Kapitel 1
In dem die Marquise ohne Begleitung unterwegs ist
Victoria achtete darauf, mit dem Rücken zum Flur zu stehen, während sie mit Verbena redete. »Es geht ihm nicht gut, überhaupt nicht gut«, erklärte sie ihrer Zofe. »Das war ein sehr schweres Jahr für ihn. Erst Tante Eustacia zu verlieren und dann seinen Neffen... und jetzt...« Sie ließ ihre Stimme immer leiser werden und strich glättend über das tiefrote Kleid, in das ihr Verbena vor wenigen Augenblicken hineingeholfen hatte.
Sie spürte eher die leichtfüßige Gegenwart hinter sich, als dass sie etwas hörte, und sah Verbena mit bedeutungsvollem Blick an.
»Der arme Kritanu«, gab die Zofe schnell zur Antwort. »Und dann noch auf diese Art und Weise seine Hand zu verlieren ... ich weiß nicht. Mona sagt, er würde nicht viel essen, und letzte Nacht habe ich gehört, wie er herumgegangen ist, Mylady. Einfach nur auf und ab gegangen, die ganze Zeit.«
Kritanu, der alte Mann, der Victoria in der fernöstlichen Kampfkunst unterwiesen hatte und mehr als fünfzig Jahre lang Tante Eustacias Liebhaber und Gefährte gewesen war, hatte mehrere schwere Verluste in den letzten Monaten hinnehmen müssen; jüngst den Verlust seiner Hand. Man hatte sie ihm abgetrennt, als er und Sebastian von ein paar Lakaien Liliths gefangen genommen worden waren. Sara Regalado, die Anführerin der Gruppe, hatte auch Sebastian verstümmelt, indem sie ihm den kleinen Finger der linken Hand hatte abschneiden lassen.
Kritanu und Max waren über Jahre enge Freunde gewesen, genau genommen, seit Kritanus Neffe, Briyani, Max' Ausbilder in fernösdicher Kampfkunst geworden war. Briyani war ein paar Wochen vor Kritanus Verletzung von Vampiren brutal ermordet worden.
Victoria schüttelte den Kopf, während sie die makellos sauberen rosafarbenen Handschuhe überstreifte. »Ich mache mir ziemliche Sorgen um ihn«, setzte sie noch einen oben drauf. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Eigentlich hoffe ich einfach...« Wieder wurde ihre Stimme ganz leise, und sie verstummte mitten im Satz, als wollte sie nicht, dass jemand sie hörte.
»Wieder unterwegs zu einer Feier heute Abend?«, fragte Max, als er in das vordere Vestibül trat. »Ach ja, das geschäftige Leben der Witwe des Marquis von Rockley.« Es war nicht zu erkennen, ob er gerade gekommen oder im Gehen begriffen war; er bestand beharrlich darauf, weiterhin im Dienstbotentrakt im hinteren Teil des Hauses zu wohnen, sodass er nur selten den Haupteingang benutzte.
Für seinen gesellschaftlichen Stand war er wie immer äußerst einfach gekleidet. Sein weißes Hemd war zerknittert, und sein Halstuch saß etwas schief. Die dunkle Hose und der Gehrock, den er anhatte, wiesen einen guten Schnitt auf, waren aber eindeutig in letzter Zeit weder geplättet worden noch auf dem neuesten Stand der Mode. Heute Abend hatte er das volle, dunkle Haar zurückgebunden; Victoria bezeichnete diese Frisur im Stillen mittlerweile als den »Piratenstil«. Der Zopf saß tief im Nacken, und die Haare ragten wie steife Borsten aus einem Pinsel. Aufgrund seiner dunklen Haut, der schwarzen Brauen und der kantigen Gesichtszüge hätte ihn wohl niemand als gutaussehend bezeichnet; er war vielmehr außerordentlich beeindruckend. Imposant. Seine dunklen Augen sahen sie nicht direkt an, als hätte er Angst, seinen Blick dann nicht mehr von ihr abwenden zu können.
