Kapitel 16

Verhandlungen

 

Max weigerte sich, Schuldgefühle zu haben, obwohl sein schlechtes Gewissen ihn wie die Spitze einer Klinge piekte. Es nagte an ihm, doch er ignorierte das ständige Kribbeln und konzentrierte sich auf die vor ihnen liegende Reise.

Das war die absolut einzige Möglichkeit, der einzige sichere und erfolgversprechende Weg, die Ringe von Lilith zu bekommen. Max wusste besser als jeder andere, was sie wollte. Er wusste, wie man mit ihr fertig wurde, wenn man überhaupt mit ihr fertig werden konnte.

Victoria wusste das nicht.

Es war eine Tatsache, dass sie außer ihm nur noch eines mehr als alles andere auf der Welt haben wollte: Victoria, Eustacias Schützling und Illa Gardella.

Er sah Vioget an, der neben ihm ritt. Sie hatten Prag zusammen mit Michalas gleich nach Tagesanbruch verlassen, nachdem Max widerwillig aus dem Zimmer geschlüpft war, in dem Victoria immer noch schlief. Was nicht weiter verwunderlich war. Es war eine sehr turbulente Nacht nach dem Bad gewesen ... und währenddessen auch.

Verdammt. Seine Finger zitterten immer noch, und seine Hände wurden allein schon bei dem Gedanken an diese vergangenen Stunden feucht.

Er wusste nicht, ob es jemals eine Wiederholung solch einer Nacht geben würde. Bei dem Gedanken wurde ihm ganz schlecht, und er schob Überlegungen, was die Zukunft wohl bringen mochte, beiseite. Ein Schritt nach dem anderen.

Victoria würde verdammt wütend sein, wenn sie aufwachte und feststellte, dass er fort war, und noch mehr toben, wenn sie erkannte, was er geplant hatte. Er presste die Lippen aufeinander. Er stand zu seiner Entscheidung. Es war die richtige gewesen, so wie immer. Die einzig richtige Entscheidung. Max wusste um deren Folgen.

Das hatte sie, verdammt noch mal, zu verstehen und zu akzeptieren. Genau wie er.

Sie mussten das Portal schließen, und zwar lieber früher denn später, denn beim nächsten Mal würde es ihnen vielleicht nicht gelingen, Wayren zu retten oder die Dämonen zurückzuschlagen.

Es gab keinen besseren Weg. Das musste sie akzeptieren.

Victoria war Illa Gardella, und sie war verdammt schlau. Nachdem sie die Wut und den Schock überwunden hatte, würde sie verstehen.

Es mochte sein, dass sie ihm niemals vergäbe, aber sie würde verstehen, warum er es getan hatte.

Die brennende Wut und der Schmerz waren kein bisschen weniger geworden, seit sie Prag vor fast einer Woche verlassen hatte.

Victoria ritt wie der Teufel und legte jede Nacht nur eine Rast von ein paar Stunden ein. Sie trieb Brim dazu, mit ihrem Tempo Schritt zu halten, obwohl ihre Erschöpfung immer größer wurde. Wayren war, auf Victorias strikte Empfehlung hin, nach Rom zurückgekehrt, wo sie im Konsilium hoffentlich in Sicherheit sein würde. Sie konnten sie immer noch zu sich holen, wenn sie ihre Hilfe brauchten, aber jetzt, wo die Prüfung vorbei war, wollte Victoria Wayrens Sicherheit nicht mehr aufs Spiel setzen.

Und Sebastian und Michalas hatten sich Max angeschlossen.

Sie schwankte zwischen Wut und Erleichterung, dass er die beiden mitgenommen hatte. Er würde Lilith nicht allein gegenübertreten — aber wie hatte er es wagen können, sie zu hintergehen und sich im Dunkel der Nacht mit zwei Venatoren davonzustehlen. Bei Michalas konnte sie es vielleicht noch verstehen, denn der arbeitete seit Jahren mit Max zusammen; aber Sebastian auch noch?

Die Hoffnung, dass sie und Brim die anderen vielleicht einholten, ließ sie in dem schnellen Tempo reiten, aber egal, wie sehr sie sich beeilten, sie fanden keine Hinweise auf sie und trafen auch niemanden, der den dreien unterwegs begegnet wäre. Sie war sich noch nicht einmal sicher, wo Liliths Unterschlupf in Muntii Fägära$ war — ein Umstand, den Max jetzt bestimmt zu seinem Vorteil nutzte.

