Kapitel 25

Die Versuchung des Sebastian Vioget

 

Das Blut.

Er atmete den metallischen Geruch ein und spürte das unwiderstehliche Verlangen danach. Ein roter Schleier hatte sich über den Raum gelegt, der seine Sicht und seine Sinne trübte.

Victorias Blut.

Er schluckte, und die Fangzähne, an die er sich noch nicht gewöhnt hatte, pieksten in seine Lippe.

Oh Gott.

Durfte er das überhaupt noch sagen, wo seine Seele doch verdammt war? Oh Gott?

Würde Er ihn überhaupt hören? Würde Er sich etwas aus ihm machen?

Nein. Sebastian holte tief Luft, und das fühlte sich nicht anders an als damals, als er noch gelebt hatte. Er war nicht verdammt. Noch nicht.

Alles versetzte ihn in Verzückung, der Geruch, das Geräusch, das leise Pfeifen, während Lilith saugte. Jedes Mal, wenn sie schluckte, dröhnte es in seinen Ohren, und der Klang hallte durch seinen ganzen Körper.

Fast meinte er den zähen Fluss des Metalls zu schmecken, zu spüren, wie es seine Kehle hinunterrann. Sein Herz pochte im gleichen Takt wie das seiner Schöpferin, Lilith... die versuchte, die Herrschaft über Victorias Herzschlag zu erlangen. Seine Hände schlossen sich um ihre schlanken Knöchel und hielten sie fest, während sie sich wand, aufbäumte und drehte.

Die leisen Geräusche, die sie unter Liliths Händen und Mund von sich gab, das leise Stöhnen und das schnelle Atmen, erinnerten ihn an andere Dinge, an Gelegenheiten, bei denen sie sich auch gewunden und aufgebäumt hatte... und sein Verlangen steigerte sich noch mehr.

Der Schleier, der ihn umhüllte, wurde dichter. Dunkler. Brannte.

Lilith löste sich von Victorias Hals, sodass Sebastian das satt glitzernde Blut auf ihrer feuchten Haut sehen konnte. Das schmutzige Hemd, das er selbst aufgerissen hatte, entblößte die Hälfte einer weißen Brust. Schwarzes Haar klebte an ihren Wangen und ihrem Hals, üppige Locken lagen ausgebreitet auf dem Kissen, und ihre herrlichen Lippen waren leicht geöffnet, während sie stöhnte und keuchte.

Er schluckte wieder und spürte, wie seine Finger zitterten.

Lilith sagte etwas, das er kaum verstand, aber er wusste, dass er jetzt an der Reihe war. Sie wollte, dass er Victorias Blut trank.

Er wollte... Oh, wie sehr er es wollte.

Aber er konnte es nicht.

Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, seine Hände zitterten. Er spürte, wie seine Augen anfingen, noch heller und heißer zu glühen. Sein Herz dröhnte, und das Pochen strahlte bis in seine Fingerspitzen, bis in die Knie aus.

Er musste es tun. Er musste einfach.

Dann machte Victoria plötzlich eine schnelle Bewegung, ihr Arm schien aus dem Nichts nach oben zu schnellen. Lilith erstarrte, ihre Augen waren weit aufgerissen, als sie ihn über die Schulter anschaute. Sie zuckte wie unter einer großen Kraft zusammen. Und dann passierte das Unglaubliche: Mit einem leisen Knall zerbarst sie zu Asche.

Sie war fort.

Unglaublich, aber wahr... sie war nicht mehr.

Ihre Herrschaft über ihn, die Kraft, mit der sie ihn an sich gebunden hatte, ließ nach und schwand dann ganz. Es war wieder er selbst, der Atem holte. Er roch die Asche, die Rosen und... das Blut.

Immer noch das Blut.

Das Verlangen hatte nicht nachgelassen. Nein, es tobte immer noch genauso wild in ihm wie zuvor.

»Sebastian.« Victorias Stimme vermochte den Schleier, der ihn umgab, nur leicht zu durchdringen. Sie drehte und wand sich, und er sah, dass sie versuchte, ihre mit der Handschelle gefesselte Hand zu befreien, während sie ihn keinen Moment aus den Augen ließ. Sie hatte einen Pflock in der Hand.

