Kapitel 15

Unsere Heldin zwischen Patsche und Dilemma

 

Als Victoria es endlich geschafft hatte, sich von Sebastian loszureißen, war schon alles vorbei.

Wütend und wie betäubt schob sie ihn weg, während sie voller Entsetzen war, was ihr entgangen sein könnte. Sie ahnte zwar, warum er es getan hatte: um zu verhindern, dass sie mit eigenen Augen sah, wie ihm der Todesstoß versetzt wurde.

Doch wie konnte er nur?

Brim und Michalas waren aufgesprungen, während sie mit Sebastian rang, und standen jetzt zwischen ihr und dem Eisengitter. Ihre Beine waren ganz wackelig, aber trotzdem stand sie auf und zwang sich dazu, nach vorn zu treten. Deshalb und weil sie einfach nicht glauben konnte, dass es vorbei war, dauerte es etwas, bis sie den Geruch erkannte. Asche. Untote Asche.

Dann klirrte das Eisengitter, und plötzlich war Max da.

Er stand aus eigener Kraft, verschwitzt, voller Blessuren und Blut, aber er stand. Aus eigener Kraft. Groß, beeindruckend, blutüberströmt und mit noch nicht einmal einem Anflug der Erschöpfung, die sie bei ihm bemerkt hatte, als er in den Raum hereingekommen war. Gott sei Dank.

Der Vampir hatte sich aufgelöst, seine Asche schwebte noch in der Luft, und Max hielt einen Pflock in der Hand. Nicht den langen schwarzen, den er mitgebracht hatte, sondern einen kürzeren.

Mit dem hatte er dem Vampir offensichtlich den Todesstoß versetzt.

Erleichterung und Freude erfassten sie, und sie drängte sich an Brim und Michalas vorbei, um an Max' Seite zu gelangen.

Doch er sah Victoria nicht an, außer als sein Blick zufällig über sie glitt, als er ihn auf Wayren richtete.

»Du hast es geschafft«, sagte die blonde Frau zu Max. »Herzlichen Glückwunsch.«

Er nickte, und ein Lächeln, das seine Erleichterung zeigte, erhellte sein Gesicht. Sie reichte ihm einen Becher, aus dem er einen langen Schluck nahm.

Victoria beobachtete, wie ein bisschen Wasser über seinen Kiefer, den Hals hinunter bis zu seiner schweißnassen, blutigen Brust rieselte. Als er fertig getrunken hatte, gab er den Becher Wayren zurück und ließ sich ein Tuch geben.

Er sah sie nicht an.

Victoria stand da, genau vor ihm, und er wich ihrem Blick aus. Ja, ließ ihn noch nicht einmal kurz über sie schweifen.

Sie trat zurück, und all ihre Freude und Erleichterung darüber, dass er es geschafft hatte, verwandelten sich in Verwirrung und Schmerz. Ihr Mund wurde ganz trocken, und wieder kam die Wut auf Sebastian in ihr hoch. Er hatte sich entfernt und hinter die anderen zurückgezogen, als würde er sich für das, was er getan hatte, schämen. Was nur recht und billig war.

Was hatte Max gesehen, als der Vampir sich auf ihn stürzte, um ihm den Garaus zu machen? Wie sie in Sebastians Armen lag - ob nun freiwillig oder nicht, hatte er nicht wissen können.

Es wäre das Letzte gewesen, was er sah. Was dachte er? Dass sie sich in Sebastians Arme gestürzt hatte, als es so aussah, als wäre alles vorbei?

Victoria spürte, wie Wut in ihr hochkam. Auf beide.

Max lächelte eigentlich nicht richtig, aber die Linien um seinen Mund und die Augen hatten sich ein bisschen entspannt, und auch wenn er sie nicht ansah, spürte Victoria die Kraft und ein neu erstarktes Selbstwertgefühl bei ihm. Sie erkannte, ohne es gesagt zu bekommen, dass er die Kraft, die einem die vis bulla verlieh, zurückgewonnen hatte.

Aber er hatte die Prüfung doch gar nicht beendet. Wie konnte das also sein?

Die zarte Hoffnung, die in ihr gekeimt war, verflüchtigte sich. Der letzte Teil der Prüfung stand noch aus, in welchem die vis erst in Weihwasser, dann in das Blut des Vampirs getaucht wurde, um schließlich in den Körper des zukünftigen Venatoren gestochen zu werden.

