Kapitel 14
Die Prüfung beginnt
Als er hereinkam, schaute er nicht in Victorias Richtung.
Das durfte sie wohl nicht weiter überraschen — schließlich war das immer noch Max.
Aber wenn er nun nie wieder aus dieser Grube herauskam? Wenn dies nun das letzte Mal war, dass sie ihn sah? Und er sie noch nicht einmal anschaute.
Victoria bohrte die Fingernägel in ihre Handflächen und versuchte nicht darauf zu achten, wie grau sein Gesicht unter der braunen Haut aussah, wie tief die Falten waren, welche die Erschöpfung um Mund und Augen gegraben hatte. Seine Stirn und seine Wangen glänzten feucht. War er krank oder einfach nur völlig ausgelaugt?
Er bewegte sich leichtfüßig, ließ aber die gewohnte Anmut missen, die ihn wie einen Gott tanzen oder leichtfüßig durch die Luft schweben ließ, während er ein Schwert schwang, als wäre es die Verlängerung seines Armes.
Sie nahm an, dass er als Vorsichtsmaßnahme nur noch seine Hose anhatte - aus dem gleichen Grund, aus dem sie ihr Haar abgeschnitten hatte: damit der Gegner nichts hatte, an dem er sich festhalten konnte. Victorias Mund wurde beim Anblick seiner breiten Schultern und der kräftigen Arme ganz trocken. Die vis bulla, die in seiner durchstochenen Brustwarze hing, hob sich glitzernd von der dunklen Haut und den Haaren auf seiner muskulösen Brust ab, die zum Bauch hin nur noch einen schmalen Streifen bildeten. Auf nackten braunen Füßen glitt er lautlos durch den Raum und an ihr vorbei. Sie sah das eintätowierte Zeichen der Tutela auf seinem Schulterblatt - ein gertenschlanker, zu einem verschnörkelten Kreis stilisierter Hund, eine erbarmungslose Erinnerung an die in der Jugend gemachten Fehler. Er hatte einen Pflock in der Hand. Und während sie ihn beobachtete, goss er aus einem kleinen Fläschchen Wasser -Weihwasser wahrscheinlich — über die silberne vis, dann trank er lange und viel aus einem Schlauch, den Wayren ihm gereicht hatte.
Victoria hütete sich davor, ihn anzusprechen oder gar zu ihm zu gehen. Aber konnte er nicht zumindest für einen Moment in ihre Richtung schauen, damit sie ihm zeigen konnte, wie sehr sie ihn liebte?
Ihre Finger krallten sich in die Hose, die sie anhatte, und ihre Knöchel schabten dabei über raues Holz. Ein Splitter bohrte sich in ihre zarte Haut, aber das empfand sie fast als Wohltat, da es sie ablenkte.
Brim saß neben ihr, und obwohl sie einander nicht berührten, spürte sie das Mitgefühl, das er ausstrahlte. Auf ihrer anderen Seite saß Sebastian steif und mit Abstand.
Direkt vor den groben Holzbänken, auf denen sie saßen, trennte ein Eisengitter, das vom Boden bis zur Decke reichte, sie von einem flachen Graben. Diese ovale Vertiefung wurde auf beiden Seiten von Fackeln erleuchtet und erinnerte Victoria an eine flache Ausführung der Grube, in die Lilith sie vor weniger als zwei Monaten geworfen hatte. Damals hatte Max hilflos mit ansehen müssen, wie sie um ihr Leben kämpfte... und dann um das von Sara Regalado.
Victoria war nicht bekannt, wie oder wann Wayren alles für die Prüfung hier in diesem verlassenen Gebäude vorbereitet hatte. Es spielte keine Rolle. Wichtig war nur der große Vampir mit der Narbe auf der Wange, der in der Grube auf und ab ging und auf Max wartete.
Bei dem Vampir handelte es sich zufälligerweise um den Untoten, den Victoria gestern Abend aus der Gastwirtschaft gelockt hatte, und dieser entsprach so gar nicht dem Geschöpf, gegen das sie Max gern hätte kämpfen sehen. Er war ein Wächter, sie hatte Recht gehabt. Verdammt. Und wegen des Wettkampfs, den die Venatoren gestern Abend ausgetragen hatten, waren entweder viele Untote ängstlich geflohen, oder ihre Zahl war fast auf null reduziert worden — sodass dieser große, starke Untote der Einzige war, den man für die Prüfung hatte auftreiben können.
