Kapitel 21
In dem unsere Heldin es kaum mehr erwarten kann
In dieser Nacht war aus verschiedenen Gründen überhaupt nicht an Schlaf zu denken. Der geringste war, dass Victoria absolut überhaupt nicht in der Lage war, die Augen länger als einen Moment zu schließen.
Für eine tatkräftige Frau wie sie war ein Tag und eine Nacht des Sitzens und Wartens die Hölle.
Besonders weil diese Stunden des Nichtstuns ihr viel Zeit ließen, um sich vorzustellen, was Max durch Lilith zu erleiden hatte. Dem schlauen Dämon war es gelungen, alle schrecklichen Gedanken und Vorstellungen aus den Tiefen von Victorias Bewusstsein hervorzuholen, wo sie sie vergraben hatte, um sich auf Dinge konzentrieren zu können, die gegenwärtig erledigt werden mussten. Doch er hatte sie freigesetzt, sodass sie ihr ganzes Entsetzen entfalten konnten und jetzt ständig auf sie einstürmten.
Neben diesen Bildern quälte sie das Geheimnis, das er ihr über Lilith anvertraut hatte. Stimmte es? Konnte tatsächlich etwas so Schlichtes wie ein Pflock aus frischem Eschenholz die große Vampirkönigin lähmen?
Warum sollte er sie in dieser Sache anlügen?
Um ihr einen Grund zu geben, sich sofort auf den Weg zu machen.
Oder um ihr die Waffe an die Hand zu geben, mit der Lilith vernichtet werden konnte.
Diese Möglichkeit war beinahe unwiderstehlich reizvoll.
In dem kleinen Dorf hier gab es keine Vampire, die man hätte jagen können; wahrscheinlich waren sie von den Dämonen vertrieben worden. Und jetzt, wo die Sonne gänzlich untergegangen war, hingen die Wolken dick und schwer am Himmel und verhüllten den Mond so vollkommen, dass noch nicht einmal ein winziger Strahl die Möglichkeit hatte, auf die Erde zu fallen. Die Nacht lag dunkel und schwer über dem Friedhof. Nicht einmal die weißen Grabsteine hoben sich von der dunklen Erde ab, in der sie standen.
Victoria trug Tacheds Kugel in der Tasche bei sich, falls die Wolken doch noch aufreißen sollten und sie die Möglichkeit bekamen, sie zu benutzen. Im Moment jedoch saß sie auf ihrem Pferd auf dem kleinen Hügel und beobachtete den Friedhof. Und wartete.
Hoffte, dass etwas passierte.
Der Ort lag hinter ihr und war nah genug, um Stimmen aus der Wirtschaft, in der Brim und Michalas geblieben waren, zu ihr dringen zu lassen. Sie hatte ihnen aufgetragen, dort auszuharren, die Wolken zu beobachten und zu ihr zu kommen, sobald sich irgendetwas veränderte. Sie waren nah genug, dass sie nach ihnen rufen konnte, sollte es notwendig werden. Aber im Moment wollte Victoria nur allein sein. Sie waren beide zu sehr bemüht, eine fröhliche Miene zu zeigen und sie abzulenken.
Das letzte Mal, als sie nach der Zeit gesehen hatte, war es kurz vor Mitternacht gewesen.
Wenn irgendetwas durch das spaltbreit geöffnete Portal kommen wollte, würde es das im dunkelsten Moment der Nacht tun. Der Versuch des Dämons, sie wegzulocken, bestärkte Victoria in dem Verdacht, dass bald etwas passieren würde. Er war zu sehr darauf bedacht gewesen, dass sie heute Nacht nicht da war; und obwohl sie ihn vertrieben hatte, gab sich Victoria keineswegs der Illusion hin, er könnte aufgegeben haben.
Während sie die Umgebung musterte, war ihr Blick nicht nur auf das kleine, flache Gebäude gerichtet, das als sichtbarer Platzhalter für das Portal diente, sondern auch auf den Himmel darüber. Die tief hängenden, schweren Wolken, silbrig überhaucht vom hinter ihnen verborgenen Mond, hatten angefangen sich zu bewegen.
Hoffnung ließ Victoria die Zügel aufnehmen und ihr Pferd rückwärtsrichten, um Brim und Michalas Bescheid zu sagen, während sie die ganze Zeit über den Friedhof nicht aus den Augen ließ. Die Wolken hatten eindeutig begonnen, sich zu bewegen, und gleichzeitig nahm die Dunkelheit unter ihnen zu.
