Kapitel 24
In dem die Vampirkönigin ihren Gefährten zum Essen einlädt
Nein!«, stieß Victoria halb schreiend, halb keuchend her-vor. »Nein.«
Doch nicht Sebastian.
Aber es bestand kein Zweifel. Seine roten Augen funkelten sie lockend an und zogen sie ganz unerwartet und schnell in seinen Bann. Aber während das Entsetzen sie noch vollkommen beherrschte, merkte sie, dass Liliths Haar immer noch um ihre Hand geschlungen war. Sie hatte sich beim Zustoßen mit dem Pflock fast verrenken müssen und ihn dabei entweder nicht tief genug hineingebohrt oder das Herz verfehlt.
Die Vampirkönigin war immer noch am Leben.
All dies geschah innerhalb weniger Sekunden, und plötzlich lag Lilith nicht mehr schwer auf ihr. Sie wurde hochgerissen.
Victoria taumelte, immer noch benommen und mit einem Gefühl, als hätte ihr jemand einen Felsbrocken in den Bauch gerammt. Sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen und zu verstehen, wie das alles hatte passieren können. Wie? Sebastian?
Zu spät.
Ich bin zu spät gekommen. Genau wie bei Phillip.
Hände griffen nach ihr, packten sie, stießen sie, und sie konnte sich gerade noch fangen. Sie trat um sich und fiel dann auf etwas Weiches... Kissen oder Polster. Sie rochen ganz widerwärtig nach Rosen, Blut und Tod.
Ganz plötzlich wurde sie von schrecklichen Erinnerungen an Beauregard heimgesucht. An Hände, Nägel, Zähne — Lippen, die sich auf ihr Fleisch pressten, an etwas Weiches, das unter ihr lag, an rote Augen, die vor Lust glühten. Nein, nein... das waren Sebastians Augen.
Und Liliths. Rote Augen, keine rosafarbenen. Beauregard hatte rosafarbene Augen gehabt.
Victoria versuchte zu blinzeln, sie spürte, wie sie von kräftigen, groben Händen festgehalten wurde und sich etwas um ihre Handgelenke legte. Metall, kalt und schwer, und sie hatte plötzlich eine ganz deutliche Erinnerung an Max, der auch Handschellen getragen hatte, als er bei Lilith gewesen war. Sie trat ziellos um sich, traf etwas Weiches, aber sie konnte nichts sehen, weil diese roten Augen sie wieder in ihren Bann zogen.
Sie saß in der Falle.
Hände zerrten an ihrer Kleidung, zogen den Stoff von ihrem Hals und von ihrer Brust. Ihr Kruzifix war fort. Sie hatte es während des Kampfes mit dem Wächtervampir verloren. Die Hitze des Raumes traf auf ihre feuchte Haut, sie spürte, wie drahtiges kupferfarbenes Haar über ihren Hals und ihre Wange strich, und nahm den Geruch von Rosen immer stärker wahr.
Sie konnte sich nicht bewegen. Ihre Beine wurden von etwas Schwerem nach unten gedrückt, ihr Kopf von Händen auf dem Kissen festgehalten, sodass sie ihn nicht heben konnte. Eine Hand war mit einer schweren Handschelle gefesselt, deren Kette an der Wand befestigt war; die andere war frei, sodass sie hilflos Sebastians lockiges Haar und die Steinwand berühren konnte. Da wollte jemand sie wohl verhöhnen, indem man eine Hand freiließ, sodass sie versuchen konnte zu kämpfen, dachte sie träge.
Verschwommen ging ihr durch den Kopf, dass das wichtig war... Sie schob die Hand unter ihren Körper, damit es so aussah, als wäre sie auch festgebunden.
Doch dann ließen der durchdringende Rosenduft und die drückende Hitze sie noch benommener werden, sodass sie die glühenden roten Augen, die lüstern in einem Gesicht brannten, das ihr einst so lieb und teuer gewesen war - immer noch lieb und teuer war —, nur noch verschwommen wahrnahm.