Aber dann bekam sie mit, wie Max sich mit Brim und Michalas unterhielt und gerade dabei war zu erklären. »Ylito meinte auch, dass ich versuchen sollte, Vampirblut während des Kampfes auf die vis zu reiben... und es hat funktioniert.«

»Ich hatte gesehen, dass du kurz vorher Weihwasser auf die vis geträufelt hast«, erwiderte Brim. »Mir war gar nicht klar, wofür das sein sollte.«

»Du hast also deine alten Kräfte und Fähigkeiten wieder zurück?«, fragte Michalas.

Max nickte. »Voll und ganz.« Er schüttete sich Wasser über den Kopf, wischte über sein mit dunklen Bartstoppeln bedecktes Gesicht, um sich dann den Rest Wasser auf die Brust zu kippen. Dabei sah er kein einziges Mal in Victorias Richtung.

Trotz Wut und Verwirrung biss sie sich auf die Unterlippe, als sie das vertraute Kribbeln in ihrem Bauch spürte. Sie beobachtete, wie er sich mit einem Handtuch trocken rieb, wobei er viel Dreck und Blut wegwischte. Deutlich war das geschmeidige Spiel der Muskeln unter der Haut zu sehen, die jetzt vom Wasser glänzte.

Als er das saubere Hemd nahm, das Wayren ihm reichte, war da wieder dieser ganz kurze, zufällige Blick zu Victoria. Er verweilte kaum, und wäre da nicht diese Ausdruckslosigkeit in seinen Augen gewesen, mit der sie rechnete, nachdem er sie und Sebastian dabei gesehen hatte, wie sie einander in den Armen lagen...

Ein unpersönlicher Blick, als würde er sie nicht kennen.

Keine Wut, dass sie zu einem anderen übergelaufen war. Sondern gar keine Gefühle.

Plötzlich kam ihr ein beängstigender Gedanke, und sie sagte doch nichts. Als er vor ein paar Monaten seine Venatorenkräfte verloren hatte, war das auch mit dem Verlust seiner Erinnerung einhergegangen. Doch Ylitos Weitblick hatte dafür gesorgt, dass sie fast sofort zurückgekommen war.

Bestand die Möglichkeit, dass er einen Teil seiner Erinnerung verloren hatte, nachdem er wieder im Besitz seiner Venatorenkräfte war?

Nein. Natürlich nicht. An alle anderen schien er sich schließlich auch zu erinnern.

Victoria wäre fast nach vorn getreten, als sich ihr Schmerz in Ärger verwandelte. Sie war Illa Gardella. Sie konnte etwas zu ihm sagen und ihn dazu bringen, ihr zu antworten... aber dann tat sie es doch nicht.

Sie würde sich nicht hier, vor allen anderen, der Möglichkeit aussetzen, die ganze Heftigkeit seiner Verachtung zu spüren zu bekommen. Ihre bebenden Finger und eine leichte Übelkeit sagten ihr, dass sie im Moment nicht die Kraft dafür hatte.

Deshalb zog sie sich, von Sebastians Tat und Max' kühler Distanz aus dem Gleichgewicht gebracht, in sich selbst zurück und blieb für ihre Verhältnisse ungewöhnlich still, als sie das leer stehende Gebäude verließen.

Der Mond stand hoch und rund am Himmel und tauchte die cremeweißen Gebäude in ein silbrig-bläuliches Licht, welches die bei Tage roten Dächer schwarz erscheinen ließ, als sie wieder auf ihre Pferde stiegen. Victoria ritt neben Brim und Sebastian, während Max und Wayren, die sich leise miteinander unterhielten, etwas zurückblieben. Michalas bildete die Nachhut.

Irgendwie gelangten sie zum Gasthof zurück, in dem sie Zimmer gemietet hatten. Den ganzen Weg über wechselte Victoria kein einziges Wort mit Max. Sie könnte sich nur mit eigenen Augen davon überzeugen, dass er unter all dem Dreck und Blut wieder ganz hergestellt war.

Aber eigentlich gab es gar nichts, was sie ihn fragen wollte. Sie hatte es schon in seinen Augen gelesen und in seinem Verhalten erkannt. Ihre anfängliche Erleichterung über seinen Erfolg wandelte sich allmählich in Bestürzung. Hatte Sebastians Verhalten ihre Beziehung zu Max wieder an den Punkt zurückgeführt, wo sie vor zwei Wochen gewesen waren?

