nächsten in der Erbreihe ausfindig macht.«
»Aber nein, Victoria, denn es war ja nicht so, dass man nicht wusste, wer der Erbe ist... man wusste nur nicht, wo er ist«, erklärte ihr Melly verschmitzt. »Das weißt du doch bestimmt.«
Victoria brachte es nicht über das Herz, ihrer Mutter - die die Ahnenreihe jeder Adelsfamilie Englands auswendig kannte — zu erklären, dass ihr Interesse an Phillip nicht so weit gegangen war, jede Linie seiner nicht sonderlich verzweigten Familie auswendig zu lernen. Sie war viel weniger an seinem Reichtum als an seinem großzügigen, fürsorglichen Charakter interessiert gewesen.
Verdammt. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln. Würde sie je an Phillip denken können, ohne dass dies passierte?
»Er hat die letzten zehn Jahre in Spanien gelebt«, erzählte Melly ihr. »Aber nachdem der derzeitige Marquis verschwunden ist und man seit Wochen nichts mehr von ihm gehört hat, muss man natürlich vom Schlimmsten ausgehen.« Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Was für ein Pech diese de Lacys zu haben scheinen. Verzeih mir, Liebes«, fügte sie schnell hinzu, als sie merkte, dass sie damit den Kummer ihrer Tochter unter Umständen noch vergrößerte.
»Er ist nicht der Einzige, der plötzlich verschwunden ist«, meinte Lady Nilly und hob geziert ein Küchlein an ihren Mund. »Ist nicht auch deine Freundin Miss Starcasset - die kurz davor stand, den Earl von Brodebaugh zu heiraten — verschwunden? Nachdem man ihn tot in seinem Salon aufgefunden hatte?« Sie schüttelte sich vor Schaudern, biss aber gleichzeitig genüsslich in das Kuchenstück. Die Erdbeersahnestückchen des Kochs ließ man sich keinesfalls entgehen, egal aus welchem Grund. Da es Erdbeeren immer nur kurze Zeit gab, musste man jede Gelegenheit nutzen.
»Ja, stimmt«, erwiderte Victoria, während sie sich fragte, ob Nilly durch den Umgang mit Gwendolyns Bruder George an die Informationen gelangt war. »Ich verbreite zwar äußerst ungern Klatsch« — sie warf den drei Frauen einen bedeutungsvollen Blick zu —, »aber ich weiß aus sicherer Quelle, dass Gwen mit einem höchst unpassenden Mann durchgebrannt ist.«
Es war zwar nur ein Gerücht, aber immer noch eine bessere Geschichte als die Wahrheit. Und sogar Victoria war trotz ihrer rechtschaffenen Jagd auf die Untoten nicht vollkommen. Es versetzte ihr immer noch einen Stich, dass ihre beste Freundin, nachdem sie zum Vampir geworden war, nur deshalb Victorias Tod geplant hatte, weil sie — und nicht Gwen - Phillip de Lacys Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, als die beiden Mädchen in die Gesellschaft eingeführt worden waren. Insofern fand Victoria das Gerede über Gwens Verschwinden nur gerecht.
»Wirklich?« Herzogin Winnies Augen wurden ganz groß. »Wie unpassend.«
»Darüber können wir später reden«, unterbrach Lady Melly das Gespräch, obwohl auch in ihren Augen das Interesse an diesem Skandal glitzerte. »Ich war gerade dabei, Victoria von dem neuen Rockley-Erben zu erzählen, den sie bestimmt sehr interessant finden wird. Natürlich weiß keiner genau, was dem vorherigen Rockley, unserem lieben James, zugestoßen ist, aber da er nun einmal spurlos verschwunden ist, haben die Anwälte nach dem Nächsten in der Erbfolge gesucht, falls er nicht zurückkehren sollte. Es heißt, Mr. Hubert de Lacy würde nächste Woche in London eintreffen, und ich halte es für sehr angebracht, wenn die Marquise von Rockley zu seinem Willkommensball erscheint.« Sie sah ihre Tochter an. »Er ist seit fünf Jahren Witwer. Er hatte eine Spanierin geheiratet und war nach dem Krieg auf dem Landsitz ihrer Eltern geblieben. Zwar ist er ein bisschen älter als dein lieber Rockley, Victoria, aber wie meine Mutter immer sagte: >Der Inhalt der Brieftasche ist wichtiger als der Zustand der Zähne<... oder so ähnlich.«
»Ein Willkommensball? Der Mann ist noch nicht einmal da, und du planst schon einen Ball für ihn?« Victoria musste unwillkürlich die Augen verdrehen, aber sie achtete darauf, dass ihre Mutter das undamenhafte Verhalten nicht sah.