»Ja, stimmt. Herzogin Winnie - du kennst sie ja«, ergänzte Victoria mit einem leisen Lachen.
Max hatte die Herzogin von Farnham, eine Busenfreundin von Victorias Mutter, kennen gelernt, als diese sich bei einer Reise nach Rom darin versucht hatte, einen Vampir zu pfählen. Bei dem Vampir hatte es sich um den Conte Regalado gehandelt, der gerade eifrig Victorias Mutter umworben hatte. Victoria musste lächeln bei der Erinnerung daran, wie die Herzogin einen Holzpflock geschwungen hatte, der so dick wie ihr Handgelenk gewesen war.
Damals war ihr allerdings ganz und gar nicht nach Lächeln zumute gewesen.
»Die Herzogin hat zu einem Tanzabend geladen, und da will ich natürlich nicht fehlen. Vor allem, nachdem der neue Marquis von Rockley so plötzlich verschwunden ist. Ganz London schwirrt vor Gerüchten über diesen Vorfall«, meinte sie.
Nach seiner Ankunft aus Amerika war der Erbe von Victorias verschiedenem Gatten das Opfer von Vampiren geworden. Seine Stelle im ton und seinen Titel hatte ein untoter Hochstapler übernommen, der später Bekanntschaft mit dem spitzen Ende von Victorias Pflock gemacht hatte. Weil die Leiche nicht gefunden werden konnte, lautete die offizielle Version, der neue Rockley wäre unter mysteriösen Umständen verschwunden — eine Tatsache, die den Adel sowohl faszinierte als auch beunruhigte.
»Lässt Vioget dich warten? Er testet wahrscheinlich einen neuen Knoten für sein Halstuch.« Max klang äußerst gelangweilt.
Umständlich rückte Victoria den Schal aus Spitze zurecht, der rein gar nichts gegen einen kühlen Luftzug ausrichten würde — aber es war ein heißer, schwüler Abend Anfang August, und sie musste sich keine Sorgen machen, dass ihr kalt werden könnte. »Oh nein, Sebastian ist heute Abend nicht mein Begleiter.«
»Tatsächlich?«
Obwohl sie halb abgewandt von ihm stand, spürte Victoria, wie Max' Blick über sie glitt. Aus dem Augenwinkel sah sie seinen Gesichtsausdruck. Er war eindeutig ungehalten.
Sie war sich nicht sicher, ob es an ihrem Kleid lag oder daran, dass Sebastian sie nicht begleitete. Aber das spielte sowieso keine Rolle. Denn ein ungehaltener Max war genau das, was sie wollte.
»Tatsächlich.« Sie setzte sich in Richtung Tür in Bewegung. »Einen schönen Abend noch, Max.«
»Du hast doch bestimmt nicht vor, das Haus ohne Begleitung zu verlassen.«
Sie blieb stehen und warf ihm über die Schulter hinweg einen Blick zu. »Stellst du dich etwa freiwillig dafür zur Verfügung? Du müsstest dich allerdings umziehen...« Sie zog eine Braue hoch und sah ihn zweifelnd an. »Und du müsstest vielleicht sogar tanzen.«
»Wo ist Vioget? Was denkt der Idiot sich eigentlich dabei, dich allein ausgehen zu lassen?«
»Ah ja, der Mann sollte seine Interessen schützen, nicht wahr?«, erwiderte Victoria gelassen. Das war Max' Plan gewesen: Sie sollte mit Vioget zusammen sein - in jeder Hinsicht —, denn auch er war von Anfang an zum Venator bestimmt gewesen. Daher würde Sebastian Verständnis für ihr Doppelleben haben und sie bei ihrem Kampf gegen die Vampire unterstützen.
Max selbst war einer der furchteinflößendsten Venatoren gewesen, der sich diese Aufgabe aber selbst gestellt hatte und nicht wie die anderen Venatoren einer Berufung gefolgt war, die zum Erbe der Gardellas gehörte. Doch dann hatte er seiner Macht entsagt, um einen aufstrebenden Dämon zu vernichten, der Rom einzunehmen drohte.