Sie mochte gar nicht darüber nachdenken, was er sonst noch getan hatte, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Mit ihr zu schlafen, sie in Sicherheit zu wiegen...

Du musst mir versprechen, nie wieder einfach zu verschwinden.

Das werde ich dir nicht versprechen, Victoria.

Ja, tatsächlich nicht. Sie gab sich keinen Illusionen hin; Max hatte auch da schon ganz genau gewusst, was er vorhatte. Wahrscheinlich sogar bereits, ehe er in Prag angekommen war. Tatsächlich hatte sie den Verdacht, dass er es von dem Moment an gewusst hatte, als er erfuhr, dass sie sich die zwei Ringe von Lilith würden holen müssen. Dumme, dumme Victoria, dass sie nicht schon vorher darauf gekommen war, was er plante.

Weil er wusste, dass sie es nie zulassen würde, hatte er ihr die Entscheidung abgenommen.

Zur Hölle mit ihm.

Und dann hatte er auch noch Brim zurückgelassen, der sie abpasste, als sie aus dem Zimmer kam. Er hatte sie abgelenkt und daran gehindert, sofort aufzubrechen. Zumindest hatte Max die Höflichkeit besessen, ihr eine Nachricht zu hinterlassen.

Ich bin derjenige, der am besten mit Lilith fertig wird. Ich werde die beiden Ringe holen. Sie wird sie nicht ohne weiteres hergeben.

Dann hatte er sie in seiner ausgeprägt männlichen Schrift, die perfekt seine ihm eigene Arroganz widerspiegelte, auch noch daran erinnert, dass er ja auch auf den gleichen Trick hätte zurückgreifen können, den sie erst vor ein paar Wochen bei ihm angewendet hatte: Er hätte ihr salvi verabreichen und aufbrechen können, während sie schlief. Mit der schlichten Bemerkung hatte er sie wohl daran erinnern wollen, dass auch sie einmal eine ähnliche Entscheidung getroffen hatte und er sich damit hatte aussöhnen müssen. Es zu vergeben war etwas anderes.

Vergeben, akzeptieren... es lag ihr fern, jetzt darüber nachzudenken. Victoria wollte Max nur finden, ihn in die Finger — wütende Finger - bekommen und ihm zeigen, dass es noch eine andere Möglichkeit gab.

Es musste eine andere Möglichkeit geben.

Aber Max hatte alles gut vorbereitet, was sie nicht weiter überraschte, und als Victoria und Brim endlich die Ausläufer des rumänischen Gebirges erreichten, in dem sich Liliths Unterschlupf befand, waren sie noch immer niemandem begegnet, der die drei Venatoren gesehen hätte. Und jetzt konnten sie nicht weiter, denn weder Victoria noch Brim wussten, wo sie das Versteck suchen sollten.

»Sebastian schien nicht genau zu wissen, wo sich der verzauberte Teich befindet«, sagte Victoria. Sie schirmte die Augen gegen die Sonne ab, die soeben hinter dem Berg vor ihnen aufging. Sie hatten von Mitternacht bis vier Uhr morgens geschlafen, waren aufgebrochen und so weit geritten, wie sie konnten. »Er hat mir weder gesagt, wie er heißt, noch irgendwelche anderen Informationen gegeben; nur, dass die Kugel darin versteckt sei.«

»Max hat gesagt, sie würden uns finden, sobald sie die Ringe haben«, erklärte Brim. »Du siehst so aus, als ob du eine ganze Woche nicht geschlafen hättest, Victoria. Da wir jetzt nicht weiterkönnen, solltest du dich vielleicht ein bisschen ausruhen.«

Sie war tatsächlich erschöpft. Und hatte Liebeskummer. Und war wütend. All das hatte sie daran gehindert, gut zu schlafen, seit sie Prag verlassen hatten. Sie wollte sich nicht ausruhen, Zeit verschwenden, die sie nutzen konnte, um nach Max zu suchen und ihn möglicherweise aus einer Situation zu befreien, in die er sich selbst hineinmanövriert hatte.

