Kapitel 12
In dem Sebastian daran erinnert wird, dass es nichts Schlimmeres als die Hölle gibt
Die einzige Möglichkeit, Katerina den Ring abzunehmen, besteht darin, sie umzubringen«, erklärte Antonin umgänglich, der sich offensichtlich von dem unerwarteten Angriff der Dämonen erholt hatte. In seinem Gesicht waren Anzeichen von Wundheilung zu erkennen. Abgestorbene Hautteile fielen ab, und darunter kam rosiges Fleisch zum Vorschein.
Victoria saß auf der Bettkante und nahm einen Schluck Wein zu sich, ehe sie antwortete: »Ich rechne nicht mit Schwierigkeiten.«
Sie hatte sich mit Antonin außer Sicht- und Hörweite gehalten, während Sebastian ein Zimmer in einem kleinen Gasthof mietete, wo die drei sich jetzt eingefunden hatten, um zu übernachten. Der Vampir hockte sicher verschnürt in einer Ecke, schien aber äußerst gesprächig zu sein.
»Ich hätte nichts gegen etwas zu trinken einzuwenden«, meinte er gerade. »Vielleicht ein Handgelenk oder einen Arm?«
»Mach dich nicht lächerlich«, sagte Sebastian und schaute von einem gewellten Blatt Papier auf. Eine Strähne seines blonden Haars war ihm in die Stirn gefallen und erinnerte Victoria daran, dass er immer noch die Fähigkeit besaß, sie innerlich ganz weich werden zu lassen.
»Ich habe Durst. Könnte ich nicht zumindest etwas Wein haben, wenn Sie mir schon kein Handgelenk geben wollen? Sie könnten ja das Glas halten.« Seine Stimme bekam einen leicht winselnden Klang.
Victoria beachtete ihn nicht, sondern schaute zu Sebastian, während sie sich nicht zum ersten Mal fragte, was er wohl las. Er hatte den Papierstapel mehr als einmal während ihrer Reise hervorgeholt; manchmal sogar spätabends, wo er im Schein einer einzelnen Kerze über ihm gebrütet hatte, während sie und Max so taten, als würden sie einander nicht beachten.
Oder zumindest sie tat so. Sie wusste nicht, ob für Max das Gleiche galt.
»Sie lässt sich nicht so leicht umbringen«, meldete Antonin sich wieder beharrlich zu Wort.
Victoria sah Sebastian an. »Vielleicht hört er ja auf zu reden, wenn ich ihm etwas zu essen gebe.«
Sebastian schaute auf, und sie bemerkte, dass ausnahmsweise mal keine Erheiterung in seinen Augen zu erkennen war. »Du könntest ihm auch einfach eins mit dem Knüppel über den Schädel ziehen«, meinte er. »Oder noch besser, du könntest ihn pfählen. Wir brauchen ihn bei unserer Suche nach Katerina nicht.«
»Aber ich habe etwas anderes mit ihm vor«, erwiderte sie, während sie den Vampir abschätzend musterte. Je länger sie darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr die Vorstellung, dass dieser Untote der Gegner bei Max' Prüfung war. Max würde sogar ohne vis mit verbundenen Augen, einer auf den Rücken geschnürten Hand und nach drei Tagen Fasten mit ihm fertig werden.
»Ah ja.« Sebastian senkte den Blick wieder auf die Papiere.
Victoria war seit Tagesanbruch unterwegs und hatte während der letzten zehn Tage ihrer Reise wenig geschlafen; deshalb war sie müde. Sie hatte sich ein Bad bestellt und es in einem abgeschlossenen Raum genossen. Schmutz und Dreck von mehr als einer Woche hatte sie sich endlich herunterwaschen können und war dabei nicht nur auf ein kleines Becken angewiesen gewesen.
Das Fenster ihres Zimmers wies nach Osten, wo die Sonne in ein paar Stunden aufgehen würde, und blickte auf die Teynkirche, welche sich auf einem der Stadthügel befand. Sie merkte, dass ihr Blick immer wieder in diese Richtung schweifte, und musste ihn von dem Gebäude losreißen. Mehr als einmal.
Vielleicht sollte sie versuchen zu schlafen, besonders weil sie sich gleich bei Tagesanbruch auf die Suche nach Katerina begeben würden. Aber irgendetwas bereitete ihr Sorge, nagte an ihrem Unterbewusstsein.
Sie machte sich keine Gedanken darüber, mit Antonin in einem Zimmer zu schlafen — er war von Kopf bis Fuß fest verschnürt und am Pfosten eines schweren Bettes festgebunden. Der würde nirgendwo hingehen, außer sie band ihn los.
Was wahrscheinlich der Grund war, warum er nicht aufhörte zu reden. »Sie ist ein bisschen verrückt, wie Vioget weiß.«
Victoria warf Sebastian einen Blick zu, doch der zuckte noch nicht einmal mit der Wimper. Er griff nach seinem Wein und trank aus dem Becher, ohne den Blick von den Papieren zu heben.
»Und den Ring wird sie auch nicht abnehmen, denn sie hofft, ihn irgendwann gegen ihren Ehemann eintauschen zu können.«
»Ist ihr Ehemann tot?«, fragte Victoria, gegen ihren Willen nun doch neugierig.
»Er war einer der Architekten, die vor fünfhundert Jahren versuchten, die Steinbrücke zu reparieren. Sie brach zusammen, nachdem der König den Beichtvater der Königin in die Moldau hatte werfen lassen, weil der Priester ihm nicht sagen wollte, ob die Königin ihn betrog oder nicht. Manche meinten sogar, dafür müsste er heiliggesprochen werden.«
»Dann hat Katerinas Ehemann also die Brücke repariert?«
»Er hat es versucht. Sie brach immer wieder zusammen. Luzifer hatte sich über die Ermordung des Priesters gefreut und machte sich einen Spaß daraus, die Brücke jedes Mal wieder einstürzen zu lassen, wenn man dachte, sie würde halten. Schließlich ging Burghardt, Katerinas Ehemann, einen Handel mit ihm ein und erklärte sich einverstanden, Luzifer die Seele des ersten Lebewesens, welches die Brücke nach ihrer Reparatur überquerte, zu geben.«
»Er gab ihm die Seele seiner Frau?«, fragte Victoria. Kein Wunder, dass die Untote verrückt geworden war.
»Nicht absichtlich.« Antonin klang verärgert. Vielleicht hatte sie ihm die Pointe geraubt. »Er stellte die Brücke fertig und sagte den Arbeitern, sie sollten einen Hahn laufen lassen, damit der die Brücke als Erster überquerte. Aber Luzifer hatte Beauregard mit einer Nachricht zu Katerina geschickt, dass ihr Mann einen Unfall gehabt hätte. Sie stürzte aus dem Haus und rannte über die Brücke, womit sie die Erste war, die die fertig gestellte Brücke überquerte. So verlor sie ihre Seele, und Luzifer gab sie an Beauregard weiter, damit dieser sie zu einem seiner Geschöpfe machte. Was er natürlich tat.«
Das war also der Grund, warum Katerina Sebastian nicht sonderlich mochte. Sein Großvater hatte sie mit einer List dazu gebracht, ein Vampir zu werden. »Aber was wurde aus Burghardt?«
»Sie wandelte ihn in einen Vampir um, aber vor ein paar Jahren wurde er umgebracht.« Antonins Blick wanderte zu Sebastian hinüber. »Von einem jungen Venator, der seinen ersten Untoten pfählte.«
In dem Moment schaute Sebastian auf und strich sich das Haar aus der Stirn. »Warum pfählst du ihn nicht endlich, Victoria? Er fängt an, mich zu nerven.«
»Und damit ist ihr Ehemann nun bis in alle Ewigkeit zur Hölle verdammt; meiner Ansicht nach ist das natürlich gar nicht so übel, aber offensichtlich hatte Katerina vorgehabt, ihn deutlich länger am Leben zu erhalten.«
»Sie glaubt, der Ring wird ihn ihr zurückbringen?«, fragte Victoria. »Wie denn?«
Antonin deutete ein Schulterzucken an, soweit das in seinem verschnürten Zustand überhaupt ging. »Ich sagte doch, dass sie verrückt ist. Sie meint, mit irgendeinem göttlichen oder heiligen Wesen einen Handel abschließen zu können. Sie gibt den Ring heraus und befreit damit ihren Gatten aus der Hölle.«
»Es gibt keine Möglichkeit, die Seele eines Untoten aus der Hölle zu befreien«, ertönte plötzlich Sebastians Stimme. Seine Miene wirkte grimmig im schwachen Lichtschein. »Wenn ein Untoter erst einmal das Blut eines Sterblichen getrunken hat, ist er bis in alle Ewigkeit verdammt.«
»Ich habe etwas anderes gehört«, erwiderte Antonin in hochmütigem Tonfall. »Luzifer gefällt das zwar überhaupt nicht, aber er hat mehr als eine untote Seele freilassen müssen, die er im Laufe der Jahrtausende gesammelt hat.« Er nickte wissend. »Natürlich ist das keine angenehme Zeit für uns. Luzifer ist...«
»Gib ihm Wein und bring ihn zum Schweigen«, sagte Sebastian plötzlich. Es erschreckte Victoria, wie sehr er sich in diesem Moment wie Max anhörte - kurz angebunden und scharf. Vielleicht war er genauso müde, wie sie sich fühlte.
Oder vielleicht war da auch noch etwas anderes, was ihm Unbehagen bereitete... etwas anderes als die Erinnerung daran, was er Giulia angetan hatte. Und Burghardt.
Sie stand auf und nahm etwas salvi aus ihrer Reisetasche. Der Trank ließ Sterbliche schnell einschlafen, aber sie wusste nicht, ob er bei Untoten wirkte. Trotzdem war sie bereit, es auf einen Versuch ankommen zu lassen.
Antonin hatte Durst und trank den ganzen Wein auf einmal aus, als sie ihm den Becher an die Lippen hielt. Als sie den leeren Becher zurückzog, schaute er mit hoffnungsvollem Blick aus roten Augen zu ihr auf. »Wie wäre es mit noch was anderem?«, fragte er mit heiserer Stimme. »Ihr Handgelenk vielleicht; ich mache ganz schnell, und es würde auch überhaupt nicht weh tun.«
»Warum sollte ich irgendetwas für Sie tun?«, fragte sie, obwohl ihr gerade eine Idee gekommen war.
»Weil ich Ihnen erzähle, wie Sie Katerina in die Finger bekommen. Wie Sie zu ihr gelangen.« Seine Stimme wurde leiser, und er warf Sebastian einen Blick zu, als hätte er Angst, er könnte ihn hören.
»Genauso wie Sie mich zu ihrem Unterschlupf auf dem Friedhof gebracht haben?«, fragte Victoria spöttisch.
»Ich habe nicht damit gerechnet, dass diese Dämonen da sein würden.«
»Sie sagten, Sie hätten von den Dämonen gehört. Man hätte sich Geschichten erzählt. Wann ist Ihnen das erste Mal etwas über sie zu Ohren gekommen?«
»Vor mehr als einem Monat.«
»Hat Katerina auch Angst? Oder fühlt sie sich nur gestört?«
»Sie hat Angst. Alle Untoten haben Angst. So etwas hat es noch nie gegeben.« Sein Blick war auf ihr weißes Handgelenk geheftet, das unter dem Ärmel des sauberen Männerhemds hervorschaute, welches sie nach ihrem Bad angezogen hatte. »Bitte. Nur ein bisschen. Es wird auch nicht weh tun.«
Victoria antwortete nicht. »Stimmt es, dass eine untote Seele erst dann der ewigen Verdammnis anheimfällt, wenn der Vampir das Blut eines Sterblichen getrunken hat? Stimmt das?«
Antonin schaute sie an, und sie ließ zu, dass ihre Blicke sich begegneten. Sie spürte den Bann, in den er sie zog, und obwohl jemand wie sie ihn nur schwach wahrnahm, umschmeichelte er sie, und sie atmete bewusst tiefer ein. Trotzdem blieb sie bei klarem Verstand. Sie wusste, dass sie blinzeln und jederzeit den Blick abwenden konnte. »Stimmt das?«, fragte sie.
Phillip. Oh, Phillip, ich habe immer daran geglaubt, dass es stimmt.
Aber wenn es nun doch nicht so ist?
Sie ließ sich von Antonin umgarnen, locken und immer näher ziehen, sodass er dachte, er hätte Macht über sie. Sie spürte sie, sie spürte die Wärme und die Lust, die sich unter ihrer Haut ausbreiteten... aber nur begrenzt. Sie hob den Arm und beobachtete, wie sich sein Blick an ihrem Handgelenk festsaugte. Seine roten Augen glühten förmlich, und sein Atem entwich zischend den leicht geöffneten Lippen, zwischen denen die Reißzähne funkelten. Wärme... Hingabe...
»Victoria!«
Plötzlich war Sebastian neben ihr, und Victoria drehte sich überrascht um.
Ehe sie reagieren konnte, riss er sie hoch und zerrte sie von dem Vampir weg. Die Hitze ließ ihr Blut immer noch brodeln, während sie sich aufrichtete, um nicht zu stürzen. Sie atmete tief zwischen halb geöffneten Lippen ein, um ihren Atem zu beruhigen.
»Was tust du da?«, fuhr er sie an und übertönte Antonins Wutgeheul.
Sie warf einen kurzen Blick auf den Vampir. Sie hatte genau gewusst, was sie tat, aber sie würde es Sebastian nicht erklären.
»Reicht es denn nicht, dass du ihn herbringen musstest? Und jetzt auch noch das? Was bezweckst du hier eigentlich?«
»Sebastian«, setzte sie zu sprechen an, während die Überreste des Banns, in den der Vampir sie geschlagen hatte, wie seidiger Stoff von ihr abfielen. Seine Finger bohrten sich in ihre Arme, und sie riss sich mit einem so starken Ruck los, dass sie gegen den Tisch stieß. Die Blätter, in denen er gelesen hatte, flatterten zu Boden, doch ehe sie sich bücken konnte, um sie aufzuheben, ergriff er ihre Schulter.