»Sebastian«, schrie sie. »Nein.«
»Na, na«, flüsterte eine Stimme dicht neben ihrem Ohr. Sie gehörte Lilith, nicht Sebastian, und schmeichelte sich sanft bei ihr ein. »Sie werden es genießen, Victoria Gardella. Ich weiß doch, dass Sie Sebastian ziemlich gut kennen. Und er ist sehr hungrig. Seit er von mir getrunken hat, weigert mein armer Schatz sich, etwas zu sich zu nehmen.«
Victoria wand sich mit aller Kraft, und es gelang ihr, ein Bein von dem Gewicht, das darauf lastete, zu befreien, indem sie ihre freie Hand als Hebel benutzte. Dann trat sie zu und traf jemanden, den sie nicht sehen konnte. Möglicherweise war es Sebastian, denn er stand direkt hinter Lilith. Seine roten Augen blinzelten, als ihr Fuß ihn traf.
Er weigert sich, etwas zu sich zu nehmen.
Gott sei Dank. Also besteht noch eine Chance.
Wieder bäumte sie sich auf und wand sich; doch dann legte sich erneut dieses schwere Gewicht auf ihre Beine. Hände strichen ihr die Haare aus dem Gesicht und hielten es straff zurück, sodass sich ihre Haut unter den skelettartigen Fingern spannte.
Dann rückte Lilith näher, und Victoria spürte, wie ihre Venen anschwollen, als die Fangzähne hervortraten, näher kamen und der heiße Atem über ihre Haut strich. Sie wehrte sich und sah dabei über den Kopf mit den kupferroten Haaren, der immer näher kam, hinweg. Der Blick der roten Augen, brennender roter Augen, die vor Verlangen glühten, zog sie in seinen Bann.
Nein, nicht Sebastian, bitte...
Die Fangzähne bohrten sich in ihr Fleisch, und sie zuckte wegen des plötzlichen Schmerzes zusammen, dann durchströmte sie diese schreckliche Lust. Das Blut sprudelte aus den Wunden, und sie spürte das widerliche Gefühl einer kalten und einer warmen Lippe, die an ihrem Fleisch saugten. Sie spürte Liliths warmen Atem, der über ihre Haut strich, ihren Körper, ihre Hände, die ihr Haar zur Seite schoben, ihren Kopf zur Seite neigten und dann festhielten, während Victoria sich unter ihr verkrampfte.
Victoria roch das Blut, und trotz des Banns, unter dem sie stand, erkannte sie das Verlangen, das plötzlich in Sebastians Augen zu sehen war. Sie sah sie schmal werden, sah das Flattern seiner Nasenflügel. Sein Gesicht besaß immer noch diese engelhafte Schönheit, die nur von den roten Augen getrübt wurde. Und von den schmalen Fangzähnen, die sich langsam in seine Unterlippe bohrten.
Nein.
Sie spürte, wie das Blut, aus ihrem Körper wich. Sie nahm all ihre Energie zusammen, ließ sie in ihren Bauch strömen und stellte sich vor, wie sie sich unter ihren beiden machtvollen Amuletten sammelte. Sie musste sich mit aller Kraft freikämpfen.
Bitte, lieber Gott.
Sie nahm all ihre Kräfte zusammen und schob die freie Hand unter sich, in ihre hintere Hosentasche. Vielleicht... Sie keuchte und hielt inne, als Lilith plötzlich fester saugte. Vage spürte sie, dass ihr Bewusstsein allmählich zu schwinden drohte.
Nein. Ich bin Illa Gardella.
Victoria zog die Hand wieder unter ihrem Körper hervor. Dabei bewegte sie sich so langsam, so schrecklich langsam, als befände sie sich unter Wasser, auf die beiden vis bullae zu, die sich unter ihrem zerrissenen Hemd befanden. Sie berührte das heilige Silber und spürte, wie plötzlich Kraft durch ihren Körper schoss. Sie holte tief Luft, verdrängte den Geruch von Blut, das Gefühl von Lippen auf ihrer Haut und kämpfte darum, den Bann der rot glühenden Augen zu brechen, die hinter Liliths Kopf brannten.
Das war nicht mehr Sebastian. Nicht der Sebastian, den sie kannte.
Wie Phillip.
Trotz ihrer Benommenheit, trotz des Banns, der sie lähmte, wallte Wut in ihr auf. Noch einmal bäumte sie sich mit aller Kraft auf. Es gelang ihr, die freie Hand unter ihre Hüfte zu schieben, um nach dem Pflock zu greifen, als Lilith sie auch schon wieder nach unten drückte. Es war ihre einzige Chance... Hatte der Dämon die Wahrheit gesagt?