Als Nächstes sah sie Max die Tür des Gitters öffnen und nach unten in die flache Grube springen. In der Hand hielt er seinen schwarzen, tödlichen Pflock. Er landete etwas unsicher auf den Füßen, fing sich aber wieder. Victoria schloss die Augen.
Drei Tage lang fasten und keinen Schlaf. Keine vis bulla. Da konnte er doch nur schwach und langsam sein.
Aber er hatte es schon mal gemacht.
Längst hatte sie die Augen wieder geöffnet und sah zu, während sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, was Max wohl davon hielt, von ihnen allen beobachtet zu werden. Und ob er wohl außer dem mächtigen Untoten, der ihm gegenüberstand, überhaupt etwas mitbekam.
Hinter dem Gitter sah sie einen Wirbel von Bewegungen. Es fiel Victoria schwer zu sagen, wer zuerst angegriffen hatte, aber beide kämpften um ihr Leben.
Und nur einer würde hinterher wieder durch die Tür gehen.
Es war nur ein schwacher Trost für Victoria, dass sie ihn dort mit dem Pflock in der Hand in Empfang nehmen würde, falls es der Untote sein sollte.
Wie immer, wenn er kämpfte, blendete Max alles andere aus, bis auf den Kampf selbst. Der Schlagabtausch, der Rhythmus, die Geschwindigkeit. Trotz des Fiebers, das in ihm brannte und seine Zunge hatte pelzig werden lassen, trotz der Erschöpfung, die seine Glieder schwer machte und seine Bewegungen langsam, war er auf den Angriff des Vampirs vorbereitet.
Ihm als Erstes eine blutige Wunde zufügen.
Er schlug hart zu, aber der Untote sprang rasch zur Seite und ließ Max gegen das Eisengitter krachen. Es klirrte laut und hallte lange nach. Max wirbelte gerade rechtzeitig herum, als der mächtige Vampir sich mit rosafarben brennenden Augen auf ihn stürzte.
Ein verdammter Wächter. Ein großer.
Der Raum drehte sich um Max, und vor seinen Augen tanzten Sterne, aber er holte nach dem Vampir aus und schlitzte ihm mit der Spitze des Pflocks Gesicht und Arm auf. Doch nicht tief genug. Noch kein Blut.
Er hatte noch nicht einmal genug Kraft, um einen Qigong-Sprung zu vollführen.
Schau nicht in seine Augen.
Max wich einem erneuten Angriff aus und zog dem anderen das Bein weg, sodass dieser das Gleichgewicht verlor. Der Untote war verdammt groß und beängstigend stark. Er stürzte zwar schwer, riss aber Max mit sich, sodass er mit dem Kopf auf den festgestampften Lehmboden krachte. Etwas pfiff an seinem Hinterkopf, doch dann merkte Max, wie sich der Vampir mit ihm bewegte, versuchte, ihn zu packen, und er stieß ihn weg.
Von der schweren Last befreit, rollte Max sich herum und sprang sofort auf. Wieder holte er aus und erwischte die Hand des Vampirs, auf der er eine tiefe Wunde hinterließ. Hellrotes Blut strömte hervor, aber als Max seine rechte Hand nach vorn schnellen ließ, versetzte ihm der Untote einen Hieb in den Magen.
Der Pflock fiel aus seiner Hand, während gleichzeitig alles innehielt. Die Welt hörte auf sich zu drehen, wurde dunkel und bestand nur noch aus dem verzweifelten Ringen, wieder Luft einzusaugen. Sogar die starken Hände an seinen Schultern... die Hand, die seinen Kopf grob zur Seite riss, sodass sein ganzer Hals zu sehen war... das alles war kaum mehr als ein Traum, während er darum kämpfte zu atmen...
Hol... Luft... gütiger... Himmel...
Die rosafarbenen Augen kamen immer näher. Die Fangzähne schimmerten, doch Max konnte sich nicht bewegen. Seine Lunge versagte ihm den Dienst. Das Fieber ließ seinen Körper leicht zittern, während er nach Luft rang. Die rosafarbenen Augen glühten, lockten ihn, versuchten, ihn in Bann zu schlagen.