Das Unterbringen und Versorgen der Pferde verlief schnell und ohne Probleme. Am Rande bekam Victoria mit, dass darüber gesprochen wurde, zu essen, zu trinken und zu feiern, und über die Notwendigkeit, am nächsten Morgen früh nach Muntii Fagaras aufzubrechen. Doch es war ihr egal. Sie lief einfach nur still mit, als sie über den kleinen Hof zur Tür des Gasthofes strebten, und überlegte dabei, ob sie nun wütend, froh oder einfach nur verletzt sein sollte.

Als sie gerade alle eingetreten waren, schlüpfte Max hinter Victoria und packte ihren Arm. Fest.

Überrascht drehte sie sich um, aber obwohl seine Finger fest um ihren Unterarm lagen, sagte er nichts. Er schaute sie noch nicht einmal an. Sondern Sebastian.

Es ging alles ganz schnell. Die beiden Männer wechselten einen Blick, ein kurzer, schweigender Austausch, und im nächsten Moment wurde eine Tür geöffnet und sie von Max in das Zimmer gezerrt. Sie besaß die Geistesgegenwart, es als den Raum wiederzuerkennen, den sie und Sebastian mit Antonin bewohnt hatten.

Max schloss die Tür und schob den Riegel mit einem lauten Knall zu, während er immer noch ihren Arm festhielt. Wut stieg in ihr hoch, und sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, während sie versuchte, sich seinem Griff zu entwinden — aber er war zu stark, und er nutzte den Schwung ihrer fruchtlosen Bemühungen, um sie herumzureißen.

Und im nächsten Moment wurde Victoria von Max' kräftigem Körper gegen die nackte Wand gedrückt, während er ihren Mund mit seinen Lippen bedeckte. Schließlich ließ er ihren Arm los und umfasste ihren Kopf mit beiden Händen. Dabei schmiegte er sich vom Mund bis zur Brust, von der Hüfte bis zu den Schenkeln an sie. Dann schob er ein Bein zwischen ihre Schenkel, sodass sie sich keinen Zentimeter mehr von der Stelle rühren konnte.

Es dauerte nur eine Sekunde, bis Victoria verstand und auch Körper und Geist begriffen. Dann schloss sie die Augen und ließ sich gegen ihn sinken, sodass sie von seiner Wärme, seinem Geruch und seiner Kraft umhüllt wurde. Max war zurück.

Nach einem langen, leidenschaftlichen Kuss ließ er so weit von ihr ab, dass sie Luft holen konnte. Er umfasste ihre Handgelenke und zog ihre Arme weit über ihren Kopf, während er sie weiter mit den Hüften und seinem Bein zwischen ihren Schenkeln an die Wand drückte.

Eine köstliche Benommenheit hatte sich bei seinem unerwarteten, stürmischen Angriff in ihr ausgebreitet. Sie blinzelte und merkte, dass sie so schwer atmete, als würde sie sich gerade einen Schwertkampf liefern. Ihre Lippen pochten, ihr Gesicht brannte von seinen Bartstoppeln, und sein Körper, der sich so fest an sie drückte, ließ keinen Zweifel daran, wie sehr er sie begehrte.

Auch er atmete schnell und unregelmäßig, die vollen Lippen waren leicht geöffnet, und das feuchte Haar umspielte wellig seine unrasierten Wangen. Er sah nach unten, und ihre Blicke begegneten sich.

Und in seinen dunklen Augen sah sie alles, was sie sehen musste.

»Wage ja nicht aufzuhören«, drohte sie. »Sonst bringe ich dich höchstpersönlich um.«

Als hätte er diese Bestätigung von ihr gebraucht, leuchteten seine Augen noch leidenschaftlicher, und seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen, das ihren Bauch ganz schwer und den Mund trocken werden ließ.

Max' Wildheit wandelte sich jetzt in sehnsuchtsvolles, bedächtiges Werben. Er ließ ihre Handgelenke los, drückte sich gleichzeitig aber wieder fester an sie, während er ihren Kopf mit einem weiteren überwältigenden Kuss gefangen hielt. Gleichzeitig begann er an der Kleidung, die sie voneinander trennte, zu zerren.

Er zog an dem Knopf, der den Kragen ihres Herrenhemdes schloss, bis er sich löste und über den Boden kullerte. Seine Finger glitten in den Ausschnitt, und er spürte die Wärme ihrer Haut an seiner Hand, als er an den Binden zog und zerrte, mit denen sie ihren Busen band, wenn sie Männerkleidung trug.

Wahrend ihr Hemd und die Streifen in Fetzen zu Boden segelten, fuhr sein Mund unablässig über ihre Lippen, ihre Wange, ihren Kiefer... und sogar zu der zarten Stelle unter ihrem Ohr.

Der süße Schmelz des Verlangens durchströmte sie vom Bauch bis in die Glieder. Wärme und Erleichterung zusammen mit wachsender Begierde und drängender Lust ließen sie leise seufzen. Gefesselt von seinem Kuss spürte sie, wie seine Hände nach oben glitten und sich über ihre Brüste legten. Seine Daumen huschten kurz über die harten Knospen, um dann kurz innezuhalten und die Spitze gerade fest genug zu streicheln, dass sich ein noch herrlicheres Kribbeln in ihrem Bauch und weiter unten ausbreitete. Dann packte er wieder ihre Handgelenke und hielt sie mit einer Hand über Kreuz über ihrem Kopf fest, sodass ihre Knöchel über den rauen Putz scheuerten.

Die andere Hand glitt nach unten und mit schnellen, gewandten Fingern unter den losen Bund ihrer Hose. Er brauchte nur ein paarmal mit geschickter Hand das feuchte Fleisch zu reiben, und schon erreichte sie, immer noch an der Wand stehend, ihren Höhepunkt. Zitternd schmiegte sie sich an ihn, spürte, wie sich seine Wange an ihrem Gesicht verzog, als er in ihrer Halsbeuge lächelte... vor Befriedigung zweifellos.

Es war ihr egal. Alles war ihr egal, vor allem, als diese langen, eleganten Finger die drei Knöpfe an ihrer Hose öffneten. Ohne diesen Halt rutschte die Hose nach unten, und er half noch nach. Gleichzeitig merkte sie, dass sie angefangen hatte, an seinem Hosenbund zu zerren.

Er hob sie hoch, und sie legte ihre Beine um seine Taille, wobei der raue Putz über ihren Po kratzte, als er sie in die richtige Position brachte. Und dann stieß er tief in sie hinein... hielt inne, drückte sie gegen die Wand und in sie hinein, um die herrliche Lust in die Länge zu ziehen, während ihrer beider Atemzüge das Einzige waren, was man in der Stille hörte.

Dann nahm er ihre Hand und drückte sie an seine Brust, wobei er ihre Finger um seine vis bulla legte, die von seiner Haut ganz warm war. Sie spürte die Kraft, die davon ausging, und überrascht bemerkte sie, wie ihre Lust noch zunahm, sodass sie leise keuchte. Sein Mund, der vor Selbstbeherrschung angespannt war, verzog sich zu einem schnellen Lächeln. Und dann schob er mit einem tiefen Blick in ihre Augen seine Finger zwischen ihre Bäuche, um seine Hand auf ihre beiden Amulette zu drücken.

Pures Verlangen raste durch ihren Körper, und sie riss den Kopf hoch, um in seine dunklen, wissenden Augen zu sehen. »Lass nicht los«, flüsterte er.

Lächelnd schloss er die Augen und begann sich endlich wieder zu bewegen. Es waren lange, tiefe, befriedigende Stöße, die sich mit der Kraft, die aus den Amuletten strömte, vereinten. Sie schrie leise an seiner Schulter auf, als sie den Höhepunkt erreichte, und spürte, wie er den Atem anhielt, als er sich ein letztes Mal bewegte und dann bebend an sie geschmiegt innehielt.

Ihre Atemzüge vermischten sich, und ihre heißen, feuchten Körper drückten sich aneinander, während die Lust sie leise beben ließ. Sie lächelte innerlich und hielt den Kopf an seinem Hals vergraben. Max. Endlich.

Schließlich zog er sie ganz eng an sich und von der Wand ab, wobei er seine großen Hände auf ihre nackte Haut legte, die vom Putz ganz sandig war. Max half ihr, wieder festen Boden unter den Füßen zu finden, und strebte mit ihr Richtung Bett. Sie wollte ihm gar nicht erst die Möglichkeit geben, wieder das Weite zu suchen — wer wusste schon, was in seinem Kopf vorging? Denn für sie sah es so aus, als wäre es für ihn einfach nur die Möglichkeit gewesen, Sebastian für sein gemeines Verhalten auf seinen Platz zu verweisen.

Nein. Das glaubte sie nicht. Sie hatte den Blick in Max' Augen gesehen, der Blick, der schon einmal dort gelodert hatte, als er sie unversehrt wieder aus Liliths Grube hatte herauskommen sehen. Und trotzdem...

Er warf sie aufs Bett, ein schmales, schäbiges Ding, und stand dann einen Moment lang vor ihr. Max musterte sie mit einem Blick, der wieder völlig unergründlich war, und sie dachte: Jetzt ist es so weit. Jetzt wird er irgendeine Ausrede finden, sich auf seine Pflicht berufen, Lilith anführen...

»Victoria«, sagte er mit heiserer Stimme. Sie wappnete sich bei seinem Tonfall, machte sich bereit. Doch statt etwas zu sagen, kam er zu ihr aufs Bett, stützte sich mit den Händen auf beiden Seiten von ihr ab und drückte sie auf die Decke. Und dann küsste er sie.

Seine Lippen glitten über ihren Mund; weich und sinnlich jetzt, wobei er die Konturen ihrer Lippen so sanft und gründlich erforschte, als würde er weichen Ton formen. Sie konnte kaum atmen, der Kuss war so herrlich: lang anhaltend, ein Verschmelzen von Lippen und Zunge, Zähne, die gegeneinanderstießen, und ein zartes Saugen. Er schien überhaupt kein Ende nehmen zu wollen, und ihre Welt geriet in einen Wirbel, in dem alles Denken sich nur noch um diese Sinneserfahrung von zartem Mund an zartem Mund drehte.

Eine ganze Weile später bewegte er sich. Er drückte sich mit einem Knie hoch und ließ seine freie Hand an ihrem Hals nach oben in ihr Haar gleiten, um ihren Kopf noch dichter an sich zu ziehen. Dann ließ er von ihrem Mund ab. »Vielleicht hätte ich zuerst ein Bad nehmen sollen, aber« — er küsste sie wieder — »ich hatte wirklich keine Lust, noch länger auf dich zu warten.«

Victoria hätte vor Erleichterung fast gelacht. Erst jetzt begriff sie, dass das, was sie vorhin, nach ihrem leidenschaftlichen Spiel an der Wand, in seinen Augen gesehen hatte, nicht Unsicherheit gewesen war. Oh nein, Max wusste eigentlich gar nicht, was das für ein Gefühl war. Vielmehr war es wohl eher ein leichtes Bedauern oder Unbehagen gewesen, sie auf so grobe Art und Weise genommen zu haben.

Sie kam hoch, kam ihm mit ihren Lippen auf halbem Wege entgegen. Mit ihrem Kuss sagte sie ihm, dass das für sie unwichtig war, dass sein verschwitzter, männlicher Geruch und sein feuchter, heißer Körper Geborgenheit für sie bedeuteten. Geborgenheit und Zuflucht.

Und sie wollte mehr davon.

Sebastian beobachtete, wie sich die Tür des Zimmers, das er mit Victoria - und Antonin — geteilt hatte, schloss, und wandte sich ab. Michalas und Brim schienen nur etwas überrascht und amüsiert darüber, dass Max Victoria in das Zimmer gezogen hatte, und nahmen gar nicht die unterschwelligen Emotionen wahr.

Doch Wayrens allwissende hellblaue Augen hielten kurz seinen Blick fest.

Er wandte sich ab, doch den Ausdruck, der darin lag, hatte er trotzdem wahrgenommen: die Scharfsichtigkeit und vielleicht sogar ein bisschen Befriedigung. Vielleicht.

Was er nicht gesehen hatte, waren Missbilligung oder irgendeine andere Wertung. Zumindest nicht bei Wayren.

Davon hatte Victoria ihm genug mit ihren wütenden Blicken gegeben, und seitdem war sie ihm ausgewichen. Leider. Vielleicht würde sie ja eines Tages verstehen, was er ihr außer einem langen, leidenschaftlichen Kuss gegeben hatte.

Und Pesaro. In diesem kurzen, abschätzenden Blick, ehe er mit Victoria im Zimmer verschwand, hatte sowohl Verständnis als auch eine Warnung gelegen. Verständnis für Sebastians Gründe, die ihn zu der dreisten Handlung gebracht hatten — aber natürlich kein bisschen Dankbarkeit. Und auch eine Warnung.

Die Warnung war unnötig gewesen.

Sogar jetzt wollte Sebastian angesichts der Arroganz des Mannes vor Wut schnauben, doch das Verlangen ließ nach und machte einem Gefühl der Leere Platz. Nachdem Pesaro in die Schar der Venatoren zurückgekehrt war und sein Territorium abgesteckt hatte, würde es eine lange Reise nach Muntii Fagaras werden, um die letzten beide Ringe zu holen.

Mit dem Gedanken verschaffte er sich die Ablenkung, die er brauchte. War Max' Rückkehr in den Kreis der Venatoren ein Segen oder ein Fluch, wenn sie es mit Lilith zu tun bekamen?