Er packte sie nicht grob wie beim ersten Mal, sondern er umfasste sie nur sanft mit seinen Händen. »Liegt es daran, dass du mir nicht vertraust?«, fragte er. »Oder traust du dir selber nicht?«
Da begriff sie endlich, was er meinte. Jetzt wo Max weg war, wären sie allein in dem Zimmer gewesen. Sebastian dachte, sie hätte Antonin als eine Art Anstandsdame mitgenommen. »Keins von beidem, Sebastian. Das weißt du.«
Sie bückte sich, wobei sie sich seinem Griff entwand, und fing an, die Blätter vom Boden aufzuheben. »Was liest du eigendich die ganze Zeit?« Doch als sie das verzierte R ganz unten auf einer Seite sah, brauchte er es ihr nicht mehr zu sagen. Sie kannte Rosamundes Zeichen. »Findest du es interessant, was sie schreibt?«
Doch Sebastian hatte sich von ihr abgewandt. Victoria legte die Manuskriptseiten auf den Tisch, und als sie einen Schritt auf ihn zu tat, hörte sie ein gurgelndes Schnauben aus der Ecke. Ein Blick sagte ihr, dass das salvi gewirkt hatte und Antonin munter vor sich hin schnarchte.
»Es ist schon schwer genug«, sagte Sebastian, während er aus dem Fenster schaute, das zur Teynkathedrale hinausging, »hier zu sein. In Prag, mit dir. Mit euch beiden. Halte dich von Antonin fern. Reize ihn nicht. Du weißt ja nicht... du weißt ja nicht, wie du ausgesehen hast, Victoria. Gerade eben. Mit den halb geschlossenen Augen, deinem Gesicht...«
Sie schluckte. Ihre Kehle zog sich zusammen, was in dem Moment des Schweigens deutlich zu hören war. Sie hatte einen Grund. Sie hätte Antonin von ihrem Blut trinken lassen. Nur ein bisschen; denn sie hatte einen Grund dafür.
Aber sie musste sich vor Sebastian nicht rechtfertigen.
»Ich hatte dir gesagt, dass ich mich in dieser Situation nicht wie ein Gentleman verhalten werde«, erklärte er, während er ihr immer noch den Rücken zuwandte. »Und deshalb kann ich dir wohl auch keinen Vorwurf daraus machen, dass du Antonin hergebracht hast.«
Victoria gab ein ärgerliches Schnauben von sich, welches sie nicht unterdrücken konnte. »Sebastian, der Tag, an dem ich einen Vampir als Schutz gegen mein eigenes Begehren benutze, ist der Tag, an dem ich nicht mehr zum Venator tauge.«
»Dein eigenes Begehren?«
»Die Tatsache, dass wir zusammen waren, lässt sich nicht leugnen, ebenso wenig wie die Tatsache, dass wir uns zueinander hingezogen fühlen und uns mögen. Ich habe dir nichts vorgespielt. Aber ich habe nicht die Absicht, es zu wiederholen.«
»Ich hatte dir gesagt, dass ich mich nicht wie ein Gentleman verhalten würde«, wiederholte er mit festerer Stimme. »Aber ich habe mich getäuscht. Er ist deiner nicht wert, Victoria. Und es gefällt mir nicht, wie er sich dir gegenüber verhalten hat, früher und jetzt während der Reise. Aber du hast deine Wahl getroffen, und wenn er die Prüfung besteht, werde ich dich in Ruhe lassen und dir alles Gute wünschen.«
Doch wenn er sie nicht besteht...
Die Worte hingen unausgesprochen in der Luft. Doch beide hatten sie gehört, und Victoria wurde innerlich ganz kalt.
Wenn er sie nicht besteht.
»Ich gehe zuerst rein«, sagte Sebastian, während sich seine Hand um Victorias Arm legte, um sie zurückzuhalten. »Katerina wird abgelenkt sein, sodass dein Angriff für sie überraschend kommt.«
Sie standen in der kleinen Straße, die jeder unter dem Namen Goldenes Gässchen kannte. Die Mauer der Prager Burg bildete die eine Seite der Straße, und eng zusammengedrängte Häuser, die auf der anderen Seite ihre Entsprechung hatten, waren direkt daran angesetzt. Daraus war ein gewundenes schmales Gässchen entstanden, welches kaum breit genug war, um darin nebeneinander zu reiten. Die Häuser selbst waren winzig, aber hübsch anzusehen mit ihren bunten, offen stehenden Fensterläden.
Es herrschte strahlender Sonnenschein, und obwohl die Sonne schon den Zenit überschritten hatte, stand sie immer noch hoch genug, um glühende Hitze zu verbreiten und kurze Schatten zu werfen. Leute eilten an ihnen vorbei, die aus der Burg kamen oder dorthin wollten, Goldschmiede und Menschen, die anderen Berufen nachgingen. Victoria und Sebastian hatten vor der winzigen Stufe des Hauses 75 angehalten, doch die rote Tür war nicht ihr Ziel.
Sondern eine Tür direkt neben der Nummer 75, zu der man gelangte, wenn man eine kleine Treppe hinunterging. Oben, zur Straße hin, war die Treppe mit einem Eisentor gesichert, damit unachtsame Fußgänger nicht nach unten stürzten - eine Notwendigkeit bei solch einer schmalen Durchgangsstraße. Die nach unten führende Treppe erinnerte Victoria ein bisschen an den Eingang zum Silberkelch.
»Und wenn Katerina nicht da ist?«, fragte Victoria, obwohl sie sich ziemlich sicher war, dass Antonin ihnen die Wahrheit über den Aufenthaltsort der Untoten gesagt hatte; denn Victoria hatte ihm eine Belohnung für den Fall versprochen, dass seine Angaben richtig waren. Er hatte sich hungrig die Lippen geleckt und begeistert genickt, wohl wissend, dass er das Gasthaus bei strahlendem Sonnenschein ohnehin nicht verlassen konnte.
Er hatte ja keine Ahnung, dass sie etwas ganz anderes mit ihm im Sinn hatte.
»Leider kann ich fast mit Bestimmtheit sagen, dass Katerina da ist. Wir haben uns schon mal hier getroffen.«
Sebastian schob sich an ihr vorbei und stieg die Treppe hinunter, während das Eisentor leise hinter ihm zuschwang. Victoria blieb es überlassen, sich zu fragen, wie dieses »Treffen«
mit Katerina wohl ausgesehen hatte. Sie war sich nur in einem sicher... dass die beiden kein Liebespaar gewesen waren.
Ihr Magen zog sich bei der Vorstellung zusammen, dass ein Sterblicher und ein dämonischer Untoter miteinander intim sein könnten. Schwarze Punkte tanzten kurz vor ihren Augen, und ihr Magen hob sich vor Übelkeit. Diese Gedanken kamen der Erinnerung von dem, was zwischen ihr und Beauregard vorgefallen war, viel zu nahe. Damals... in jenem Zimmer mit ihm, als er fast ihr ganzes Blut ausgesaugt hatte... als sie völlig hilflos war und unter seinem Bann stand, gehüllt in Sinnlichkeit und Lust... die Bilder blieben verschwommen und unscharf. Es waren Erinnerungen, denen sie keinen Raum in ihren Gedanken geben wollte.
Sie wusste es nicht. Sie wollte es nicht wissen.
Und dann war da noch Max. Und Lilith. Die Kontrolle, die die Vampirkönigin über ihn hatte, ihre Besessenheit von ihm. Sein ausdrucksloser Blick konnte viel von seinem Entsetzen verbergen.
Victoria schluckte, schob die Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf das eisige Gefühl in ihrem Nacken. Es war dumm, dass sie sich überhaupt mit solch widerwärtigen Gedanken beschäftigte. Das trug nur dazu bei, dass sie geschwächt und abgelenkt wurde.
Sie würde jetzt nicht länger warten.
Keiner der Fußgänger auf der Straße schien zu bemerken, wie sie den Riegel des Eisentores anhob, hindurchschlüpfte und die Treppe hinuntereilte. Es stank nach Feuchtigkeit und Urin, und sie stellte fest, dass sie aufpassen musste, wo sie hintrat, als sie hinunterstieg. Jetzt fühlte sie sich eindeutig nicht mehr an Sebastians sauberen und gut geführten Silberkelch erinnert.
Die Treppe führte unter die Erde, tiefer und tiefer, so tief, dass kein Sonnenlicht mehr die spiralförmigen Stufen nach unten drang. Als sie unten angekommen war, sah sie das Symbol eines Pferdes vor sich in die Wand gehauen, neben der Tür. Zum einsamen Pferd.
Die schwarze Tür hatte einen altmodischen Tauriegel. Das Tau hing draußen, und sie zog daran, um den kleinen Holzriegel im Innern anzuheben. Sie brauchte nur ganz leicht gegen die Tür zu drücken, und schon öffnete sie sich, wobei sie sich knirschend über den völlig verdreckten Boden schob.
Überrascht stellte Victoria fest, dass sie einen Raum vorfand, der doch sehr an den Silberkelch erinnerte. Der Raum stand voller Tische und Stühle aus abgeschabtem, blank gescheuertem Ahornholz. An den Wänden brannten Lampen, und das Feuer im Eckkamin brachte ein bisschen Wärme in das feuchte Gewölbe. Es roch nach Schweiß, Feuchtigkeit, Bier und... Blut.