»Ich bin nicht die Gastgeberin des Balls, meine Liebe«, erklärte Lady Melly überrascht. »Wenn irgendjemand aus der Familie dafür zuständig wäre, dann du. Aber da du dich ja nach Kräften deinen gesellschaftlichen Verpflichtungen entziehst, kann ich wohl nichts dazu sagen. Die Feier wird von Viscount Rutledge ausgerichtet, da er und Mr. de Lacy sich noch aus Oxford kennen... oder wo auch immer sie sich in ihrer Jugend kennen gelernt haben mögen.« Sie zog die Augenbrauen zusammen, während sie ihre Tochter ansah. »Ich hoffe, du erscheinst zu dem Ball, damit du den Mann kennen lernst, der aller Wahrscheinlichkeit nach der neue Earl von Rockley sein wird.«
»Mama, ich werde nicht wieder heiraten, also hör auf damit, mir jeden Junggesellen vorzustellen, der mal bei Hofe vorstellig geworden ist. Und davon abgesehen hat Rutledge einen Sohn, der nur zehn Jahre jünger ist als ich. Wenn er de Lacy also von der Universität her kennt, müssen die beiden im gleichen Alter sein. Wenn ich tatsächlich vorhaben sollte wieder zu heiraten, dann ganz bestimmt keinen Mann, der fünfzehn Jahre älter ist als ich!«
Sie stand auf. »Ich muss jetzt gehen — aber, Mama, wenn du so gern eine Hochzeit planen möchtest, warum erlöst du dann nicht Lord Jellington von seinem Elend und heiratest ihn?«
»Ja, genau, Melly«, mischte sich nun auch Lady Nilly ein. Victoria wusste nicht recht, ob sie der Busenfreundin ihrer Mutter leidtat oder ob sie eine so große Romantikerin war, dass sie es gern gesehen hätte, wenn Lady Melly noch einmal heiratete. Aber was auch immer hier der Fall sein mochte, sie freute sich über die Ablenkung und bewegte sich langsam auf die Tür zu.
»Auf gar keinen Fall«, erklärte Melly. »Ich...«
»Aber warum nicht, Melly?«, hakte die Herzogin nach und verteilte dabei großzügig Krümel auf dem ganzen Tisch. »Das wäre so ein Spaß, und Jellington ist ganz vernarrt in dich. Das ist er schon seit Jahren.«
»Ich habe kein Interesse daran, wieder zu heiraten«, erwiderte Melly und befand sich zur Abwechslung mal selbst in der Defensive.
»Aber denk doch nur an das Kleid, das du tragen könntest«, seufzte Nilly und presste eine Hand auf ihren nicht vorhandenen Busen.
»Und das Essen«, fügte die Herzogin hinzu. »Ich würde dir sogar meinen Koch für das Hochzeitsbankett ausleihen.«
Victoria tastete nach dem Türknauf und drehte ihn leise.
Melly schaute nicht mehr in ihre Richtung, sondern wurde jetzt völlig von dem Bombardement ihrer Freundinnen in Anspruch genommen.
Victoria nutzte die seltene Gelegenheit, einmal nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit ihrer Mutter zu stehen, und huschte aus dem Raum, während ihr immer noch die schrill vorgebrachten Widerworte in den Ohren dröhnten.
Angesichts der Lautstärke und Tonhöhe war sie froh, sich deutlich außerhalb der direkten Reichweite zu befinden.
Sobald sie zur Haustür hinaus und in ihre Kutsche gestiegen war, musste Victoria eine Entscheidung fällen.
Einerseits wäre sie am liebsten direkt nach Hause gefahren, um sich in ihr bequemes Bett zu legen und noch ein bisschen zu schlafen. Obwohl ihre Wunden durch ihre beiden vis bullae schnell heilten und sie durch die Amulette auch in anderer Hinsicht geschützt war, waren da immer noch Verletzungen, aufgrund derer sie sich wund und schwach fühlte.
Wenn sie nach Hause zurückkehrte, bedeutete das andererseits jedoch, dass sie unter Umständen Max begegnete, und nach dem Gespräch, das sie heute Morgen über Lilith geführt hatten, war sie sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt sehen wollte. Wie zu erwarten gewesen war, hatte Max ihren Plan -der ihrer Meinung nach sehr vernünftig war - nicht akzeptieren können, die Vampirkönigin allein zur Strecke zu bringen.