»Erzählst du mir, was passiert ist?«, fragte Victoria, während sie hinter Max kniend seine breiten Schultern einseifte.

Das dringend benötigte heiße Bad hatten sie schon vor einer ganzen Weile bestellt, und obwohl er sich mit einem lauten Seufzer im dampfenden Wasser niedergelassen hatte, wurde sie immer noch von dem Bedürfnis beherrscht, ihn anzufassen. Für sie gab es nichts Schöneres, als das Gefühl warmer männlicher Haut, die nass war und nach Zitronen-Rosmarin-Seife duftete.

Er drehte den Kopf, um sie anzusehen. »Du bist noch nicht von selbst darauf gekommen?«

»Offensichtlich hattest du irgendetwas geplant, denn du hast dir mindestens fünfmal die Gelegenheit entgehen lassen, ihn zu pfählen«, erwiderte sie verschmitzt. »Und ich weiß jetzt auch, dass du die Prüfung beenden wolltest, indem du die vis bulla, die du bereits trugst, mit Blut in Berührung brachtest. Aber warum? Du hättest den Vampir doch mit ein oder zwei Stößen erledigen können, statt dabei selber fast umgebracht zu werden.«

Max schnaubte. »Fast umgebracht? Du irrst dich. Es bestand überhaupt keine Gefahr, dass ich von diesem Vampir getötet werden könnte, Victoria. Ich wusste genau, was ich tat. Ich musste dafür sorgen, dass Blut auf die vis kam, den Ring in meiner Haut weiter reinschieben und dann darauf warten, dass meine Kraft zurückkehrt. Es hat nur etwas länger gedauert als erwartet.«

»Nun, es sah so aus, als...«

»Und so etwas kann ja wohl täuschen, nicht wahr? Wo wir gerade davon sprechen: Viogets - äh — sagen wir... zusätzlicher Anreiz, damit ich nicht aufgebe, war völlig unnötig.«

Victoria ließ sich auf die Absätze zurückfallen, sodass ihr ganzer Schoss nass wurde und Wasser ihre Arme herunter in die aufgekrempelten Ärmel des Hemdes lief, das sie wieder angezogen hatte. »Ich hatte eigentlich gehofft, dass du zu abgelenkt sein würdest, um es zu sehen.«

»Aber ich sollte es doch sehen. War das nicht der Sinn und Zweck des Ganzen?«

»Nicht von meiner Seite.«

»Nein, nicht von deiner Seite, aber aus meinem Blickwinkel wirktest du nicht übermäßig verärgert über sein Tun. Ich weiß, warum er es getan hat. Er besaß die Frechheit zu denken, ich brauchte seine Hilfe.«

Bei jedem anderen Mann hätte das nach zur Schau gestellter Tapferkeit geklungen, doch bei Max kam dieser Gedanke gar nicht erst auf.

Ehe sie darauf etwas erwidern konnte, tauchte Max vollständig mit dem Kopf unter Wasser. Dadurch schauten seine Knie und ein großer Teil seiner kräftigen Beine aus dem ovalen Badebottich.

Als er wieder auftauchte, schwappte eine kleine Welle über die Kanten, sodass wieder der Duft von Rosmarin und Zitrone in der Luft hing. Sein Haar lag glatt nach hinten und ließ sein frisch rasiertes Gesicht frei. Nur die Spitzen klebten seitlich und hinten am Hals.

»Ich war wütend auf Sebastian«, sagte sie. »Ich wollte nicht, dass du denkst... nun ja.«

Max drehte sich in der Wanne zu ihr um, sodass wieder Wasser überschwappte. »Ich wusste, dass du drei Tage mit ihm verbracht hast, während ich in der Teynkathedrale war, Victoria. Und er ebenso.«

»Es ist nichts passiert.«

»Natürlich ist nichts passiert.«

»Warum hast du mich dann noch nicht einmal angeguckt, als du zur Prüfung hereinkamst? Und danach? Besonders danach. Du hast so getan, als würde es mich gar nicht geben.«

Max' Blick war eine Mischung aus Mitleid und Befriedigung. »Das hat dich gestört, nicht wahr? Die Wahrheit ist, Victoria, dass ich vor dem Kampf nicht abgelenkt werden durfte. Du solltest das als Erste verstehen. Und danach... nun ja« — er zog in der ihm eigenen arroganten Art die Augenbraue hoch —, »ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis ich dich da hätte, wo ich dich haben will. Es war also nicht nötig, sich nach der Prüfung liebeskrank anzuschmachten oder sich unter Tränen zu umarmen. Ich hatte andere Dinge im Kopf.«

Sie musste schlucken, als sie seine Augen wieder auflodern sah. Offensichtlich hatte er jetzt auch wieder andere Dinge im Kopf.