Indem er auf seine Rolle als Venator verzichtete, hatte er auch den Bann gebrochen, den Lilith ihm vor Jahren auferlegt hatte. Er hatte sich von ihrem Einfluss befreit, aber sie war noch immer von Max besessen. Bestimmt würde sie ihn wieder verfolgen, wenn sie sich von der Schlappe erholt hatte, die Victoria und die anderen Venatoren ihr beigebracht hatten.
Doch eigentlich machte er sich nicht um sich selbst Sorgen, hatte Max in einem Moment der Schwäche gestanden, sondern um Victoria.
Und sie wird wieder hinter mir her sein, wieder und wieder. Und sie wird dich benutzen, Victoria. Sie wird dich benutzen, um an mich ranzukommen.
Ich wünschte, ich könnte dich einsperren, damit ich weiß, dass du in Sicherheit bist... aber ich weiß verdammt genau, dass das nicht möglich ist. Trotzdem, ich mache da nicht mit, ich mache das Ganze nicht noch schlimmer, als es sein muss. Ich kann das nicht.
Victoria war bei seinen Worten wütend geworden, weil sich das, was er sagte, für sie unlogisch anhörte. Sie hatte ihn einen Feigling genannt — ein Wort, von dem sie nie gedacht hätte, dass sie es jemals auf Max anwenden würde. Aber erstaunt hatte sie festgestellt, dass er sich nicht dagegen auflehnte. Sich geschlagen gab. Und ging.
Mit seinen letzten Worten hatte er ihre Beleidigung hingenommen und eingestanden, dass sie der Wahrheit entsprach.
Wenn es darum geht, dein Leben aufs Spiel zu setzen: Ja, ja, ja, verdammt noch mal, ja, dann bin ich ein Feigling. Ein verfluchter Feigling.
Und jetzt standen die beiden einander gegenüber. Zwei Wochen später. Eine Patt-Situation.
»Gute Nacht, Max«, sagte sie, öffnete die Tür und trat in die milde Abendluft hinaus. Die Kutsche stand bereits wartend vor der Tür, und der Lakai hielt den Schlag auf. Sie sah nicht zurück, als der Dienstbote ihr in das Gefährt half, aber sie spürte Max' Blick schwer in ihrem Rücken, als würde er direkt hinter ihr stehen und sie mit der Hand berühren.
Die Herzogin von Farnham wusste, wie man Feste feierte, und der ton nahm das nur allzu gerne auf. Auch wenn sie nur zu einem Tanzabend und nicht zu einem Ball geladen hatte, ging es doch sehr stilvoll und elegant zu. Und wenn die Herzogin zu einem Tanzabend bat, wurden dafür natürlich weniger Einladungen verschickt als zu einem Ball, wodurch sie umso begehrter waren.
Und so musste sich Victorias schlanke, mitternachtsblaue Kutsche bei ihrer Ankunft in einer langen Schlange von anderen Kutschen einreihen, die von einem genauso steten Strom von Kutschen passiert wurden, welche an dem Stadthaus vorbeifuhren, vielleicht um einen Blick auf diejenigen zu erhaschen, die diesmal das Glück gehabt hatten, eine Einladung zu ergattern. Die stickige Luft und die sommerliche Hitze in der geschlossenen Kutsche ließen sie gelangweilt und müde werden, deshalb zog sie eines der kleinen Fenster auf.
Es machte ihr nichts aus, keinen Begleiter zu haben, denn das Verhältnis zur Herzogin war eng — was auch den liebevollen und zwanglosen Spitznamen von Herzogin Winnie erklärte -, als wäre sie deren Nichte. Außerdem würde auch Victorias Mutter, Lady Melly, anwesend sein... wahrscheinlich in Begleitung ihres langjährigen Kavaliers, Lord Jellington.