Einen Pflock, der ihn, wie ihm jetzt klar wurde, töten konnte.

Er konnte sich nicht daran erinnern, sich bewegt zu haben, doch dann war er über ihr, seine Hände drückten ihre Schultern in die Kissen, die mit ihrem Blut getränkt waren, während er ihr den Pflock aus der Hand schlug. Mit seinem Gewicht drückte er sie wie schon zuvor auf das weiche Polster, und er roch sie... Ihr Blut, ihr Geruch, ihre Haut hüllten ihn ein.

Sie kämpfte mit einer Hand gegen ihn. Er hörte, wie sie seinen Namen rief, drängend, flehend. Victoria mit flehender Stimme.

Aber es war ihm egal. Er konnte sich nicht mehr zurückhalten. Der rote Schleier hatte vollständig von ihm Besitz ergriffen, als er ihren Mund bedeckte, sie kostete, das Blut roch, das schon bald sein Verlangen stillen würde. Er presste seinen Mund auf ihre Lippen, seine Hände glitten über ihre Haut, und auch wenn sie sich wand und wehrte, ihr Pflock gerade außer Reichweite war, hielt er sie mit seinem Gewicht und seiner Kraft als Vampir, wobei ihm auch die Handschelle half, an Ort und Stelle.

Sein Verlangen war jetzt nicht mehr zu bremsen, und er musste sie einfach schmecken, küssen, nehmen, kontrollieren...

»Sebastian.« Ihre Stimme klang scharf, wenn auch ein bisschen dünn in seinen Ohren, als sie ihm mit einem Ruck ihren Mund entzog und den Kopf zur Seite drehte.

Da war das Blut, unter ihrem Ohr, direkt vor ihm. Er nahm nichts anderes mehr wahr, sah nur noch diesen lockenden roten Streifen.

Da war ihr Blut... diese quälende Versuchung, der er nicht nachgeben sollte. Da gab es irgendeinen Grund... Er sollte es nicht tun, konnte es nicht... aber der Speichel sammelte sich in seinem Mund, und das Blut tröpfelte aus den Wunden an ihrem Hals, aus der Vene, die jetzt noch mehr anschwoll, unwiderstehlich, während er sie ansah und Victoria sich unter ihm wand.

»Giulia«, keuchte sie. »Sebastian, erinnere dich an Giulia.«

Sie machte eine ruckartige Bewegung, wodurch er ein bisschen zur Seite rückte, und er merkte, wie sich ihre Hand auf den Pflock zu bewegte.

Nein.

Er packte ihr Handgelenk, doch sie wehrte sich so heftig, dass er sie wieder loslassen musste. Er schob sich wieder über sie, seine Lippen strichen über ihre heiße, salzige Haut und das Blut... Er berührte den warmen, glänzenden Trank mit seinem Mund.

Verlangen, Lust, Begierde schossen durch seinen Körper, als er den leicht metallischen Geschmack auf seinen Lippen spürte. Mehr. Mehr.

Er öffnete den Mund, und seine Fangzähne, die ihm immer noch seltsam vorkamen, wurden länger und glitten über ihre Haut.

Und dann spürte er etwas auf seinem Rücken. Etwas Spitzes.

»Sebastian.« Ihre Stimme war leise, keuchend, flehend. »Du darfst das nicht tun.«

Seine Zähne strichen über ihre Haut und nahmen das Salz und ein bisschen dieses köstlichen Blutes mit sich. Der Pflock bohrte sich fester in sein Fleisch - wie war sie an ihn rangekommen? —, aber sie sagte: »Ich werde es tun. Ich will es nicht, aber ich werde es tun.«

Er gierte nach ihrem Blut. Er konnte nichts anderes mehr sehen, denken oder wahrnehmen. Das Blut auf seinen Lippen berührte seine Zunge, und er zuckte vor Lust zusammen, sodass er seine Fangzähne fast in sie gebohrt hätte. Aber nur fast.