»Max«, sagte sie und beugte sich über die Kante des Bottichs, »ich bin so froh, dass du es überstanden hast. Und wieder ein Venator bist - aus dem einzigen Grunde, weil es dafür sorgt, dass du so bleibst, wie du bist.«

Er gab ihr einen schnellen Kuss, doch dann pressten sich seine Lippen zum schon vertrauten schmalen Strich zusammen. »Du weißt, dass auch Lilith froh darüber sein wird.«

Sie hatte das Gefühl, als wäre ein Eimer mit eiskaltem Wasser über ihr ausgekippt worden. Lilith gefiel es besser, wenn Max ein Venator war. Sie behauptete, dass es dadurch viel interessanter wäre, ihn zu unterwerfen. »Du wirst nicht wieder verschwinden, ja? Mich unter dem Vorwand verlassen, du wolltest mich beschützen?«

»Victoria, du weißt, dass das hier« — mit seiner Armbewegung umfasste er den Raum, die verstreuten Kleider auf dem Boden und sie — »nicht bedeutet, dass sich irgendetwas geändert hätte.«

»Doch, das hat es«, erwiderte sie scharf. »Du bist wieder ein Venator, Max, und du hast deine dir so kostbare Verpflichtung zurück. Aber die Dinge haben sich geändert...«

»Ich meinte damit«, sagte er und übertönte sie mit seiner Lautstärke, »dass sich draußen nichts geändert hat. Die Welt ist immer noch die gleiche.« Wieder bewegte er sich, und erneut schwappte Wasser über. Wenn das so weiterging, würde Victoria bald genauso nass sein wie er.

Sie beruhigte sich ein bisschen, bedachte ihn aber immer noch mit einem misstrauischen Blick. »Max, du musst mir versprechen, nie wieder einfach zu verschwinden.«

»Das werde ich dir nicht versprechen, Victoria.«

Sie wandte sich ab, weil sie selbst erschrocken war über die Tränen, die ihr plötzlich in die Augen stiegen, und den stechenden Schmerz in ihrem Bauch. Sie wollte etwas erwidern, traute aber ihrer Stimme nicht.

»Victoria«, sagte Max mit etwas sanfterer Stimme, »du kannst so ein Versprechen auch nicht geben. Die Zukunft könnte alles Mögliche von uns verlangen, und was für einen Sinn hat es, Versprechungen zu machen, die wir vielleicht gar nicht einhalten können?« Er streckte die Arme nach ihr aus und zog sie gebieterisch an sich, sodass sich die Kante des Bottichs in ihre Rippen bohrte. »Dir soll nichts passieren, Victoria, eher würde ich sterben. Verstehst du das?«

Sie entwand sich seinem Griff, blieb aber neben der Wanne hocken. »Damit würdest du es dir leicht machen, Max. Sterben, und die anderen leben weiter. Allein.«

»Hatte ich nicht bereits gestanden, dass ich ein Feigling bin, wenn es um dich geht?«

Sie sah ihn an, sah den düsteren Ausdruck auf seinem Gesicht: die straff gespannte Haut über den hohen Wangenknochen, nicht mal der Anflug von Weichheit in seinen Augenwinkeln. Sein Mund, der eben noch voll und sinnlich gewesen war, bildete jetzt eine verkniffene Linie.

Doch wie sehr es sie auch schmerzte, das, was er dachte, in Worte gefasst zu hören, so wusste sie doch auch, dass er Recht hatte. Erst Tante Eustacia und später Max sagten ihr seit zwei Jahren, dass die Pflicht vor persönlichen Wünschen und Entscheidungen zu stehen hatte. Das Wohl der Allgemeinheit kam immer vor der Sicherheit oder Liebe für ein paar wenige. Das musste so sein.

Es gehörte dazu, wenn man ein Venator war, und es galt insbesondere für Victoria, die Illa Gardella war. Trotz der Liebesaffäre, die sie über fünfzig Jahre mit Kritanu verbunden hatte, war dies Tante Eustacia völlig klar gewesen. Das war der Grund, weshalb sie Max befohlen hatte, sie zu töten.

Aber wenn ich dich hätte umbringen müssen? Ich hätte es nicht tun können. Verstehst du? Ich hätte es nicht tun können. Davor habe ich Angst, Victoria. Dass ich vor so eine Wahl gestellt werde.