Lady Melly, Herzogin Winnie und deren beider Busenfreundin, Lady Petronilla, waren schier unzertrennlich. Ständig steckten sie die Köpfe zusammen, tauschten Klatsch und Tratsch aus und planten Hochzeiten. Die drei waren durch das Verschwinden des neuen Lord Rockley wahrscheinlich mehr als alle anderen in London aus der Fassung gebracht. Immerhin hatten sie versucht, Ehestifter bei ihm und Victoria zu spielen, weil sie hofften, dass Victoria dadurch von der Witwe des Marquis von Rockley wieder zur Marquise von Rockley aufsteigen würde.
Sebastian hatte zwar angeboten, sie heute Abend zu begleiten, aber Victoria hatte es für besser gehalten abzulehnen. Denn obwohl er wusste, wie ihre Gefühle für Max aussahen, spiegelte sich das in seinen Worten nicht wider... »Ich werde mich in dieser Sache nicht wie ein Gentleman verhalten, Victoria. Er will dich nicht - er will überhaupt niemanden -, aber ich will.« Und dann hatte er sie in seine Arme gezogen, um sie auf diese unnachahmlich leidenschaftliche Art und Weise zu küssen, bei der ihre Beine weich wurden und ihr Atem unregelmäßig.
Sogar jetzt stieg ihr allein bei der Erinnerung daran Wärme in die Wangen, und sie fühlte sich noch unwohler in der stickigen Kutsche. Als Victoria endlich aussteigen konnte, hatte sich in der schwülen Luft ein feiner Schweißfilm auf ihrer Oberlippe gebildet. Sie tupfte ihn mit einem Taschentuch weg und schlüpfte dann an dem Butler vorbei durch den Seiteneingang von Farnham House.
Ihre Ankunft musste nicht angekündigt werden; sie wollte keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich lenken. Victoria besuchte den Tanzabend, weil sie Herzogin Winnie nicht enttäuschen wollte. Sie würde sich kurz sehen lassen und dann gleich wieder gehen.
Trotz der drückenden Hitze des Sommerabends und der vielen Leute, die der Einladung gefolgt waren, herrschten im Ballsaal recht angenehme Temperaturen. Der Grund hierfür wurde sofort ersichtlich: Die sechs nebeneinanderliegenden französischen Fenster, die auf den Garten blickten, waren alle geöffnet, und im ganzen Raum war eine ganze Heerschar von Dienstboten mit großen Palmwedelfächern verteilt, die den Gästen unermüdlich frische Luft zufächelten.
»Endlich! Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr kommen, Victoria«, sagte Lady Melly und winkte sie auch gleich mit gekrümmtem Finger zu sich heran. »Der Graf von Tretherington ist heute Abend hier, und es heißt, er wäre auf der Suche nach einer Frau.«
»Tretherington?«, wiederholte Victoria und sah ihre Mutter mit hochgezogener Augenbraue an. »Mutter, ich bitte dich, ich lasse mir doch nicht den Hof von einem Mann machen, der alt genug ist, um mein Großvater zu sein.«
»Aber, Victoria«, fuhr Melly fort, »Tretherington House!
Das ist sogar größer als Westminster, nach allem, was man so hört...«
»Wenn du von Tretherington House so angetan bist, kannst du doch selber ein Auge auf ihn werfen, oder?«, fragte Victoria. »Dann würdest du Lady T. werden. Das kannst du genauso gut, Mama, denn ich glaube nicht, dass Jellington je deine Erwartungen erfüllen wird.« Selten benutzte sie diese formlose Anrede bei ihrer Mutter, aber irgendetwas brachte sie dazu, sie heute einmal genauer anzuschauen. Vielleicht rührte Lady Mellys beständiger Wunsch, Victoria wieder verheiratet zu sehen, daher, dass sie sich selbst als Witwe so einsam fühlte.
Ihre Mutter war eine für ihr Alter gut aussehende Frau. Sie hatte das gleiche dunkle, lockige Haar, das sie auch ihrer Tochter vererbt hatte, eine etwas kurvigere Figur und ein extrovertierteres Verhalten, was dafür gesorgt hatte, dass sich seit dem Tod ihres Gatten eine nicht geringe Anzahl von Bewunderern um sie bemüht hatte. Einer von ihnen war der Vampir gewesen, an den Herzogin Winnie sich in jener Nacht in Rom so unbeholfen herangepirscht hatte.