Victorias Finger schlossen sich um den Pflock aus Eschenholz, den sie erst vor kurzem aus dem frischen Zweig eines Baumes vom Berg geschnitten hatte. Erleichterung durchströmte sie, als es ihr gelang, ihn aus dem Hosenbund zu ziehen. Die Rinde und die Spitze schürften ihre Haut weiter auf, die ohnehin schon wegen der vielen Schnitte blutete, als sie ihn mit Gewalt unter ihrem lang hingestreckten, niedergehaltenen Körper an der Hüfte hervorzog.
Sie schien Ewigkeiten dafür zu brauchen, und Victoria merkte, dass sie immer schwächer wurde, während ihr Blut ihren Körper verließ.
Dann hörte Lilith auf. Sie saugte noch einmal, ganz sinnlich zart, dann zog sie ihre Fangzähne zurück. Sie lehnte sich zurück und schaute Victoria an, deren Brust sich hob und senkte, als wäre sie gerade gerannt. Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Die roten Augen machten sie ganz benommen, und die drückende Hitze tat ihr Übriges. Sie spürte, dass etwas Warmes, das nach Eisen roch, über ihren Hals nach unten in die Schulterbeuge lief und dort vom Stoff aufgesogen wurde.
»Na bitte«, sagte Lilith mit heiserer Stimme und sah Sebastian an. »Siehe, wie ich sie für dich vorbereitet habe. Alle Kampfeslust ist aus ihr gewichen. Jetzt wirst du wohl nicht mehr zögern, dich an ihr zu laben.«
Er sagte nichts, aber durch den Schleier, der vor ihren Augen hing, sah Victoria das Verlangen und die Lust in seinen Augen. Seine Nasenflügel weiteten sich, als würde er den Duft des Blutes ganz tief einatmen, wie jemand, der tief Luft holte, und er atmete genauso schnell wie sie. Sein Mund, dessen Lippen so voll und sinnlich waren wie damals, als er sie umworben und verführt hatte, öffnete sich.
Nein.
Sie sprach ein letztes Stoßgebet, holte tief Luft und riss den Blick endgültig von Sebastians lockenden roten Augen los. Es war praktisch eine physische Trennung; sie spürte, wie sich die Verbindung lockerte, aber nicht vollständig löste, als sie sich ihm entzog. Der ununterbrochene Sog ließ nach. Die Hand mit dem Pflock hob sich fast wie aus eigenem Antrieb. Sie beobachtete die Bewegung aus der Distanz, als befände sie sich unter Wasser: langsam und verschwommen... bis die Spitze in das weiße Fleisch vor ihr stieß.
Lilith wich rechtzeitig zur Seite aus, sodass der Pflock sie nicht ins Herz traf, sondern sich nur tief in das weiche Fleisch über ihrem Schlüsselbein bohrte. Victoria schrie vor Verzweiflung auf, während die Vampirkönigin über ihr erstarrte.
Erstarrte und sich tatsächlich nicht mehr bewegte. Ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen, und ihre blutleeren Lippen teilten sich.
Der grüne Eschenpflock ragte aus ihrem Fleisch, und Victoria besaß noch so viel Geistesgegenwart, ihn wieder herauszureißen und ihn dann mitten ins Herz der Vampirkönigin zu stoßen.
Max strich sich die Überreste von Vampirasche von der Kleidung, steckte den Pflock in seine Hose und wandte sich wieder der Tür zu. Er zwängte eine Messerklinge unter das Metall und benutzte sie als Hebel, um die Tür aus den Angeln zu heben. Er schob und stemmte, und endlich gab das Messing stöhnend nach. Dann zog er die Tür auf, so schnell er konnte.
Die Leute strömten heraus. Es waren mehr als ein Dutzend, die völlig verängstigt mit leerem Blick herausstürmten.