Die Dämonen.
Sie waren freigesetzt.
Victorias Herzschlag beschleunigte sich, und sie wendete das Pferd, um zum Dorf zurückzureiten. Die ganze Zeit blickte sie über die Schulter zurück, während sie ihrem Pferd die Sporen gab.
Die Straße war dunkel und leer, doch aus der Wirtschaft dröhnte raues Gelächter, und warmes Licht fiel nach draußen. Gerade als Victoria sich von ihrem Pferd schwingen wollte, um nach drinnen zu stürzen und die anderen zu holen, sah sie ihn am anderen Ende der Straße stehen.
Max.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und sie musterte wieder die unverkennbare Gestalt, die so groß und geschmeidig im Sattel saß und schnell auf sie zugeritten kam.
Es war unmöglich.
Das war wieder Adolphus, der sie vom Friedhof weglocken wollte, wo die Dämonen durchs Portal strömten.
Sie gab ihrem Pferd die Sporen und galoppierte auf ihn zu, während sie über die Schulter zu den wirbelnden Wolken und dem aufsteigenden schwarzen Nebel blickte.
Das kann nicht sein.
Hoffnung stieg in ihr auf. Dann drängte sie sie zurück. Er begrüßte sie mit hoch erhobenem Arm, und ihr Herzschlag beschleunigte sich... um gleich darauf von Verzweiflung gelähmt zu werden. Er war allein.
Sebastian war zu ihm geritten, um ihn zu retten. Bestimmt wäre er doch bei ihm, wenn es ihm gelungen wäre, ihn zu befreien.
Victoria wollte ihn schon ignorieren. Sie wendete ihr Pferd, um zum Friedhof zurückzugaloppieren und dort die Dämonen zu bekämpfen. Doch dann ließ ein lauter Ruf sie innehalten, und sie sah, dass er sein Pferd antrieb, um sie einzuholen.
Sie sah sein müdes, mit Bartstoppeln bedecktes Gesicht, die tief in den Höhlen liegenden dunklen Augen. Es war zu dunkel, um seinen Gesichtsausdruck zu erkennen - doch was auch immer sie dort sah, es würde nicht wahr sein. Das alles war nicht real.
Die zerschlagenen Hoffnungen ließen sie vor Wut das Schwert ziehen und nach ihm ausholen. Würde sie den Zustrom seiner Lakaien aufhalten, wenn sie ihn tötete?
Wenn sie ihn mit einem Hieb am Hals traf. Mit einem guten Hieb.
Er wich zur Seite aus und zog mit einer geschmeidigen Bewegung sein eigenes Schwert. Der Dämon schrie auf, als ihre Schwerter aufeinanderkrachten, sodass die Pferde scheuten.
Victoria presste die Beine fest an den Leib ihres Pferdes, als dieses strauchelte und einen Ruck zur Seite machte. Dann holte sie mit ihrem Schwert aus und zielte auf seinen Hals.
Der Dämon wich zurück und wehrte jeden Schlag ab, ohne sie aber anzugreifen.
Ein schneller Blick über die Schulter zeigte Victoria, dass die tosende schwarze Wolke über dem Friedhof höher gestiegen war, und sie bemerkte den Schimmer von Mondlicht.
In einem verzweifelten letzten Versuch stellte Victoria sich in den Steigbügeln auf und holte mit dem Schwert weit zu einem kräftigen Hieb aus. Er wich erst im letzten Moment aus, und die Klinge schlitzte knapp unterhalb der Schulter seine Jacke an Arm und Brust auf. »Victoria!«, brüllte er.
Durch die Wucht ihres Hiebes schwang die schwere Klinge in einem weiten Bogen weiter... und dann sah sie das Blut.
Blut.
Der Anblick ließ sie im letzten Moment stocken, ehe die Klinge ihn voll auf der anderen Seite traf, und weil er schnell auswich, bewahrte ihn das davor, auch den anderen Arm aufgeschlitzt zu bekommen.
»Allmächtiger. Ich weiß, dass du wütend bist, aber...«
»Max!«, brüllte sie in einer Mischung aus Entsetzen, Schock und Unglauben.
»... aber mich deshalb gleich umbringen zu wollen!«
»Du bist es wirklich!« Sie drängte ihr Pferd ganz dicht neben seins. Das Schwert ließ sie an der Seite herunterhängen.