Dann keuchte Max kurz, und mit einem plötzlichen Zischen schoss der Sauerstoff in seine Lunge. Seine Kraft war wieder da. Und als der Vampir über ihn herfallen wollte, wich Max mit einem Ruck zur Seite aus, wobei er seinen Schwung nutzte, um den Untoten mitzureißen. Beide krachten zu Boden, wo Max sich windend die Hand nach dem strömenden Blut an der Hand des Vampirs ausstreckte.
Doch statt Blut war da nur Dreck. Er sprang auf und hielt sich für einen erneuten Angriff des Vampirs bereit.
Sie packten einander gleichzeitig an den Schultern. Beide atmeten schwer. Max versuchte zu ignorieren, dass der Boden unter seinen Füßen schwankte, dass seine Finger und Knie zitterten, dass sein Körper vor Hitze glühte und vor seinen Augen Sterne tanzten.
Aber das Fieber zehrte immer mehr an seiner Kraft, und es fiel ihm schwer, überhaupt noch Luft zu holen.
Aber er würde verdammt noch mal nicht sterben.
Was zum Teufel machte er da?
Sebastian hatte mehr als fünf verpasste Gelegenheiten gezählt, dem Vampir den Pflock in die Brust zu stoßen, doch Pesaro hatte keine davon genutzt.
Stattdessen schlug er nach ihm. Mit der Faust. Ins Gesicht, auf den Arm, die Hand.
Wollte er etwa sterben?
Sebastian teilte seine Aufmerksamkeit zwischen Pesaro, der trotz seiner offensichtlichen Schwäche immer noch mehr Geschick zeigte, als er von ihm erwartet hätte - und Victoria, die wie zu einer Salzsäule erstarrt neben ihm saß.
Wenn Sebastian sich schon fragte, was Max den Kopf verwirrt haben mochte, dann dachte sie das bestimmt schon längst. Oder Schlimmeres.
Und Sebastian stellte fest, dass er nicht wusste, ob er nun wollte, dass der Mann gewann oder verlor.
Jetzt lag Max' Pflock außer Reichweite, am Boden der flachen Grube, und der Vampir war kaum verwundet, verspritzte aber bei jeder Bewegung Blut.
Sebastian spürte sein Herz rasen, spürte, wie sein ganzer Körper von Energie und Tatendrang durchströmt wurde, als Mensch und Untoter sich wieder aufeinanderstürzten. Außer dem Zusammenprallen zweier Körper, Ächzen und Stöhnen und einem gelegentlichen Klirren des Eisengitters war nicht zu hören.
Pesaro machte eine plötzliche Bewegung und stieß den Vampir von sich, um mit einem gut gezielten Tritt nachzusetzen. Sebastian ließ ihn nicht aus den Augen und wartete darauf, dass er sich den Pflock zurückholte, um ihn in die ungeschützte Brust zu stoßen, aber wieder strebte Max mit ausgestreckter Hand nach vorn, als wollte er den Untoten berühren.
Er wankte zurück, seine Hand war ganz rot vom Blut des Vampirs, und wieder stürzte sich der Untote auf ihn. Pesaro wehrte ihn ab, doch die Kreatur warf sich erneut auf ihn un schleuderte ihn zu Boden. Miteinander ringend stürzten sie und Max' Kopf krachte dabei mit einem widerlich dumpfe Laut gegen die Gitterstäbe. Sebastian hatte es gehört, und ein unangenehmes Kältegefühl machte sich in ihm breit, als Pesaro sich nicht mehr bewegte.
Der Vampir rappelte sich mühsam auf, und Max veränderte seine Position ganz leicht. Seine Augen öffneten sich. Zum ers ten Mal schauten die dunklen Augen zu ihnen hin; er sah, wie der Blick über Victoria glitt. Sie erstarrte neben ihm. Er spürte wie sie sich bemühte, Haltung zu bewahren, und hörte sie leise keuchen. Sie konnte in Max' Miene genauso gut lesen wie er.
Danach ging alles ganz schnell. Der Vampir kam mit ge fletschten Zähnen und rosa glühenden Augen auf ihn zu. Pesaro lag ganz still da, eine Hand ruhte auf seiner Brust, als wollte er sie schützen, die andere war hinter seinem Rücken. Sein Pflock befand sich außer Reichweite an der Wand.
Sebastian wusste, was passieren würde — er wusste es, konnte es aber nicht glauben -, und er tat das Einzige, was er tun konnte Als der Vampir zum tödlichen letzten Schlag ansetzte, zog Sebastian Victoria an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen.