Prolog

In dem unsere Heldin ihre Möglichkeiten abwägt

 

Victoria Gardella Grantworth de Lacy, die Witwe des Marquis von Rockley, hatte ein Problem — und ausnahmsweise hatte es nichts mit Vampiren zu tun.

Nun ja, das war nicht ganz richtig, denn indirekt bestand da schon eine Verbindung. Eigentlich gab es keinen Bereich in ihrem Leben, der nichts mit den Untoten zu tun hatte.

Seit ihre Großtante, Eustacia, Victoria vor zwei Jahren darüber in Kenntnis gesetzt hatte, dass sie einer uralten Familie von Venatoren — Vampirjägern — entstammte, bestand Victorias Leben nur noch aus rotäugigen Untoten und deren schimmernden Fangzähnen, spitzen Holzpflöcken, die sie versteckt am Körper trug, und der schweren Aufgabe, trotz all dieser widrigen Begleitumstände in der Londoner Gesellschaft nicht aufzufallen.

Denn Victoria war alles andere als eine »normale« Frau: Sie trug ein heiliges Amulett, das ihr Kraft verlieh — die vis bulla, ein winziges silbernes Kreuz, das mit einer Nadel am Körper jedes Venators befestigt war und ihn mit außergewöhnlichen Fähigkeiten versah: Schnelligkeit, Kraft und Schnellheilungskräfte.

Doch ihre einzigartigen Fähigkeiten halfen Victoria bei ihrem gegenwärtigen Problem nicht weiter, denn es handelte sich dabei um etwas, womit junge Frauen häufiger zu kämpfen hatten.

Bei ihrem Problem ging es um einen Mann.

Sie betrachtete das tiefrote Kleid, das von ihrer Zofe für den heutigen Ball, zu dem die Herzogin von Farnham geladen hatte, frisch geplättet worden war. Es lag in seiner ganzen Pracht ausgebreitet auf dem hüfthohen Bett. Mit dem tiefen Dekollete, dem schlichten Schnitt und den nur sparsam angebrachten Rüschen war es genau die Art von Kleid, die die Aufmerksamkeit der Herren wie ein Magnet anziehen würde, während diese gleichzeitig versuchten, ihre Blicke und Hände nicht auf Wanderschaft gehen zu lassen.

Es war ein Kleid, das ihre seidige Haut, das üppige dunkle Haar, die vollen roten Lippen und die wunderschönen Augen nur noch mehr hervorheben würde.

Angetan mit diesem Kleid, hoch aufgetürmten Locken, um ihren schlanken, eleganten Hals zu zeigen (der zurzeit keine Vampirbisse aufwies), und den zarten hellen Schultern könnte sie Sebastian Viogets Augen zum Glühen bringen und in ihm das Verlangen wecken, sie zu berühren. Sein Blick würde keinen Zweifel lassen, was er von ihr wollte... und was er auch schon bei mehreren Gelegenheiten bekommen hatte.

Aber so angenehm diese Erinnerungen auch sein mochten, Sebastian war zurzeit leider nicht ihr Problem.

Es wäre sehr viel einfacher gewesen, wenn er es wäre.

In diesem Moment klopfte es stürmisch an der Tür, und dann stob ein Wirbelwind in ihr Zimmer. Das ungebändigte orangefarbene Haar ihrer Zofe passte zu ihrer Persönlichkeit: laut, hitzköpfig und lebhaft. »Mylady, tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, bis ich die hier gefunden habe«, sagte sie und wedelte mit einem Paar hellrosa Handschuhe. »Ich hatte ganz vergessen, dass ich ein paar Flecken hatte rauswaschen müssen. Sie waren

noch zum Trocknen aufgehängt. Grasflecken, von der Feier bei Lord Fenworth, nachdem Sie aus Italien zurückgekehrt waren. Die wollten erst gar nicht rausgehen, und ich fragte mich schon: >Was soll Mylady bloß anziehen.. .?«<

Victoria ließ ihre Zofe plappern. Die Grasflecken stammten tatsächlich von der Feier bei den Fenworths — sie hatte einen Vampir in deren Garten pfählen müssen. Handschuhe störten, wenn man mit einem Pflock hantierte, deshalb hatte sie sie ausgezogen und während des Kampfes fallen gelassen, um dann einen mit dem Absatz in den Rasen zu bohren. Doch offensichtlich war es ihrer Zofe gelungen, die Flecken zu entfernen, denn der hellrosa Stoff war makellos sauber und passte wundervoll zu ihrem granatroten Kleid. Vielleicht würde sogar Max das bemerken.

Aber eigentlich bemerkte er ohnehin immer alles.

Allerdings machten weder schöne Kleider noch komplizierte Frisuren, geistvolle Gespräche und intelligente Fragen großen Eindruck auf diesen Mann, der - wenn auch unfreiwillig - gestanden hatte, dass er sie liebte... aber trotzdem nie, unter gar keinen Umständen, mit ihr zusammen sein wollte.

Weil er Angst um sie hatte.

Da ihre Mutter nicht in der Nähe war, machte Victoria sich nicht die Mühe, ihr Schnauben zu unterdrücken.

Angst um sie. Sie. Illa Gardella. Die körperlich stärkste Frau auf der Welt, die Anführerin der Venatoren. Die Frau, die über so viel Kraft und Schnelligkeit verfügte, dass sie es mit Vampiren aufnehmen konnte.