Und wenn sie auch nur ein bisschen Verstand besaß, sollte sie vor der gleichen Sache Angst haben.

Keiner von beiden hatte mehr gesprochen, und nur das leise Plätschern des Wassers und die Tropfen, die in unregelmäßigen Abständen herunterfielen, waren zu hören. Dann bewegte Max sich, zog Victoria samt Hemd und allem über den Rand des Bottichs auf seinen Schoss und schlang die Arme um sie, während das Wasser sie in eine sanftere Umarmung zog.

»Du wirst nicht mit jeder meiner Entscheidungen einverstanden sein«, erklärte er. »Und der Himmel weiß, dass ich nicht alles gut finden werde, was du tust. Aber ich weiß, dass du selbst auf dich aufpassen kannst, Victoria. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, auch wenn mir das Herz in die Hose gerutscht ist, als ich dich zum Beispiel beim Kampf gegen Nedas vom Dach heruntersegeln sah. Und auch bei anderen Gelegenheiten.«

Das warme Wasser spülte leicht über ihr Baumwollhemd, und Victoria lehnte sich an ihn, während sie das Gesicht an seinem feuchten Hals barg, sodass sie den frischen Rosmarinduft an seinem Kiefer riechen konnte. »Dir ist das Herz in die Hose gerutscht?«, fragte sie lächelnd und schob die Finger in das feuchte Haar auf seiner Brust. Sie hob seine vis bulla, und die Kraft schoss wie ein Stoß durch sie hindurch.

»In der Tat. Mehr als einmal.«

»Wann denn noch?«

Er rückte sie seitlich auf einen seiner Schenkel zurecht, sodass er die Bänder an ihrem Hemd aufziehen konnte. »Als du an jenem ersten Abend in Rom plötzlich unerwartet bei Regalado erschienst.«

»Wusste Sara damals bereits, wer ich bin?« Der Baumwollstoff klebte an ihrem Körper, und sie richtete sich etwas auf, damit Max ihr das Hemd über den Kopf ziehen konnte. Es landete mit einem feuchten Platschen auf dem Boden.

»Das nehme ich nicht an. Sie wusste natürlich über Eustacia Bescheid und dass es Gerüchte über einen weiteren weiblichen Venator gab. Aber da du nach Rockleys Tod ein ganzes Jahr getrauert hattest, war das Gerede in der Tutela und unter den Untoten immer weniger geworden.«

»Du bist damals so kalt und wütend aufgetreten, dass ich nicht wusste, was ich davon halten sollte. Sogar später hast du immer den Anschein erweckt, du wärest ein Mitglied der Tutela.«

»Mit dir hatte ich als Allerletztes gerechnet, als Sara dich plötzlich als ihre neue Freundin vorstellte.« Seine Finger waren in der Zwischenzeit wieder aktiv geworden, und sie spürte, wie erneut Verlangen in ihr aufstieg, als er sich über eine ihrer Brüste beugte. Sie bewunderte seinen starken breiten Nacken und das volle dunkle Haar, das angefangen hatte zu trocknen. Seine Finger strichen über ihren Bauch und fanden die beiden Silberamulette in ihrem Nabel.

»Nun, das hast du damals aber gut verbergen können. Und wann noch?«, fragte sie schelmisch. »Als ich mich in der Kutsche umzog und du mir beim Aufschnüren meines Korsetts helfen müsstest? Ich weiß, dass du geguckt hast, Max. Gib es zu.«

Seine Zunge strich über die sensible Spitze ihrer Knospe, sodass sie vor Verlangen zusammenzuckte, um dann immer wieder im Kreis drum herum zu fahren. Sie seufzte und wölbte sich seinem Mund entgegen, während ihre Hand ins Wasser zwischen seine Beine glitt.

»Wann noch?«, fragte sie und schloss die Finger um ihn. Sie lächelte befriedigt, als er tief Luft holte.

»Hmm...«, sagte er und ließ seine Zunge auf ihrer Brust spielen, dann hob er den Kopf, um nachdenklich nach oben zu schauen. »Es war bei zu vielen Gelegenheiten. Und ich bin mir sicher«, fuhr er fort und hob sie plötzlich aus dem Wasser, »dass es noch viele weitere geben wird.«

Schnell und geschickt rückte er sie zurecht und glitt mit einer geschmeidigen Bewegung in sie. Alles, was sie noch hatte sagen wollen, löste sich in einem feuchten Sturm aus Lust und rhythmischem Geplätscher auf.