Max streckte die Arme aus, packte sie vorn am Hemd und zog sie aus dem Sattel zu sich herüber, um sich dann mit seinem Mund auf ihre Lippen zu stürzen. Sie fiel fast auf seinen Schoss, klammerte sich an seinen Schultern fest - von denen die eine feucht von Blut war - und erwiderte seinen Kuss wie eine Rasende.
»Verdammt, Victoria, was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«, fragte er, nachdem er sie einen Moment lang so fest an sich gedrückt hatte, dass ihr fast alle Luft aus der Lunge gepresst worden war. Sie spürte die Nässe auf seiner Wange, als seine Wimpern über ihre Haut strichen.
»Ich dachte, du seist ein Dämon«, sagte sie und löste sich gerade so lange von ihm, um das Schwert in die Scheide zurückzuschieben. Aber ehe sie sich wieder in seine Arme werfen und sein Gesicht berühren konnte, um sich davon zu überzeugen, dass es wirklich er war, veränderte sich seine Miene.
»Schau«, sagte er gepresst.
Victoria sah, dass er über ihre Schulter hinweg Richtung Friedhof blickte. Sie verdrängte die Freude über das Wiedersehen für den Moment und drehte sich um.
»Oh mein Gott.« Ihr Magen verkrampfte sich, als sie die Ausmaße der sich windenden schwarzen Masse über dem Friedhof sah, und sie ließ sich wieder in ihren Sattel zurückgleiten. Mit energischem Schenkeldruck zog sie ihr Pferd am Zügel herum und ließ es angaloppieren.
Das war also der Grund, warum der Dämon so hartnäckig versucht hatte, sie wegzulocken. Adolphus war wohl dabei, das Portal aufzubrechen.
Gott sei Dank hatte sie nicht auf ihn gehört.
Gott sei Dank hatte sie Max in ihrem verwirrten Zustand nicht niedergemetzelt.
Max zögerte keine Sekunde und folgte ihr sofort. Als sie an der Wirtschaft vorbeirasten, sah sie Brim und Michalas bereits nach draußen stürzen, um sich ihnen anzuschließen.
Victoria hing mit gezogenem Schwert tief über dem Hals ihres Pferdes. Die flatternde Mähne schlug ihr ins Gesicht, als sie die staubige Straße entlangdonnerten. Es war jetzt nicht mehr ganz so dunkel, nachdem die Wolken aufgerissen waren und wunderbarerweise ein paar Mondstrahlen dahinter hervortraten.
Victoria schaute während des wilden Galopps nach oben und sah, dass die Ränder der Wolken von Mondlicht eingefasst waren und eventuell die geringe — die ganz geringe — Möglichkeit bestand, dass sie weiter aufrissen und noch mehr Mondlicht hindurchließen.
Bitte, lieber Gott. Gewähre uns ein Wunder.
Sie könnten die Dämonen mit ihren Schwertern zurückdrängen, wie sie es auch schon in London getan hatten. Dann hätte sie die Gelegenheit, die Kugel aus ihrer Tasche zu ziehen. Wenn der Mond tatsächlich hell genug schien, um die Wolken zu durchdringen, könnte sie das Portal schließen.
Als würde er ihre Gedanken lesen, schaute Max, der auf gleicher Höhe mit ihr ritt, zu ihr hinüber. »Hast du die Kugel?«, brüllte er. »Ja.«
Ein grimmiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er mit gezücktem Schwert den Blick wieder nach vorn richtete. Victoria ließ ihn einen Galoppsprung vor sich reiten und gab sich ganz kurz noch einmal ihrer Freude darüber hin, dass er wieder da war. Max war zurück, in alter Frische und unverletzt ... bis auf die Wunde, die sie ihm gerade mit ihrem Schwert zugefügt hatte.
In dem Moment erinnerte sie sich an Sebastian. Wo war er? Hatte er nicht Max holen wollen?
»Wo ist Sebastian?«, rief sie. »Hast du ihn gesehen?«
Max schüttelte den Kopf mit wehendem Haar. »Er ist dageblieben. Bei Lilith.« Auf seinem Gesicht lag weiter dieser grimmige Ausdruck.
Er war bei Lilith geblieben? Nein. Das konnte nicht sein. Doch nicht Sebastian.
Sie holte tief Luft und verdrängte die plötzlich aufsteigende Furcht. Zuerst das hier.
Und dann würde sie ihren ursprünglichen Plan weiterverfolgen, Lilith zu finden und umzubringen. Doch dieses Mal würde es sein, um Sebastian zu retten, nicht Max.
Sie hoffte nur, dass er noch unversehrt war.
Als sie den kleinen Hügel hinunter zu dem steinigen Grund rasten, wo der Friedhof lag, griff Victoria tief in ihre Hosentasche. Die kleine Kugel hatte ihre Körperwärme aufgenommen, und sie schloss ihre Finger fest um sie.
Die Kristallkugel passte genau in ihre Hand und war klein genug, um ihre Finger fast ganz darum zu schließen. So leicht würde sie sie also nicht fallen lassen.
Der schwarze Nebel wirbelte und toste, als sie näher kamen, und es waren die gleichen roten Augen in ihm zu sehen wie bei den fliegenden Geschöpfen damals in London. Sie ließen ihre Pferde über die zaunähnliche Begrenzung aus Steinen springen und ritten mitten in die widerlichen schwarzen Wolken hinein.
Kaum hatten sie die unsichtbare Mauer des Friedhofs durchbrochen, begannen die Schatten sich auf sie zu stürzen. Brim und Michalas blieben Victoria und Max mit gezückten Schwertern dicht auf den Fersen, während diese auf die angreifenden Dämonen einschlugen.
Victoria klammerte sich nur mit den Knien an ihrem Pferd fest, während sie es immer weiter in den schwarzen Wirbel trieb. Mit der einen Hand schwang sie das Schwert, und in der anderen hielt sie die Kugel bereit, um sie jeden Moment aus der Tasche zu ziehen und ins Mondlicht zu halten.
Wortlos rückten Victoria und Max gemeinsam vor und trieben ihre sich sträubenden Pferde auf das kleine Gebäude zu, wo der wirbelnde Nebel besonders dicht war. Sie beobachtete den Himmel, während sie rotäugigen Schatten auswich und nach dem Mond Ausschau hielt. Dabei war sie sich die ganze Zeit über Max' mächtiger Klinge bewusst, die neben ihr Hieb um Stich austeilte.
Je näher sie dem Gebäude kamen, desto undurchdringlicher wurde die Dunkelheit, die Schlagkraft ihrer Angreifer kräftiger, kälter, lähmender. Victoria spürte, wie Klauen über ihre Schultern strichen, nach ihrem Haar griffen und ihr Pferd zum Wiehern und Taumeln brachten. Es scheute in Panik und stampfte verzweifelt mit den Hufen, während es versuchte auszubrechen, buckelte und bockte, während ihr gleichzeitig von oben zugesetzt wurde.
Ihre Schwert schnitt durch den Hals eines fliegenden Dämons, und während dieser in kleinen Wirbeln schwarzen Rauchs zerstob, holte sie schon wieder aus, um einen anderen Dämon daran zu hindern, seine Krallen in Max' Schulter zu schlagen. Der Kampf artete zu einem Tumult aus stampfenden Hufen, tosendem Wind, zupackenden Klauen und dem widerlichen Gestank von Dämonen und toter Asche aus.
»Victoria!«
Sie ließ ihr Schwert hoch durch die Luft sausen, als sie ihren Namen trotz des tosenden Sturms hörte, und schaute zu Max.
Dieser kämpfte mit geschmeidigen, glatten Bewegungen, duckte sich und wich aus, während er immer wieder mit seinem Schwert ausholte und zuschlug, als eine neue Woge von Dämonen auf ihn zuströmte. Aber sie sah, worauf er sie hatte hinweisen wollen.
Ein zarter Mondstrahl fiel auf die schwarze Erde.
In dem Moment stieß dicht neben ihr ein Schatten herab. Ihr Pferd drehte plötzlich eine verängstigte Pirouette, und sie verlor das Gleichgewicht, sodass sie vom Pferd stürzte. Trotzdem gelang es ihr, das Schwert festzuhalten und auch die Kugel nicht zu verlieren. Sie krachte seitlich auf einen Grabstein, sodass ihr einen Moment lang die Luft wegblieb.