Ein Irrtum war unmöglich. Victoria kannte den Geruch von Blut genau. Mehrere Gäste saßen mit unterschiedlichen Trinkgefäßen vor sich in dem Raum, und Victoria musste nicht genauer hinschauen, um zu erkennen, was die meisten tranken. In der einen Ecke stand ein Klavier, an dem eine Frau mit strohblondem Haar saß und stümperhaft vor sich hin klimperte. In der anderen Ecke war ein Tresen, auf dem Flaschen standen, um die sich ein Barmann kümmerte. Die niedrige Decke wurde von schweren Balken durchzogen, zwischen denen Wurzeln wuchsen.
Ihr Nacken fühlte sich so an, als hätte sie sich ein Paket Eis daraufgelegt.
Der Raum war voller Vampire.
Die meisten schauten auf und sahen sie aus roten oder hellroten Augen an, wobei sie die Lippe hochzogen, um die Spitze eines Fangzahnes zu enthüllen. Glücklicherweise hatte keiner rosarote Augen. Victoria war nicht in der Stimmung, um mit einem Imperialen zu kämpfen, dem ältesten und mächtigsten Vertreter der Untoten. Sie wollte, dass die Sache hier schnell und glatt über die Bühne ging: den Ring holen, Katerina, wenn nötig, töten und dann wieder zu Antonin zurück.
Einer der Vampire machte den Fehler, aufzustehen und sich auf Victoria zu stürzen, als sie in die andere Richtung schaute. Ein schneller Stoß mit dem Pflock, den sie in der Hand hielt, und das dumme Geschöpf löste sich in einer Staubwolke auf.
»Keine sehr höfliche Art und Weise, einen Neuankömmling zu begrüßen«, sagte sie in den Raum hinein.
Die Köpfe mit den lüsternen Mienen, die hochgeblickt hatten, um sie anzuschauen - frisches, junges Blut -, sanken gleich wieder nach unten und schauten in die Becher, die vor ihnen standen. Es schien beinahe, als hofften sie, sie würde sie nicht weiter beachten, wenn sie sie ebenfalls ignorierten.
Vorerst würde sie das auch nicht tun. Aber nur, weil sie sich um andere Dinge zu kümmern hatte.
Und als sie den Blick durch den Raum schweifen ließ, sah sie etwas auf der anderen Seite, das eins dieser anderen Dinge zu sein schien. Victoria bedachte einen Vampir, der ihr im Weg stand, mit einem scharfen Blick. Er trat zur Seite, und sie eilte an ihm vorbei in die dunkle Ecke, in der Sebastian anscheinend gerade versuchte, sich aus einer etwas heiklen Situation zu befreien.
»Aber, Katerina, chere«, sagte er gerade, als Victoria sich näherte. »Können wir Vergangenes nicht auf sich beruhen lassen? Das ist jetzt schon mehr als acht Jahre her.«
»Acht Jahre?«, wiederholte eine große stämmige Frau, bei der es sich anscheinend um Katerina handelte. Sie hatte Sebastian mit ihrer fleischigen Hand gegen die Wand gedrängt und piekte ihm mit dem Finger auf die Brust. Sebastian hatte zwar einen Pflock in der Hand, doch den beachtete sie überhaupt nicht. »Für jemanden, der ewig lebt, Sebastian Vioget, sind acht Jahre kaum mehr als ein Atemzug.«
»Aber du hast diese Fässer doch bestimmt nicht wirklich vermisst...«
»Fässer mit bestem französischem Brandy? Fässer, für die ich ohnehin viel zu viel bezahlt hatte?«, kreischte Katerina und bohrte ihren Finger in seine Brust. Ihr Nagel war bestimmt sehr spitz, denn Victoria sah, dass sich an der Stelle ein dunkelroter Fleck auf Sebastians schneeweißem Hemd abzuzeichnen begann. Trotzdem behielt er sein charmantes Lächeln bei. »Du weißt so gut wie ich, dass für manche der Gäste Kalbsblut ebenso gut ist, aber diejenigen, die gut bezahlen, erwarten etwas noch Besseres. Ist dir überhaupt klar, was für Verluste ich gemacht habe, als ich sie nicht entsprechend bewirten konnte?«
Sebastian stieß ein leises Lachen aus. »Aber wie ich sehe, läuft das Geschäft jetzt sehr gut. Und davon abgesehen...«
»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte Victoria, in deren Stimme überhaupt kein Bedauern mitschwang, als sie sich zu den beiden gesellte.