Aber von all diesen Dingen abgesehen war Victoria eine praktisch denkende Frau, und sie wusste, dass Brim Recht hatte. Sie würde niemandem etwas nütze sein, wenn sie nicht besser auf sich achtgab. Nicht einmal Venatoren konnten dieses Tempo auf Dauer durchhalten.

Sie erklärte sich bereit, ein Zimmer im nächsten Ort zu mieten, und nach einem letzten Blick auf die Berge, die die Sicht auf den heller werdenden Himmel versperrten, schlief sie tief und fest ein, während Brim Wache hielt.

Man hatte das Gefühl, in dem Raum zu ersticken. Dunkel, warm und rot, überall rot: in den brennenden Feuern, den Möbelüberwürfen, den dunklen Wandbehängen. Karmesinrot auf Kastanienbraun, Bordeauxrot und Scharlach. Sebastian hatte das Gefühl, als wäre er in einen Backofen getreten. Und dann der Geruch nach Rosen. Schwer und süß mit einem Anflug von Bosheit und Verlangen.

»Und welchem Umstand verdanke ich das Vergnügen deiner Gesellschaft, Maximilian?« Liliths Augen leuchteten vor Freude. Sie glühten rot, ein reines, strahlendes Rot, und die brennende Iris war mit Blau gesäumt, wie es ihrem Stand als Königin der Vampire, Tochter von Judas Ischariot, gebührte.

Sebastian sah den Mann an, den sie angesprochen hatte, und fragte sich erneut, wie er es schaffte: diese ungerührte, arrogante Miene, die nicht einmal angesichts der Besessenheit der Vampirkönigin, die wie schwerer Samt über dem Zimmer zu liegen schien, Unbehagen verriet. Allein wie sie Pesaro anschaute, verursachte Sebastian eine Gänsehaut, und er war noch nicht einmal derjenige, den sie ansah.

Die drei Venatoren waren vor dem geheimen Eingang zu Liliths Unterschlupf empfangen und auf direktem Wege in ihr Gemach geführt worden. Natürlich waren Pesaro und Sebastian von ihren Wächtern erkannt worden, und keiner der Untoten hatte auch nur versucht, sich an ihnen zu vergreifen, aber man hatte ihnen ihre Pflöcke abgenommen. Hier, tief im Unterschlupf des mächtigsten Vampirs der Welt, fühlte Sebastian sich so ganz ohne Waffe ausgesprochen unwohl. Dass alle drei zu ihrem Schutz ihre vis bullae, Kreuze und einige Fläschchen mit Weihwasser bei sich hatten, war da nur ein schwacher Trost.

Er hatte sich zwar schon früher unter Untoten aufgehalten, aber damals hatte er immer unter dem Schutz von Beauregard gestanden. Durch den Tod seines Großvaters, für den er entscheidende Verantwortung trug, hatte er sich eindeutig für die Venatoren entschieden und konnte nun nicht mehr zwischen beiden Seiten balancieren.

Lilith sah völlig unverändert aus. Ihre langen, unwahrscheinlich hellroten Haare fielen ihr wie brennende Medusa-Locken über die Schultern und die blasse, von blauen Venen durchzogene Haut, die am Ausschnitt zu sehen war. Der Stil ihres Kleides erinnerte eher an die Gewänder, die Wayren trug, denn es floss an ihrer schlanken Gestalt lang und schlicht bis zum Boden. Lilith war offensichtlich eine attraktive Frau nahe dreißig gewesen, als sie von Judas in eine Untote verwandelt wurde. Doch was einst eine ätherische Schönheit gewesen war, hatte sich im Laufe der Jahrtausende in ein Wesen aus kalter, marmorgleicher Haut und hageren Zügen verwandelt. Sogar aus der Ferne konnte Sebastian die fünf dunklen Flecken auf ihrer Wange sehen, die wie ein Halbmond angeordnet waren.