Victoria hatte der Herzogin damals diese Aufgabe abgenommen, indem sie den Conte Regalado mit eigener Hand tötete. Kurz danach hatte sie das goldene Medaillon ihrer Tante Eustacia benutzt, um bei Lady Melly, Herzogin Winnie und Lady Nilly die Erinnerung an diesen speziellen Vorfall auszulöschen.
»Ich?« Lady Melly machte ein Gesicht, als hätte Victoria ihr vorgeschlagen, sich die Haare grün zu färben. »Ganz bestimmt nicht. Und außerdem«, fügte sie schüchtern hinzu, während sie ihrem Kavalier einen Blick zuwarf, der auf der anderen Seite des Saales stand und sie nicht aus den Augen ließ, »hat Jellington bereits sechs Mal um mich angehalten. Sechs Mal.«
Victoria starrte sie mit großen Augen an. »Warum hast du denn nicht angenommen, um Himmels willen? Wir könnten längst deine Hochzeit planen.«
Melly gab Victoria einen kleinen Klaps mit ihrem zusammengelegten Fächer. »Aber es macht doch so viel mehr Spaß, deine zu planen, mein Liebling. Wie wäre es denn mit Mr. Killington? Du hast ja schon einen Titel, und er...«
»Hat keine Haare und einen so schlechten Atem, dass seine Zähne davon bestimmt verfaulen. Nein, danke, Mutter«, erwiderte Victoria und benutzte wieder die förmlichere Anrede.
»Mit Monsieur Vioget ist es dir doch nicht wirklich ernst, oder? Er hat dich nicht gefragt, ob du ihn heiratest, oder doch?« Mellys alptraumhafte Visionen erklommen immer größere Höhen - jetzt waren nicht mehr grüne Haare der Gipfel, sondern eher die Vorstellung, mit Kahlrasur und splitterfasernackt durch Almack's zu flitzen.
»Offen gestanden, er hat tatsächlich um mich angehalten«, erwiderte Victoria heiter. »Entschuldige bitte, Mutter. Ich glaube, ich sehe da...« Und ohne ihren Satz zu Ende zu bringen, eilte sie davon, ohne ein Grinsen unterdrücken zu können.
Um die Wahrheit zu sagen, Sebastian hatte eigentlich nie darum gebeten, dass sie ihn heiratete. Aber das kümmerte Victoria kein bisschen. Nach dem, was Phillip widerfahren war, der wie die meisten Menschen nichts von der Existenz von Vampiren wusste — und schon gar nicht, dass seine Frau ein Venator war -, hatte Victoria beschlossen, nie wieder zu heiraten. Sie brachte es einfach nicht übers Herz, einen Menschen, den sie liebte, in Gefahr zu bringen, wie sie es mit Phillip getan hatte; allerdings befanden sich Männer wie Sebastian und Max bereits auf Grund dessen, was sie waren, in Gefahr.
Genau wie sie.
Andererseits aber war ihr vor kurzem klar geworden, dass es als Iila Gardella und damit letztem Spross, der direkt von dem ersten Venator Gardeleus abstammte, ihre Pflicht war, diese direkte Linie fortzusetzen. Bestimmt gab es weit entfernte Familienmitglieder der Gardellas irgendwo auf der Welt, die auch ihrer Berufung als Venator folgten ... aber die mächtigsten, die Anführer der Vampirjäger, stammten immer in direkter Linie von Gardeleus ab. Tante Eustacia und ihr Bruder, Victorias Großvater, waren die beiden letzten direkten Nachkommen gewesen. Aber ihr Großvater hatte das Vermächtnis abgelehnt und seine Kräfte an Lady Melly weitergereicht, die sich ebenfalls dagegen entschieden hatte, ein Venator zu werden; sie lebte wieder in seliger Unkenntnis der Tatsache, dass es Vampire überhaupt gab.