»Sebastian, denk an Giulia. Du darfst es nicht tun. Bitte. Tu es nicht. Du bist stärker als dieses Verlangen.« Ihr Busen drückte sich gegen seine Brust, als sie Luft holte, um ihn weiter anzuflehen. »Du trägst die vis bulla.«

Die vis bulla, die jetzt jedes Mal brannte, wenn er sie berührte. Sie reizte die Haut auf seinem Bauch, und er nahm sie als ein ständiges Brennen wahr. Aber trotzdem trug er sie...

Wayren. Ihr Gesicht tauchte plötzlich in seinem umnebelten, rot verschleierten Verstand auf. Der schwere Silberring an seiner linken Hand.

Sein Kopf fühlte sich schwer an, aber... Giulia.

Es war ihm egal. Alles war ihm egal, alles außer dem Blut. Nach dem es ihn verlangte und das ihn anzog.

Es rief nach ihm. Der liebliche Gesang umhüllte und lockte ihn; mit einer Bewegung würde alles vorbei sein. Die Lust würde durch seinen Körper strömen. Das Verlangen befriedigt sein. Das Verlangen, gegen das er so heftig kämpfte.

Victoria bäumte sich plötzlich mit aller Macht unter ihm auf, sodass er das Gleichgewicht verlor. Er rutschte zur Seite, sie schlug ihm das Knie seitlich gegen den Kopf und trat dann mit dem anderen Fuß nach.

Er taumelte zu Boden, und sie setzte sich auf dem Bett auf, während sie verzweifelt versuchte, die Handschelle zu entfernen. Mit einem Klicken fiel sie von ihrem Handgelenk ab, und kaum dass er stand, hatte sie auch schon den Pflock in der Hand.

Schwer atmend schaute er sie an: Dieses Gesicht, das er nie vergessen würde, die Frau, die er liebte, die Augen, die durchdringend, aber gleichzeitig auch flehend blickten.

»Du bist stark, Sebastian. Tu es nicht.«

Sie saß furchtlos und abwartend da. Keine Fessel hielt sie mehr zurück. In der Hand hielt sie den Pflock. Sie war nur einen Atemzug entfernt.

Er schluckte und streckte die Arme nach ihr aus.

Seine Finger schlossen sich um ihren Arm, ihren warmen Arm.

»Ich bringe dich um, ehe ich dir erlaube, von meinem Blut zu trinken. Ich werde nicht zulassen, dass du dich selbst der ewigen Verdammnis anheimgibst. Aber ich will wissen warum.« Sie sah ihn flehend an, und ihr Blick durchbohrte ihn förmlich.

Wieder stieg das Verlangen in ihm auf, und er überlegte, ob er sich auf sie stürzen sollte, um einmal, nur ein einziges Mal von ihr zu kosten, ehe...

Seine Hand legte sich wie aus eigenem Antrieb auf die vis bulla in seinem Bauchnabel. Er berührte sie und zuckte vor Schmerz zusammen, aber außer dem Schmerz spürte er noch etwas anderes. Kraft? Erleichterung?

Das Verlangen ließ ein wenig nach.

»Warum hast du das getan? Lass mich dir helfen.«

Er konnte jetzt wieder atmen. Worte gingen ihm durch den Kopf, durchdrangen den Schleier, der ihn immer noch umhüllte.

Ein vor langer Zeit gegebenes Versprechen. Die neue Welt. Ein Erlöser.

Er erinnerte sich wieder an Rosamundes Worte.

Und in der neuen Welt wird ein Erlöser sein, der mit einem großen Makel behaftet ist. Er wird ein lang gegebenes Versprechen einlösen, und am Ende werden die, für die er lebt, gerettet werden.

Ein lang gegebenes Versprechen... und am Ende werden die, für die er lebt, gerettet werden.

Am Ende. War dies das Ende?

Die Tür sprang auf, und das Nächste, was Sebastian mitbekam, war, dass man ihn von Victoria wegriss und gegen die Wand schleuderte. Wie einen Mehlsack. Und dann war Max Pesaro da und drückte ihn mit einer Hand an seiner Kehle gegen die Wand.