Es war nicht notwendig, sich die darauffolgende Szene noch einmal in Erinnerung zu rufen ... den tödlichen Ernst in seiner erhobenen Stimme, als er ihr erklärte, wie dumm sie wäre.
Er hatte ihr nicht zuhören wollen, egal wie ruhig sie ihm erklärte, dass sie dafür verantwortlich war, die Welt von Vampiren zu befreien, und dass die Vernichtung ihrer Anführerin einen großen Sieg bedeutete, der wahrscheinlich zur endgültigen Ausrottung der Untoten führte.
Im Rückblick schien es ihr besser, sie hätte ihm gar nichts erzählt, bis die Sache erledigt war.
Victoria stieß einen Seufzer aus. Vielleicht hatte sie mit der Ankündigung ihrer Pläne nur erreicht, dass er London noch schneller verließ.
Als sie ihre Röcke auf der Sitzbank zurechtstrich, streiften ihre Finger ein Metallstück. Neugierig nahm sie es hoch. Es handelte sich um eine kleine Münze, die sie sofort erkannte. Blitzartig erinnerte sie sich an den vergangenen Abend, als George Starcasset genau hier gesessen und mit etwas Klingelndem in seiner Tasche gespielt hatte.
Sehr interessant. Vielleicht...
Sie merkte, dass die Kutsche am Ende der Straße gehalten hatte und nun darauf wartete, in welche Richtung sie wollte. Während sie ihre Entscheidung traf, öffnete sie das Fenster und rief nach oben: »Zum Claythorne-Haus in St. James.«
Ein paar Minuten später kam sie bei George Starcassets Haus an, und Victoria schickte Oliver mit ihrer Karte an die Tür. Glücklicherweise trug ihre Kutsche - die sie zusammen mit dem Londoner Stadthaus von ihrer Tante Eustacia geerbt hatte - kein Wappen und konnte so auch nicht zufällig von irgendwelchen Passanten oder Nachbarn erkannt werden.
Kurze Zeit später kehrte Oliver mit der Nachricht zurück, dass George in seinem Club Gellinghall's sei. Mit dieser Information hatte Victoria bereits gerechnet; doch es war der praktischste Weg herauszufinden, in welchem Club George Mitglied war. Gleich darauf ließ sie sich mit der Kutsche dorthin fahren.
Beim Club angekommen schickte Oliver sie wieder los, um George herauszurufen. Nicht mehr als zehn Minuten später wurde sie mit Georges Kommen belohnt (wenn man das denn so bezeichnen mochte), der an den Kutschschlag trat.
»Ich hoffe doch, Sie haben keinem gesagt, mit wem Sie sich hier draußen treffen«, wollte Victoria wissen. Allerdings machte sie sich keine großen Gedanken darüber, ob Georges Bekannte wussten, dass er von der Marquise von Rockley nach draußen gerufen worden war. Sie bemühte sich nur noch darum, dass ihr Ruf keinen Schaden nahm, weil sie die Anzahl der mütterlichen Vorträge niedrig halten wollte.
Sie lächelte in sich hinein, während George ihr gegenüber Platz nahm. Die Komik an der ganzen Geschichte entging ihr nicht: Mitten in der Nacht übermenschlich starken Dämonen und Vampiren gegenüberzutreten war für sie kein Problem, aber sie tat alles, um zu vermeiden, ihrer Mutter in einem sonnendurchfluteten Salon zu begegnen.
»Ich hoffe, es geht um etwas Wichtiges; es ist das erste Mal seit zwei Wochen, dass ich wieder eine Glückssträhne habe«, erwiderte George statt einer Antwort auf ihre Frage, während er sich ihr gegenüber hinsetzte. »Wollen Sie etwa jetzt schon Ihren Gefallen einfordern?«
Victoria schüttelte den Kopf. »Nein, ich brauche Informationen. Was weiß die Tutela über den Anstieg dämonischer Aktivität hier und in Paris?«
»Habe schon lange keinen Kontakt mehr zu jemandem aus der Tutela gehabt...«
»Ersparen Sie mir Ihre Lügen, George. Sie haben gestern Abend, als wir zu Ihnen nach Hause fuhren, in Ihrer Tasche mit Münzen gespielt und haben eine davon, mit der man sich als Mitglied der Tutela ausweist, in der Kutsche verloren. Ich bezweifle doch ernsthaft, dass sie in Ihrem Besitz gewesen wäre, wenn Sie nicht erst kürzlich Kontakt gehabt hätten.« Die Tutela benutzte münzähnliche Scheiben aus Metall, mit denen sich die Mitglieder auswiesen, um Zutritt zu den geheimen Treffen zu erlangen, wie Victoria sehr wohl wusste. In Venedig hätte sie bei einem Treffen der Tutela fast dran glauben müssen, nachdem sie sich mit einer derartigen Münze Zutritt verschafft hatte.