Die Fähigkeiten zweier Generationen von Venatoren waren auf Victoria übergegangen, und jetzt, wo Tante Eustacia tot war, gab es nur noch Victoria.
»Victoria, da bist du ja! Wie hübsch du heute Abend aussiehst!«, rief Herzogin Winnie. Victoria musste blinzeln und fragte sich, warum sie sie nicht schon vorher bemerkt hatte, sondern fast in sie hineingelaufen wäre; denn die Herzogin trug ein ziemlich grelles, orangerotes Kleid. Damit stach sie wie eine Leuchtboje unter all den gedeckteren Rosa-, Blau- und Grüntönen der Kleider der anderen Damen hervor.
Und mitten auf dem gewaltigen Busen der Herzogin prangte ein ebenso gewaltiges Kruzifix aus Silber.
Victoria starrte den Anhänger an. Sie wusste, dass die Herzogin dafür bekannt war, Knoblauch und Kreuze zu tragen, um mögliche Vampirangriffe abzuwehren. Aber das hier war einfach absurd. Herzogin Winnie wusste wie die übrige Londoner Gesellschaft noch nicht einmal, dass es die Untoten jenseits der lebhaften Fantasie eines John Polidori überhaupt gab. Seine Erzählung Der Vampyr hatte London vor ein paar Jahren im Sturm erobert, und daraufhin war der Aberglaube, dass es Vampire gäbe, in Mode gekommen.
Die meisten Londoner wussten nicht, dass Vampire keineswegs die geheimnisvollen, eleganten Geschöpfe waren, wie Polidori sie mit seinem Lord Ruthven porträtiert hatte, sondern blutrünstige Dämonen, die erbarmungslos über Menschen herfielen. Victoria hatte die Opfer von Vampirangriffen gesehen, und das war kein schöner Anblick gewesen.
»Was für ein schönes Schmuckstück«, meinte sie zu der Herzogin.
Winnie legte die Hand über das Kreuz. »Ich gehe kein Risiko ein«, erklärte sie mit leiser Stimme, während ihr Dreifachkinn bebte. Sie ließ den Blick über ihre Gästeschar schweifen und rückte dichter an Victoria heran, wobei sie einen Hauch von... Knoblauch verströmte. Angereichert mit dem Duft nach Hyazinthen. »Es geht das Gerücht um, Rockley sei von einem Vampir geholt worden. Wenn der Marquis von Rockley tatsächlich in seinem eigenen Haus von einem dieser Geschöpfe angegriffen worden ist, dann ist man nirgendwo sicher.«
Victoria sah sie an. »Woher um Himmels willen hast du das denn?« Die Venatoren gaben sich zum Schutz der Menschen die größte Mühe, die Existenz der Untoten geheim zu halten. Und wenn einer doch etwas sah oder hörte, wovon er nichts erfahren sollte, wurde Tante Eustacias Goldmedaillon mit den besonderen Eigenschaften benutzt, um die belastenden Erinnerungen durch Hypnose zu löschen.
»Na, von Nillys neuem Freund«, erwiderte die Herzogin. »Er hat es uns ganz im Vertrauen erzählt.«
»Lady Nillys Freund?«
»Ach, da hab ich gar nicht dran gedacht! Du kennst ihn ja schon, Victoria, und da sind die beiden gerade. Nilly!« Die Herzogin winkte, und die Haut unter ihrem Arm schwabbelte fröhlich, während die Armreifen an ihrem Handgelenk klingelten.
Victoria drehte sich zu der schlanken, flachbusigen Lady Nilly um, die bleich wie ein Geist mit ihrem neuen Freund auf sie zukam.
Er hatte blonde Haare, ein rundes Gesicht und ein Grübchen im Kinn. Er war seinem Stand angemessen gekleidet und wirkte auf eine jungenhafte Art elegant, obwohl Victoria Grund zu der Annahme hatte, dass er nur ein paar Jahre älter war als sie selbst.
»Guten Abend, Victoria, meine Liebe«, trällerte Nilly. Sie umklammerte den Arm des Mannes an ihrer Seite, als hätte sie Angst, er würde sich gleich aus dem Staub machen.
Aber die Gefahr bestand nicht, denn der Mann verbeugte sich tief vor Victoria, nahm ihre Hand und zog sie an seine Lippen. »Wie reizend, Sie wiederzusehen.«
»Ich weiß überhaupt nicht, wie ich habe vergessen können, dass ihr beiden euch ja schon kennt«, erklärte die Herzogin in einem übertrieben überraschten Tonfall. Victoria bemerkte, wie sie mit den Augenbrauen zuckte, als sie Nilly einen verschwörerischen Blick zuwarf.
»Das tun wir in der Tat«, erwiderte Victoria, um sich dann zu dem Herrn umzudrehen. »George Starcasset. Mit Ihnen hatte ich wirklich nicht gerechnet.« Ihre Stimme klang eisig.
Nein, das hatte sie tatsächlich nicht. Das letzte Mal, als sie George gesehen hatte, führte er gerade zwei Geiseln, Max und einen blutüberströmten, einhändigen Kritanu, aus dem Raum, in dem Victoria mehrere Vampire niedergemetzelt hatte. George war Mitglied der Tutela, einer Geheimgesellschaft Sterblicher, die die Untoten schützten und ihnen dienten.
»Das kann ich gut nachvollziehen«, hatte er den Anstand zu antworten. Und als sie ihn ansah, bemerkte sie in seiner Miene eine düstere Ernsthaftigkeit, die ganz im Gegensatz zu seinem sonstigen angeberischen Getue stand. »Aber ich musste Sie sehen. Tanzen Sie mit mir?«
Victoria hätte lieber mit Beauregard - dem mächtigen Vampir, der sie in eine Untote hatte verwandeln wollen — eine Runde gedreht als mit George. Aber Lady Nilly und Herzogin Winnie sahen aus, als ob sie gleich vor Freude platzen würden, weil ein gutaussehender, wenn auch jungenhaft wirkender junger Mann Victoria eindeutig den Hof machte.
Ihr fiel keine elegante Lösung ein, wie sie sich aus der Situation hätte herauswinden können, und so nahm sie den Arm, den er ihr reichte. Und zumindest würde sie ihm so sagen können, was sie davon hielt, dass er Gerüchte über Untote bei den ahnungslosen Damen des ton streute. Das wirklich Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war eine Herzogin Winnie, die sich wieder aufmachte, um Vampire zu pfählen. Oder eine Lady Nilly, die eine von diesen Kreaturen in ihr Schlafzimmer einlud. Sie hing nämlich tatsächlich der verqueren Vorstellung an, Vampire wären romantisch.
»Was tun Sie hier?«, wollte Victoria wissen, als George sie zum Tanzen in seine Arme zog.
»Mein Gott, Sie sehen heute Abend ganz reizend aus«, erwiderte er. Er war kaum in der Lage, die blanke Bewunderung, die in seiner Stimme mitschwang, zu unterdrücken. Während sie sich im Walzertakt wiegten, sah er sie immer noch an, als wäre jeder klare Gedanke aus seinem Kopf verschwunden.
Victoria wusste von früher, dass man ihn leicht ablenken konnte und er einen ziemlich miserablen Schurken abgab. Die beiden Male, als er versucht hatte, ihrer habhaft zu werden, hatte er sich in der Handhabung von Pistolen und Seilen und der Ausübung ruchloser Taten völlig unfähig erwiesen. Sie hatte absolut keine Angst vor ihm. Noch nicht einmal eine böse Ahnung. Das einzige Gefühl, das er in ihr hervorzurufen vermochte, war unendliche Verärgerung... genau wie jetzt.
Aber ehe sie zu einer Erwiderung ansetzen konnte, schaute er von ihrem halb entblößten Busen auf und sah ihr in die Augen. Es lag keine Bewunderung mehr in seinem Blick, sondern nur noch Angst.
»Ich befinde mich in Schwierigkeiten, Victoria. Ich brauche Ihre Hilfe.«