Katerina drehte den Kopf zu ihr um, nahm ihre Hand aber nicht von Sebastians Brust. Dieser bedachte Victoria mit einem kläglichen Lächeln. »Wer sind Sie?«
»Ich bin Illa Gardella, und ich bin hier, weil sich etwas in Ihrem Besitz befindet, das ich haben will.«
»Wenn es der hier ist, den Sie wollen«, meinte sie und deutete mit dem Kopf auf Sebastian, »müssen Sie einen Moment warten, bis ich fertig bin.«
»Sei nicht dumm, Katerina«, sagte Sebastian, der sich schnell und gewandt ihrem Griff entzog. »Du weißt, dass ich Frauen eigentlich nicht weh tun mag, aber wenn es sein muss, mache ich es doch. Ich wollte mich bei dir entschuldigen, aber wenn du meine Entschuldigung nicht annehmen willst, ist das nicht mein Problem.« Er strich seinen etwas aus der Fagon geratenen Gehrock glatt und klopfte Dreck ab, der von der Decke heruntergefallen war. »Meiner Ansicht nach hast du mir diese Fässer geschuldet.«
Katerina, die schon als Sterbliche mit vollem schwarzem Haar gesegnet und flach wie ein Bügelbrett gewesen war, stemmte die Hände in die Hüften und musterte ihn finster. Sie war mehr als einen Kopf größer als Sebastian und streifte die Decke mit ihrem Kopf, sodass bei jeder Bewegung Dreck von der Decke auf sie herabrieselte.
»Ich schwöre dir, wenn ich dich noch einmal erwische, werde ich auch das letzte bisschen Geld als Bezahlung für den Brandy aus dir herausquetschen.« Sie ballte ihre Hände zu riesigen Fäusten, als wollte sie ihre Worte gleich in die Tat umsetzen. »Mit dem Kauf wäre mein Einkommen für ein Jahr gesichert gewesen. Dass du die Fässer mit nach London genommen hast, war eine Gemeinheit.«
Victoria fand, dass es an der Zeit war einzugreifen. Die Untote war groß und stattlich und mit den rosafarbenen Augen und den giftigen Fangzähnen kein leichter Gegner. Aber Victoria war schon mit schlimmeren Situationen fertig geworden.
»Sie können das später mit Sebastian regeln«, meinte sie und warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, »aber jetzt geben Sie mir erst einmal das, weshalb ich hier bin.«
»Und was soll das sein, wenn ich fragen darf?« Die Frau drehte sich um und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit nun auf Victoria. Sie versuchte, mit ihren rosafarbenen Augen Blickkontakt zu Victoria herzustellen, doch es gelang ihr nicht.
»Der Ring von Jubai, der sich in Ihrem Besitz befindet.«
Katerina fing an zu lachen ... so laut und schallend, dass dabei sogar ihr flacher Busen in Bewegung geriet. »Und wie kommen Sie darauf, dass ich in Erwägung ziehen könnte, Ihnen den Ring zu geben?«
»Weil Sie sich nicht in einer Staubwolke zu Ihrem Gatten gesellen wollen.« Victoria präsentierte ihren Pflock und schaute kühn zu ihr auf.
Sebastian zuckte zusammen und verdrehte die Augen, doch Victoria beachtete ihn nicht. Er mochte vielleicht vorgehabt haben, Katerina den Ring mit seinem Charme abzuluchsen. Aber das kam für Victoria gar nicht in Frage.
Katerina hob die Hand und streckte sie Victoria entgegen, sodass sie ihre Knöchel sehen konnte. »Dann müssen Sie ihn sich wohl über meinem Haufen Asche holen, denn ohne mich geht der Ring nirgendwo hin.«
Und tatsächlich; was sie sagte, stimmte. Am Ringfinger der Untoten war nur ein schmaler Streifen Kupfer zu erkennen. Der Rest wurde von Fleisch bedeckt, welches über den Ring hinweggequollen war wie aufgehender Hefeteig. Die einzige Möglichkeit, ihn abzubekommen, bestand darin, Katerina zu töten; Victoria wusste, dass das einzige Material, welches den Tod eines Vampirs überstand, Kupfer war. Alles andere würde sich mit dem Untoten auflösen, was genau der Grund war, warum Lilith die Ringe aus diesem Material hatte anfertigen lassen.
»Da ich nicht vorhabe, irgendwohin zu gehen — und da meine Gäste mich schmerzlich vermissen würden —, denke ich, dass Sie wohl mit leeren Händen werden gehen müssen. Wenn Sie überhaupt gehen.« Katerina bleckte die Zähne, große Zähne, die wie gelbe Grabsteine aussahen.
Victoria sah die Warnung in Sebastians Augen im gleichen Augenblick aufblitzen, als sich ihre Nackenhaare aufstellten. Sie wirbelte herum und sah zwei große Vampire, die sich auf sie stürzten.