Er hatte Angst um sie.

Victoria stieß wieder ein Schnauben aus. Viel wahrscheinlicher war, dass er Angst um sich selbst hatte. Oder genauer gesagt, um sein Herz.

Verdammter Feigling.

Er wohnte zurzeit in einem der Dienstbotenzimmer hier im Haus, das früher ihrer Großtante Eustacia gehört hatte und nach deren Tod in Victorias Besitz übergegangen war. Es war jedoch nur eine Frage der Zeit, bis er wieder verschwand.

Erst zwei Wochen waren vergangen, seit sie von Lilith, der Vampirkönigin, gefangen genommen worden waren, es jedoch erneut geschafft hatten, ihrem Zorn zu entfliehen. Eigentlich war Victoria überrascht, dass Max nicht schon längst wieder auf und davon war — vor allem, weil er das letzte Mal, als sie allein gewesen waren, gestanden hatte, dass er sie liebte, und dann den Raum verlassen hatte. Fluchtartig verlassen hatte, um genau zu sein.

Seitdem war er sorgfältig darauf bedacht gewesen, nicht wieder allein mit ihr zu sein.

In dem Moment merkte sie, dass Verbena, die genauso tüchtig wie geschwätzig war, ihr, während sie vor sich hin geträumt hatte, das Kleid ausgezogen hatte und nun dabei war, ihr das schwere rote Seidenkleid über den Kopf zu ziehen. Victoria hob die Arme, um sie in die kurzen, gefältelten Ärmel zu schieben. Weich schwingend fiel der Rock, dessen Saum mit zwei Reihen schmaler Falbeln besetzt war, bis zum Boden. Während Verbena die Knöpfe schloss, sodass Korsett und Unterkleid nicht mehr zu sehen waren, dachte Victoria über die Möglichkeiten nach, die ihr zur Verfügung standen.

Es hatte keinen Sinn zu versuchen, Max eifersüchtig zu machen. Er ermunterte sie ja sogar schon seit Monaten dazu, sich auf Sebastian einzulassen. Zwar hatte sie das auch ein paar Mal getan, doch vor einigen Wochen hatte sie erkennen müssen, dass der Mann, den sie genug liebte, um den Rest ihres Lebens mit ihm zu verbringen, nicht Sebastian Vioget war. Sondern Max Pesaro.

Diese Erkenntnis war ganz langsam in ihr gewachsen und war ihr erst mit voller Wucht ins Bewusstsein gedrungen, nachdem sie eine Nacht in Max' Armen verbracht hatte. In seinen starken, warmen Armen... während sie sich an seinen muskulösen Körper presste.

»Sie zittern ja, Mylady. Ist Ihnen etwa kalt? Das kann doch gar nicht sein. Wir haben August, und mein Haar ist völlig außer Facon geraten, was heißt: Draußen ist es warm. Ich hoffe doch, dass Sie keine Erkältung bekommen. Es gibt nichts Schlimmeres als eine Erkältung im Sommer. Da fühlt man sich dann richtig schlecht.«

Mit Gewalt verdrängte Victoria die Erinnerung an jene außerordentlich turbulente Nacht, die - wie sie erst später erkannte — der Höhepunkt einer seit zwei Jahren ständig wachsenden Anspannung zwischen ihr und Max gewesen war.

Max, den sie bei ihrem ersten Treffen irrtümlicherweise für einen Vampir gehalten hatte.

Max, der nicht geglaubt hatte, dass sie ein erfolgreicher Venator sein könnte, weil sie sich am Anfang ihrer Bekanntschaft mehr Gedanken um Kleider, Bälle und Tanzkarten... und die Herren des ton machte als über alles andere.

Max, der bei ihr gewesen war, als sie ihren Ehemann Phillip pfählte, nachdem dieser von Lilith der Dunklen in einen Vampir verwandelt worden war.

Max, der so verdammt ehrenwert und selbstlos war und etwas nicht annehmen wollte, von dem sie wusste, dass er es begehrte.

Aber am Ende hatte sie ihm das Geständnis doch abgerungen.

Ich wollte mich nicht in dich verlieben, aber ich kann nichts dagegen machen. Ich will nicht von dir weggehen, aber ich werde es verdammt noch mal tun. Victoria, ich mach das nicht noch einmal durch. Ich will nie wieder der Anlass sein, dass du deinen verdammten Hals riskierst. Das darf nicht passieren.

Victoria betrachtete ihre hohe, schlanke Gestalt, die jetzt in ein atemberaubendes Kleid in der Farbe von Blut gehüllt war. Ein Collier aus Diamanten und Granatedelsteinen lag um ihren Hals, und dazu passende Ohrgehänge streiften ihre weißen Schultern.

Dieses ganze Drumherum würde ihr Problem nicht lösen. Bei einem Mann wie Max würde sie diplomatischer sein müssen. Geschickter.

Sie musste an sein Ehrgefühl appellieren, ohne dass er es merkte.

Aber... sie lächelte sich im Spiegel an... so auszusehen wie jetzt würde ganz bestimmt nicht schaden.

Denn schließlich hatte sogar Illa Gardella noch andere Waffen als Holzpflöcke.