»Wie ich sehe, ist umdekoriert worden«, meinte Pesaro. »Ich erinnere mich gar nicht, dass es bei meinem letzten Besuch hier so rot gewesen ist.«

»Ich empfinde es als sehr gemütlich, Maximilian.« Liliths Stimme klang fast wie ein Schnurren, das Sebastian unangenehme Schauer über den Rücken jagte. »Ich würde dir gern zeigen, was ich meine.«

Er hatte Lilith natürlich auch schon früher gesehen, doch es waren immer kurze Begegnungen in Begleitung des mächtigen Beauregard gewesen - oder bei dem heftigen Kampf unter den Straßen Londons, der noch gar nicht so lange her war. Sebastian

hatte keine Angst vor ihr, doch er befand sich in ihrer Gegenwart im Zustand höchster Wachsamkeit; so erging es jedem - Sterblicher oder Untoter - bei ihr.

Er musterte Pesaro und suchte nach irgendwelchen Hinweisen für Unbehagen oder Schwäche. Gütiger Himmel! Der Mann musste aus Stein sein. Ihm war kein Abscheu anzumerken, obwohl er die gleichen Empfindungen hegen musste wie Sebastian. Max war viel häufiger bei Lilith gewesen als er. Wie hatte er es über sich gebracht, freiwillig zurückzukehren?

Als Objekt ihrer Begierde, eingepfercht an solch einem abgeschiedenen Ort mit ihr... wie schaffte es ein Mensch, da nicht verrückt zu werden?

»Du weißt vom Anstieg dämonischer Aktivität«, sagte Pesaro. »Das Midiversum-Portal steht offen und stellt sowohl für uns Sterbliche als auch für die Untoten eine Bedrohung dar.«

»Jetzt sag nicht, dass du hergekommen bist, um mich zu beschützen, mein Schätzchen.« Lilith sprach wie ein affektiertes Frauenzimmer, aber das Glitzern in den gefährlichen Augen sagte etwas anderes. Sie war gerissener als jede Frau, die er je kennen gelernt hatte.

»Man könnte es so deuten, wenn du möchtest«, erwiderte Pesaro gelassen. Er stand genau vor der Chaiselongue, auf der die Vampirkönigin hingegossen lag, als wollte er ihr die Sicht auf die anderen versperren, damit sie nur ihn beachtete.

Sebastian wusste nicht recht, was er davon halten sollte, so abgeschirmt zu werden. Doch er nutzte die Gelegenheit, sich den Raum und die Einrichtung genauer anzusehen, um vielleicht etwas zu entdecken, das ihnen später einen Vorteil verschaffen könnte. Verärgert stellte er fest, dass es in dem Raum nichts gab, was aus Holz bestanden hätte, und deshalb noch nicht einmal die Möglichkeit bestand, etwas als provisorischen Pflock zu benutzen. Es gab Stühle und Tische aus Stein, die zur Bequemlichkeit mit Kissen und Polstern versehen waren, und die Chaiselongue, welche aus schmalen, goldenen Ruten gefertigt war. Es handelte sich wohl um eine bestimmte Sorte Bambus.

Nichts in diesem Raum würde einem Untoten Schaden zufügen - keine Fenster, die Sonnenlicht eingelassen hätten, noch Schwerter, um einen Vampir zu köpfen.

Was zum Teufel hatte Pesaro sich dabei gedacht, sie hierher zu bringen, noch dazu unbewaffnet?

»Die Vampire sind genauso bedroht wie meine Leute. Sie sind von den Dämonen angegriffen und aus ihren Verstecken vertrieben worden. Aber das wird dir nicht neu sein«, fuhr Pesaro fort.

»Nein, natürlich nicht.« Lilith setzte sich auf und legte zum ersten Mal, seit sie Max gesehen hatte, den sinnlichen Gesichtsausdruck ab.

»Du willst doch bestimmt nicht tatenlos zusehen, wie sie durch das Portal kommen und dir deinen Platz hier auf Erden streitig machen.«

»Es erheitert Luzifer zuzuschauen, wenn wir gegeneinander kämpfen«, sagte Lilith. Blasse, bläuliche Lippen, die einst voll und von sinnlichem Rot gewesen waren, verzogen sich. »Ich habe Truppen in Marsch gesetzt, aber sie waren nicht so erfolgreich, wie ich gehofft hatte.«

»Und jetzt hockst du hier und versteckst dich in deinem Unterschlupf?«, fragte Max leicht herausfordernd. »Bei jemandem mit deiner Macht hatte ich ein bisschen mehr erwartet.«

»Aber, mein lieber Maximilian. Verstehst du denn nicht? Ich habe kaum mal den Finger gerührt, habe gerade mal ein paar meiner unfähigsten Lakaien geschickt — und schon bist du hier. Du und deine Gefährten. Retter, alle miteinander. Der Sterblichen und auch der Untoten.« Ihre Augen wurden ganz schmal vor Erheiterung. »Und du kannst dir gar nicht vorstellen, dass ich deine Hilfe ablehnen würde.«

Sebastian warf seinem Gefährten einen scharfen Blick zu. Verdammt. Sie hatte sie bereits erwartet.

Statt überrascht oder bestürzt zu wirken, hob Pesaro das Kinn und blickte voller Arroganz auf die Vampirkönigin herab. »Das ist genau der Grund, weshalb ich hergekommen bin.«

»Und ich dagegen glaube, dass du mich vermisst hast, mein lieber, sterblicher Maximilian.« Lilith erhob sich anmutig und verbreitete dadurch wieder den betäubenden Geruch von Rosen im ganzen Raum. Sebastian hatte das Gefühl, gleich würgen zu müssen.

Gleich darauf stand sie vor Pesaro, wobei ihre seidigen, tannengrünen Röcke wie eine kleine Schleppe hinter ihr herglitten. Die Vampirkönigin war so groß wie Max, größer als Sebastian. Sie streckte die Hand nach Pesaro aus, und dabei glitt der Ärmel ihres Kleides zurück und enthüllte die bleiche, von blauen Adern durchzogene Haut eines unglaublich dünnen Armes. Sie sah den unglückseligen Mann an und versuchte, ihn mit ihrem Blick in Bann zu ziehen, während sie die knochige Hand um seinen Nacken schlang und die Finger in sein Haar schob.

Wie konnte er die Berührung dieser Hände ertragen? Hatte sie ihn mit ihrem Blick so leicht in ihren Bann ziehen können?

Sebastian beobachtete alles ganz genau, sein Herz begann schneller zu schlagen, und er wechselte einen Blick mit Michalas. Sie waren einverstanden gewesen, dass Max sich allein um Lilith kümmerte... oder waren eher darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass er die Sache mit ihr regeln würde. Aber jetzt...

Pesaro stand weiter ganz ruhig da, man sah ihn noch nicht einmal atmen. Da war nur diese totenbleiche Hand, die sich über seine viel dunklere Haut bewegte. Mit fasziniertem Entsetzen beobachtete Sebastian, wie ihre Hand über den Kragen seines geöffneten Hemds nach vorn fuhr und dann seinen Arm hinunterglitt, um sein Handgelenk zu nehmen. Sie berührte ihn, als würde er ihr gehören, als würde sie jeden Muskel seines Körpers, jedes Haar auf seinem Kopf kennen.

Erst in diesem Moment, als er Zeuge dieser Farce von Zärtlichkeit wurde, begriff Sebastian das volle Ausmaß des Opfers, das Pesaro gebracht hatte, indem er herkam.

Und Victoria zurückgelassen hatte. Wo sie in Sicherheit war.

Verdammt. Widerwilliger Respekt für Max Pesaro war keine von Sebastians bevorzugten Gefühlsregungen.

Er konnte sehen, dass Lilith ihre langen Finger um Max' Handgelenk geschlossen hatte. Während sie mit der anderen Hand nach seinem Kiefer griff und ihre Fangzähne hervortraten, schmiegte sie sich mit ihrem ganzen Körper an ihn.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, dass du zu mir zurückgekehrt bist«, sagte Lilith und streckte die Hand aus, um Max' Wange mit einem spitzen Nagel zu berühren.

Und da bewegte er sich. Plötzlich, ruckartig, gewandt.

Eben hatte Lilith ihn, anscheinend völlig überwältigt, noch in ihrer Gewalt gehabt, wollte gerade ihre Fangzähne in seinen sehnigen Hals schlagen... und im nächsten Moment hatte Max sie auch schon an beiden Handgelenken gepackt, sodass sie

sich nicht mehr rühren konnte. Er bleckte die Zähne zu einem freudlosen Grinsen und schob sie von sich weg. »Nein.«

Sebastian machte sich auf einen wütenden Angriff von Lilith und den vier Vampiren gefasst, die er tief im Schatten verborgen und hinter den Wandteppichen erspäht hatte.

Doch überrascht beobachtete er, dass Lilith nicht das Gleichgewicht verlor, sondern stehen blieb, und statt dass blinde Wut ihr Gesicht verdunkelte, sah er Freude. Reine, unverstellte Freude, der eine leichte Verwirrung folgte.

»Du bist zurückgekehrt«, sagte sie erstaunt. »Du bist als Venator zurückgekehrt, mein lieber Maximilian.« Sie lächelte, und die pure Lust in ihrer Miene sorgte dafür, dass sich Sebastians Magen in unangenehmer Weise zusammenzog. »Ich hielt es für unmöglich, aber... da bist du.«

»Offensichtlich konnte der Makel, mit dem du mein Blut behaftet hast, göttlichem Willen nicht standhalten«, erwiderte Pesaro.

Lilith schürzte die Lippen, und bei jeder anderen Frau hätte Sebastian das wohl reizvoll gefunden; doch nicht bei ihr. »Ich werde mich nicht beklagen, Maximilian. Dich in so herrlicher Verfassung zurückzuhaben... ich muss gestehen, dass ich von dem normalen Mann, der du geworden warst, ein wenig gelangweilt war.«

»Ich hätte alles getan, um den Bann zu lösen.«

»Das ist es, was eine so endlose Faszination auf mich ausübt, mein Lieber. In den ganzen Jahrhunderten des Untotseins warst du der Einzige, der mich je so fasziniert hat.«

»Nachdem wir nun festgestellt haben, dass du... äh... wahnsinnig fasziniert von mir bist - wenn ich denn so kühn sein darf -, könnten wir uns jetzt vielleicht mit etwas Wichtigerem

befassen«, sagte Pesaro. »Wir sind hergekommen, weil wir die zwei Ringe von Jubai brauchen. Wie du weißt, ist das Midiversum-Portal aufgebrochen oder irgendwie überwunden worden, und es lässt sich nur mit Tacheds Kugel wieder schließen.«

»Natürlich. Aber du brauchst alle fünf Ringe, um in den verzauberten Teich zu gelangen«, erwiderte Lilith zuvorkommend. »Das habe ich wirklich gut hinbekommen, nicht wahr? Leider sind drei von den Ringen verloren gegangen, weshalb ich die Kugel auch nicht holen konnte.«

Pesaro sagte nichts, und es verging nur ein Atemzug, ehe die Vampirkönigin überrascht zu ihm aufschaute. »Und du hast die anderen drei Ringe? Sie befinden sich in deinem Besitz?«

»Wir brauchen nur die zwei Ringe. Es wird den Untoten und auch den Menschen von Nutzen sein.«

»Und du meinst also, wir sollten unsere Kräfte vereinen, Maximilian? Die Sterblichen und die Untoten? Um die Welt von diesen widerlichen Dämonen zu befreien?« Lilith warf ihm einen listigen Seitenblick zu und drehte sich um. Ihre Bewegung war so schwungvoll, dass sich ihre Röcke kurz an die knabenhafte Gestalt ihres ausgezehrten Körpers drückten.

Sebastian hatte plötzlich eine Vorstellung davon, wie dieser Körper wohl nackt aussehen würde, und musste schlucken. Er hoffte bei Gott, dass Pesaro den Anblick dieses Zerrbildes einer Frau nie hatte ertragen müssen. Aber dann wurde ihm klar, dass diese Hoffnung wohl unwahrscheinlich war. Gütiger Himmel.

»Wie ich schon sagte, es wird für beide Seiten von Nutzen sein.«

»Und jetzt erwartest du von mir, dass ich dir einfach die Ringe gebe, damit du davonstürmen und die Welt retten kannst?«

»Es würde verhindern, dass du noch mehr von deinen Gefolgsleuten verlierst - zumindest diejenigen, die Opfer der Dämonen werden. Schließlich haben wir erst letzte Woche in Prag einer ganz hübschen Anzahl den Garaus gemacht«, fügte Pesaro hinzu und hob das Kinn. »Deine Leute werden immer weniger.«

Lilith ging auf und ab. Das Kleid wallte bei jeder Bewegung, während ihr Blick immer wieder zu Max wanderte, um dann zu Sebastian und Michalas zu huschen. Allein, dass sie nur kurz ihre Aufmerksamkeit auf ihn richtete, ließ in Sebastian schon Abscheu hochkommen, und wieder fragte er sich, wie Max so unempfindlich hatte gegen sie werden können.