Sie kam weiteren Ausreden zuvor, indem sie ihm die Münze reichte.
George, so ertappt, schürzte die Lippen. Durch den Gesichtsausdruck wirkte er mehr denn je wie ein verwöhnter kleiner Junge mit Pausbäckchen und rundem, glattem Kinn. »Um die Wahrheit zu sagen, Victoria«, meinte er und warf ihr einen Seitenblick zu; offensichtlich wollte er sehen, ob sie etwas dagegen hatte, dass er ihren Vornamen benutzte, »ist den Untoten sehr wohl bewusst, dass da in den letzten Monaten etwas im Untergrund brodelt.«
Zusammen mit seiner Zurückhaltung hatte George auch die affektierte Sprache des ton abgelegt. Das war Anlass genug für Victoria, sich gerader hinzusetzen und ihn mit scharfem Blick zu mustern.
»Was meinen Sie damit?«
»Wenn Sie die verdammte Wahrheit wissen wollen... sie haben Angst. Sie halten sich bedeckt und verstecken sich. Das ist auch der Grund, warum Lilith London so schnell verlassen und die Übrigen mitgenommen hat.«
Victoria sah ihn nachdenklich an. Sie hatte angenommen, dass Lilith mit ihren Lakaien verschwunden war, um ihre Wunden zu lecken, nachdem sie von den Venatoren geschlagen worden war. Konnte es sein, dass das nicht alles war?
»Was wissen Sie sonst noch? Ich will alle Informationen, die Sie haben, George.«
Er rutschte nervös auf den Polstern herum und lockerte sein Halstuch, welches so kompliziert geknotet war, dass selbst Sebastian ihn darum beneidet hätte. »Ich weiß wirklich nicht viel. Nur dass irgendetwas passieren könnte und die Vampire nicht sonderlich glücklich darüber sind.«
Dämonen und Vampire — beides Geschöpfe der Hölle und Lakaien Luzifers - waren Todfeinde. Die Dämonen, Engel, die vor Äonen bei Gott in Ungnade gefallen waren, beanspruchten aufgrund ihres seit langer Zeit bestehenden Bundes mit Luzifer, dem mächtigsten aller Dämonen, die Hölle für sich.
Doch Luzifer hatte Judas Ischariot auf seine Seite gezogen, nachdem dieser Jesus verraten hatte; er behauptete, dass ihm seine Tat nie vergeben werden würde. Luzifer hatte Judas dazu gebracht, sich selbst zu hängen, indem er ihm versprach, ihn zum Begründer einer mächtigen neuen Rasse zu machen. So wurde Judas der erste der Vampire — ein unsterbliches Geschöpf, das halb Mensch, halb Dämon war und Menschen brauchte, um fortzubestehen.
Deshalb war der Kampf, den Dämonen und Vampire seit Jahrtausenden um die Gunst Luzifers ausfochten, heftig und grausam.
»Was wissen Sie sonst noch? Sie haben mir nichts Lohnendes erzählt, und dabei habe ich Sie bei Ihrem Kartenspiel gestört«, sagte Victoria. »Was wird passieren? Wie werden die Vampire dagegen vorgehen? Und wann?«
George zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht.«
Victoria verzog die Lippen zu einem falschen Lächeln, beugte sich vor und packte sein Handgelenk. »Mehr haben Sie nicht für mich? Nachdem ich Ihnen den Gefallen mit Ihrem Hausgast getan habe?« Ihr Griff wurde immer fester, und sie merkte, wie sich seine Knochen unter ihren Fingern verschoben.
»Halt«, keuchte er, ehe sie eigentlich richtig angefangen hatte. »Ich weiß nichts, aber ich kenne jemanden, der Ihnen vielleicht noch mehr erzählen kann.«
»Bringen Sie mich hin.«
George warf ihr einen schnellen Blick zu, dann sackte er mit eindeutig schmollender Miene in sich zusammen. Er klopfte gegen das Dach und rief dem Kutscher dann den Weg zu, den er nehmen sollte.
Nachdem das erledigt war, setzte er sich in seine Ecke zurück und musterte Victoria mit einem berechnenden Blick. Der schmollende Ausdruck war Interesse gewichen, und er öffnete schon den Mund, um etwas zu sagen, als sie schnell abwehrend die Hand hob.
»Lassen Sie es bleiben, George. Ich werfe Sie aus der Kutsche, wenn Sie auch nur daran denken, eine unzüchtige Bemerkung zu machen... oder einen schamlosen Vorschlag.«
Das Schmollen kehrte auf sein Gesicht zurück, und sie musste sich auf die Unterlippe beißen, damit sie nicht anfing zu grinsen. Er sah aus, als hätte man ihm gerade sein Lieblingsspielzeug weggenommen.
Die Adresse, die er angegeben hatte, führte sie in eine Gegend, die Victoria noch recht gut aus ihrer Anfangszeit als Venator kannte. Es handelte sich um das dreckige, heruntergekommene und gefährliche Viertel St. Giles, wo Sebastian den Silberkelch besessen hatte, ein von ihm selbst geführtes Etablissement, das sowohl von Sterblichen als auch von Untoten frequentiert worden war. Seit der Zeit kurz nach Phillips Tod war sie nicht mehr in St. Giles gewesen. Damals hatte sie sich noch einmal die Überreste des Silberkelchs angeschaut, der zerstört worden war, als die Vampire Sebastian und Max verfolgt hatten.
Am Tage sahen die Straßen genauso aus wie bei Nacht: voller Menschen, dunkel, eng und angefüllt mit Abfall und Unrat. Bettler, Diebe und Huren bevölkerten die Straßen, die nicht für ihre ehrlichen Geschäftsleute oder tüchtigen Handwerker bekannt waren.
George warf Victoria einen durchdringenden Blick zu, als wollte er herausfinden, wie sie auf diese gefährliche Gegend reagierte, aber sie hatte keinen Grund zur Angst. Durch ihre Kraft und Gewandtheit war sie gegen Sterbliche genauso gut gewappnet wie gegen Untote.
Als sie aus der Kutsche stiegen, wich er ihr kaum von der Seite, und Victoria musste ihn energisch anstoßen, damit er sich überhaupt vorwärtsbewegte. Widerwillig führte er sie durch eine Gasse, die so schmal war, dass kaum ein Sonnenstrahl bis zum Boden reichte. Endlich hatte Victoria genug von seinem zögerlichen Verhalten, und obwohl ihr Saum, der eigentlich nur bis zu ihren Schuhspitzen reichte, durch den Dreck schleifte, packte sie seinen Arm und stieß ihn vorwärts.
»Hier«, sagte er schließlich, als sie bei einer schäbigen Tür am Ende der Sackgasse ankamen. Die niedrige Tür, die mit Schmutz und Schimmel überzogen war, sah noch weniger einladend aus als damals der Eingang zum Silberkelch.
Allerdings war Sebastians Etablissement, im Gegensatz zu dieser Spelunke hier, von ihm sauber und ordentlich geführt worden.
Sie verspürte weder ein Kältegefühl im Nacken, noch nahm ihre Nase neben dem herrschenden bestialischen Gestank dämonische Ausdünstungen wahr. Sie spürte nichts, vor dem sie hätte Angst haben müssen, keine Falle, nichts Außergewöhnliches.
Victoria machte sich nicht die Mühe anzuklopfen. Sie trat gegen die Tür, welche sofort zu Bruch ging. Das hätte sogar George geschafft. Doch dann warf sie einen Blick in sein rundliches Gesicht und auf die pummeligen Finger, die in Handschuhen steckten. Unter Umständen doch nur vielleicht.
Wieder zauderte er, doch sie packte seinen Arm und zog ihn hinter sich her, als sie in geduckter Haltung durch den niedrigen Eingang schlüpfte. Drinnen sah es genauso erbärmlich aus, wie man nach dem äußeren Anschein schon hatte vermuten können. Zerbrochene Kisten und wenige Möbelstücke, die kaum diesen Namen verdienten. Der Raum war dunkel, unangenehm feucht... und leer.
Ehe Victoria sich an George wenden konnte, um eine Erklärung von ihm zu verlangen, entwand er sich ihrem Griff und ging in die Mitte des Raumes. Während er sich um sich selbst drehte und alles voller Bestürzung musterte, sagte er: »Sie sind weg!«