»Hier entlang«, sagte Max, während er versuchte, nicht daran zu denken, was sich sonst noch in den Tiefen dieses Berges tat. Sie hat zwei, verdammt noch mal. »Schnell.«
Aber etwas machte ihm zu schaffen, nagte an ihm... Voller Ungeduld trieb er die Gefangenen aus ihrer Zelle. Viele von ihnen taumelten oder waren durch den Schock so benommen, dass sie gar nicht begriffen, was sie tun sollten. Während sie aus dem Raum strömten, machte ein Vampir den Fehler, um die Ecke zu kommen, weil er offensichtlich vor irgendeiner anderen Bedrohung davonrannte. Der Untote musste feststellen, dass Max' Pflock ihn aufgespießt hatte, ehe er überhaupt wusste, wie ihm geschah.
»Sind das alle?«, fragte Max einen der Männer, der nicht ganz so verwirrt wirkte.
»Ja«, gelang es diesem hervorzustoßen. »Aber die hier kann nicht laufen.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, warf Max sich eine wankende Frau mit glasigen Augen über die Schulter. »Hier«, sagte er und nestelte an dem Kruzifix, das er um den Hals trug. Er riss einmal kräftig an der schweren Kette und reichte sie dem Mann. »Halten Sie das vor sich, wenn Sie einen von denen sehen.«
Einer Frau gab er ein Fläschchen mit Weihwasser und ein zweites einem Mann. Im Nacken spürte er ein Frösteln, das das Kommen weiterer Untoter ankündigte. Die Menschen, die ursprünglich auf der Speisekarte der Vampire gestanden hatten, bogen in den Gang ein, und er hörte sie schreien und kreischen, als er um die Ecke kam.
Die Zelle im Rücken, die ganze Last einer bewusstlosen Frau auf der Schulter und vor sich wieder ein wildes Getümmel.
Mit dem Pflock in der Hand drängte er sich durch die verängstigte Menge, die angesichts dreier großer Vampire, welche den Gang versperrten, stehen geblieben war. Verflixt und zugenäht.
»Gießt das Wasser über sie!«, brüllte er, während die Leute vor den Vampiren zurückwichen. Doch während er versuchte, sich durch die Menge zu drängen, begann diese ihm in wilder Panik entgegenzustürmen, und dann merkte er auch noch, wie die Frau auf seiner Schulter wieder zu sich kam und anfing, sich gegen ihn zu wehren. Die Vampire stürzten sich mit aufgerissenen Mündern und brennenden Augen den Leuten entgegen, sodass diese zurückwichen und Max dabei fast umrissen.
Zur Hölle noch mal. Verdammte Idioten.
»Lasst mich durch«, brüllte er, doch in der allgemeinen Panik hörte ihn keiner.
Er konnte die Frau nicht absetzen, weil sie sofort niedergetrampelt worden wäre, doch sie behinderte ihn arg in seinem Vorankommen. Und jetzt wehrte sie sich auch noch heftiger gegen ihn; wie eine wild gewordene Katze schlug sie auf seinen Rücken ein, der ohnehin schon völlig wund von Krallen und Klauen war.
Und dann war da auch noch das fast übermächtige Bedürfnis, Victoria zu finden.
Er schob die Frau einem Mann in die Arme, der neben ihm stand, und befahl ihm mit scharfer Stimme: »Halten Sie sie fest!«
Dann drängte er sich durch die wogende Menge, stieß Leute zur Seite, damit sie ihn durchließen. Warum ging es nicht in ihre verbohrten Köpfe, dass er da war, um ihnen zu helfen?
Als er bei den drei Vampiren vorne ankam, sah er Brims hohe, dunkle Gestalt hinter ihnen auftauchen.
»Wo ist Victoria?«, rief Max und schaute dabei den Untoten kaum an, den er mit seinem Pflock attackierte. Die ihn plötzlich einhüllende Aschewolke sagte ihm, dass der Pflock sein Ziel getroffen hatte, während er Brims Blick suchte.
Brim pfählte einen zweiten Untoten von hinten, wobei er die Lippen vor Sorge aufeinanderpresste. »Ich dachte, sie wäre bei dir.«
Max erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde. »Übernimm den hier«, sagte er und schob den letzten Untoten Brim entgegen, der diesen ohne zu zögern erledigte, ehe Max auch nur an ihm vorbeigeeilt war.
Er redete beruhigend auf sich selber ein, während er losrannte. Es würde alles in Ordnung sein mit ihr. Es musste einfach.