»Und was ist mit Illa Gardella?«

Pesaro antwortete nicht.

Sebastian spürte Liliths wachsende Verärgerung, und er sah zu Max hinüber. Max hatte ihm und Michalas sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie sich nicht einmischen sollten, egal wie sich die Situation entwickelte.

Lilith kam wieder auf Pesaro zu und streckte die Hand nach seinem Arm aus. Dieses Mal schien sie darauf vorbereitet, dass er reagieren würde, als er gewandt ihrer Berührung auswich. Sie gaben das verlegen-amüsierte Zerrbild eines Liebespaares ab, das daran gehindert worden war, sich zu umarmen. Dann trat Lilith zurück.

»Ich gebe dir die Ringe, aber dafür möchte ich etwas haben.«

»Die Rettung deiner Gefolgschaft wird dein Lohn sein. Wir nehmen die Gefahr auf uns und kämpfen. Du brauchst nur danebenzustehen und zuzuschauen.«

Lilith lachte, ein leises, wissendes Lachen. »Netter Versuch, Maximilian. Du weißt, was ich will.«

Einen Herzschlag lang herrschte Schweigen. Sebastian spürte, wie die Anspannung im Raum wuchs.

»Und wenn ich mich weigere?«, fragte Max leise.

»Dann musst du eine andere Möglichkeit finden, die Kugel aus dem verzauberten Teich zu holen. Und während du suchst und der blonde Engel ein Buch nach dem anderen und Manuskript über Manuskript studiert... und du andere Möglichkeiten ausprobierst, den Bann dieses Teichs zu brechen, werden immer mehr Dämonen hereinströmen; und, nun ja, Maximilian, wir wissen beide, was dann passieren wird. Deine reizende Illa Gardella wird kämpfen und kämpfen, aber es werden einfach immer mehr Dämonen kommen, bis sie schließlich stirbt. Oh ja, und viele weitere von euch Sterblichen werden auch dahinscheiden. Das dürfen wir nicht vergessen.«

Sebastian konnte sich nicht erinnern, jemals so voller Abscheu gewesen zu sein, so voller Verachtung. Sie spielte mit ihnen. Vergeblich schaute er sich wieder im Raum nach etwas um, das sich als Waffe gegen sie verwenden ließe. Die einzigen Waffen, die er bei sich trug, waren das Kreuz, das um seinen Hals hing - und Lilith vielleicht für ein oder zwei Minuten aufhalten würde - und zwei Fläschchen mit Weihwasser, die sich im Saum seiner Hose befanden.

Dieser verdammte Pesaro, der sich als ihr Anführer aufspielte und meinte, die Verhandlungen fuhren zu müssen. Auf die Weise würden sie nie das bekommen, was sie haben wollten, und dann hatten sie noch nicht einmal die geeigneten Waffen dabei, um gegen Lilith und ihre Wächter zu kämpfen. Aber wenn sie es tatsächlich schaffen sollten, sie zu überwältigen, mussten sie danach auch noch erst die Ringe finden.

Das waren nicht die besten Voraussetzungen.

»Und wie entscheidest du dich jetzt, Maximilian, mein Lieber?«

»Das ist ein völlig inakzeptabler Vorschlag, den du mir da unterbreitest.«

»Ach komm, mein Lieber. Es wird schon nicht so schlimm sein.«

»Ich glaube doch.«

Lilith lachte. »Oh, wie unterhaltsam du doch bist. Diese reizende Mischung aus Lust und Schmerz, aus Arroganz und Sinnlichkeit. Wie ich das vermisst habe.« Dann wurde sie wieder ernst, und der listige Blick war aufs Neue in ihren Augen zu sehen. »Wenn du ablehnst und gehst, werde ich dich natürlich gehen lassen, mein Lieber. Die Jagd ist eigentlich das größte Vergnügen, musst du wissen. Und jetzt, wo ich weiß, dass es sich wirklich lohnt, dich wieder zu jagen...«

Sie drehte sich um und ging zur Chaiselongue zurück, auf der sie sich wieder wie eine Prinzessin niederließ, die gleich ein großes Geschenk erhalten würde. »Wenn du ohne die Ringe gehst, die das Portal schließen können, weißt du ja, was die Welt erwartet. Was die Menschen erwartet. Du wirst sie nicht zurückschlagen können. Und vergiss auch nicht deine Illa Gardella. Sie wäre mittendrin, nicht wahr?«

»Wenn ich auf deine Forderung eingehe, würdest du die Ringe herausgeben.«

»Du weißt, dass ich das tun würde. Wie du schon sagtest, es wäre auch zu meinem Nutzen. In mancherlei Hinsicht. Ich hätte dich bis in alle Ewigkeit... im Austausch gegen die Ringe.«

Da nickte Pesaro und akzeptierte so den Handel. In dem Moment erkannte Sebastian, dass das die ganze Zeit sein Plan gewesen war. Er hatte gewusst, dass er nicht mehr weggehen würde, sondern sich im Austausch für die beiden Ringe hergeben musste.

Sebastian öffnete schon den Mund, um Einspruch zu erheben, aber Max schien es gespürt zu haben, denn er drehte sich um und hieß ihn mit einem Blick zu schweigen.

»Wie du wünschst«, sagte Lilith mit falscher Freundlichkeit. »Einen Moment, ich werde sie für dich holen.« Sie erhob sich mit wallenden Gewändern und rief zwei Wächter herbei, die in einer dunklen Ecke gestanden hatten. Dann trat sie an eine Wand, die völlig unauffällig aussah. Sie sagte etwas in einer archaischen Sprache und bewegte die Hand über der Wand. Daraufhin erschien eine kleine Tür, durch die sie trat.

Einen Augenblick später kam sie zurück und schloss die Tür, die gleich wieder so vollkommen mit der Wand verschmolz, dass Sebastian nicht sicher war, ob er sie wiederfinden würde, obwohl er sie doch gerade noch gesehen hatte. Sie hätten die Ringe nie allein gefunden.

Aber wo sie sie jetzt hatten, wollte Pesaro sich doch bestimmt mit ihnen zusammen den Weg nach draußen freikämpfen ...

Während Lilith auf Sebastian zukam, um ihm die beiden Kupferringe zu reichen, beobachtete er, wie die beiden Wächtervampire zu Pesaro traten. Als Sebastian die Ringe nahm, hörte er das Klicken von Metall. Er drehte sich um und sah die schweren Handschellen, die man um Max' Handgelenke gelegt hatte.

Zu spät erkannte er, dass es keine Möglichkeit gab, sich kämpfenderweise aus dem Raum zu entfernen. Die anderen waren in der Überzahl: vier Wächter und dann auch noch Lilith. Sie trugen keine Waffen bei sich, und es gab auch nichts, was sie als Waffe hätten benutzen können. Und wenn sie es versuchten und unterlagen, würden die Ringe hierbleiben... und sie auch. Entweder als Leichen oder als Gäste der Vampirkönigin.

Keine der beiden Möglichkeiten gefiel Sebastian.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, sah Max ihn an, als die beiden Wächter ihn an den Ketten wegzerrten. »Nehmen Sie die Ringe. Gehen Sie. Das Portal muss geschlossen werden. Es gibt keine andere Möglichkeit.«

»Wo ist Max?«, fragte sie wieder. Sie versuchte, ihre Stimme ganz ruhig klingen zu lassen. Sie war sich sicher, das geschafft zu haben. Es war nur eine einfache Frage, und es hätte eine einfache Antwort geben sollen. Max kommt gleich hinterher, er ist noch hinter der Kurve. Er wird gleich da sein.

Sebastian fasste nach ihrem Arm und zog sie zu sich herum, damit sie nicht mehr in die Richtung schaute, aus der er und Michalas gerade gekommen waren. »Victoria«, erklärte er mit scharfer Stimme, »er hat uns die Ringe besorgt. Wir haben jetzt die letzten beiden Ringe. Er ist geblieben.« Er sprach mit deutlicher, langsamer Stimme, und sie fragte sich benommen, wie häufig sie schon gefragt und wie viele Male er bereits geantwortet hatte.