Allerdings hatte sie nicht schnell genug reagiert, und so wurde sie von der Wucht des Aufpralls gegen einen Tisch gestoßen. Victoria knallte mit dem Kopf auf eine Kante, die vom jahrelangen Gebrauch abgenutzt war, nutzte aber den Schwung ihres Sturzes, um sich unter den Tisch rollen zu lassen. Ohne auf den Schmerz zu achten, streckte sie die Arme aus, packte das lange, schlanke Bein des Vampirs, der ihr am nächsten war, und hieb mit der geballten Faust von hinten auf sein Knie.
Er brach zusammen, und während er fiel, sprang Victoria unter dem Tisch hervor und stieß ihm den Pflock in die Brust. Die Staubwolke hüllte ihren Kopf ein, ehe sie wieder hochkam. Ihr Atem ging ein bisschen schneller, aber nicht schwer, als sie herumwirbelte und sich auf den anderen Angreifer stürzte. Treten, herumwirbeln, zuschlagen, stoßen... sie genoss den Kampf, und Erregung durchströmte sie, wie sie es schon eine Weile nicht mehr erlebt hatte. Verschüttete Getränke, die durch die Luft spritzten, das dumpfe Geräusch, wenn Holz in Fleisch stieß, der Geruch untoter Asche, die Befriedigung zu sehen, wie sich die roten Augen eines Vampirs weiteten, wenn der Pflock ihn traf... das war ihre Welt. Ihr großer Augenblick.
An diese Art von Bedrohung - bösartige Wesen mit einem Körper, die sich auf sie stürzten, nach ihr schlugen und traten — war sie gewöhnt. Sie merkte, dass sie in die vertrauten kalari-payattu-Bewegungen übergegangen war, die ihr durch stundenlanges Training mit Kritanu in Fleisch und Blut übergegangen waren. Sie nutzte ihre Kraft und Gewandtheit, um einen Vampir niederzuschlagen, einen anderen gegen seinen Gefährten zu stoßen, dem nächsten den Ellbogen gegen das Kinn krachen zu lassen, um dann jeden einzelnen mit einem Stoß ihres Pflockes ins Herz zu erledigen.
Sehr belebend. Belebend und kein bisschen einfach oder leicht, aber vertraut.
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Sebastian sich auch ins Getümmel gestürzt hatte und mit Katerina kämpfte. Die Frau hatte eines seiner Handgelenke gepackt, und Victoria bemerkte, dass er alles tat, um sich zu befreien, außer ihr den Pflock in die Brust zu stoßen.
Wütend über seine Gefühlsduselei erledigte sie einen sechsten oder siebten Untoten, packte den Arm eines weiteren Angreifers und schleuderte ihn in eine Gruppe seiner Artgenossen. Als die Vampire zu Boden stürzten, drehte sie sich um und stieß mit einer einzigen glatten Bewegung den Pflock von hinten in Katerinas Rumpf.
Das Holz fuhr in das Fleisch, Katerina erstarrte, und Sebastian schrie auf. Dann, als Victoria zurückwich, löste sich die Untote in einer Wolke aus Staub auf.
Das Klimpern von Metall sagte ihr, wo der Ring von Katerina abgefallen war, erst einen Holztisch getroffen hatte und dann geräuschlos auf den Lehmboden geprallt war, und sie stürzte hinterher.
Sebastian folgte ihr, und sie fanden sich von Angesicht zu Angesicht unter dem Tisch wieder. »Ich hätte es getan«, rechtfertigte er sich sofort.
Victoria schnappte sich den Ring und ließ sich von ihm wieder auf die Beine helfen. Gewappnet für einen erneuten Angriff drehte sie sich um, musste aber feststellen, dass die übrig gebliebenen Vampire dabei waren, die Flucht zu ergreifen. »Das war leichter, als ich gedacht hatte«, meinte sie, während sie sich in der leeren Gastwirtschaft umschaute.
Sebastian stürmte an ihr vorbei und stieg über eine gesplitterte Bank, als er Richtung Tresen strebte, der jetzt verlassen war. Er trat dahinter und bedachte sie mit einem unverschämten Lächeln, als er eine dunkle Flasche hob, um das Etikett zu lesen. »Ich glaube, den ganzen Kram hier wird sie jetzt nicht mehr vermissen«, sagte er, während er sich eine großzügig bemessene Menge von dem Getränk in einen Becher goss. »Schließt du dich mir zu einem Siegestrunk an, Victoria?«
Vorsichtig bewegte sie sich zwischen den Trümmern hindurch und nahm sich einen Stuhl neben dem leeren Tresen. »Ich glaube, das sollte ich wirklich tun.«