Klauen stürzten sich auf sie, schlitzten ihr erst die Seite und dann den Rücken auf, als sie vom Stein herunter auf die Erde rollte. Sie rang nach Luft und kämpfte gegen den stechenden Schmerz in der Seite an, während sie versuchte hochzukommen. Die Kugel hielt sie immer noch in der Hand, die Finger hatte sie fest darum geschlossen. Sie würde eher sterben, als sie loszulassen. Taumelnd klammerte sie sich an einen hüfthohen Stein und stemmte sich mit zittrigen Beinen hoch.
Irgendetwas traf sie seitlich am Kopf, und sie wäre beinahe wieder gestürzt. Erneut fielen die Dämonen mit Zähnen, Klauen und sogar spitzen Schnäbeln über sie her. Sie zog die Kugel aus der Tasche und krabbelte mehr, als dass sie taumelte, auf den Lichtschein zu... das Wunder, um das sie gebetet hatte.
Sie wollte verdammt sein, wenn sie sich diese Gelegenheit entgehen ließ.
Sie hörte ein lautes Brüllen, und vor ihr tauchte ein riesiger schwarzer Schatten auf, vor dem sie sich erst zusammenkauerte — doch dann erkannte sie im Nebel, dass es Max war, der immer näher kam, um die Horden von Dämonen abzuwehren, die sich mit aller Macht auf sie stürzten. Victoria drückte die Kugel fest an sich und schwang ihre Klinge nach oben, als sie plötzlich spürte, wie Tropfen auf sie herabregneten.
Zuerst dachte sie, es wäre Blut, doch dann schien die Schwärze zurückzuweichen, als holte sie Luft, und sie erkannte, dass es Weihwasser war.
Max, Brim und Michalas hatten einen Kreis um sie gebildet, und ihre Schwerter funkelten und klirrten, manchmal sogar gegeneinander, während sie die fliegenden Kreaturen abwehrten. Victoria holte die Kugel wieder hervor, trat zu dem Mondstrahl und hielt die Kugel hinein, als wieder ein Schwall Weihwasser -dieses Mal von Brim — die Dämonen keuchend zurückweichen ließ.
Das Licht fing sich in der bläulichen Kugel, die plötzlich in blauem Licht erstrahlte und erst Hand und Arm und dann ihren ganzen Körper darin einhüllte. Ein lautes Kreischen erfüllte die Luft, bohrte sich in ihren Kopf und wollte gar nicht mehr aufhören. Sie ließ ihr Schwert fallen und hätte beinahe auch die Kugel losgelassen, als sie versuchte, sich die Ohren zuzuhalten, und den Kopf schüttelte, um das unerträgliche Gefühl loszuwerden.
Das Kreischen hörte nicht auf, laut und schrill hallte es über den Friedhof. Sie taumelte und spürte, dass es ihren Gefährten genauso erging. Die Pferde stampften mit den Hufen, buckelten und bäumten sich auf. Sie wollten durchgehen, wurden aber von ihren Reitern unter Kontrolle gehalten.
Der Mondstrahl. Er fiel als länglicher Kreis strahlend hellen Lichts auf das braune, vertrocknete Gras.
Sie heftete ihren Blick darauf, versuchte das schwächende Kreischen zu ignorieren, als die Kugel den Mondstrahl einfing.
Sie sah, wie das Licht von der Kugel in viele verschiedene Richtungen abgelenkt wurde. Am liebsten hätte Victoria vor Verzweiflung geschrien, trotzdem versuchte sie weiter, einen der blauen Lichtstrahlen direkt auf den schmalen Spalt zu lenken, der das Portal bildete.
Die Schreie wurden lauter, höher; die Dämonen stürzten sich immer schneller und aggressiver herab, während die Schwerter langsamer und unbeholfener wurden. Neben ihr stürzte jemand zu Boden, und das Klappern und Stampfen von Hufen auf Stein und Erde sagte ihr, dass ihre Pferde durchgegangen waren.
Der schwarze Nebel zog sich immer dichter zusammen, begehrte auf, kreischte, aber dann sah sie es: Er wurde wieder in den Spalt gezogen, die brennenden, weit aufgerissenen roten Augen wurden ganz schmal, als die Wesen gegen den Sog ankämpften, der sie wieder in die Tiefe zog.
Sie hielt die Kugel so, dass das Licht ununterbrochen auf den Spalt fiel, und ließ sich noch nicht einmal beirren, als herabstürzende Klauen sie noch einmal fast zum Taumeln brachten. Rauch stieg auf, und plötzlich gehörten die roten Augen zu menschenähnlichen Gesichtern, die in einem mächtigen Wirbel zurück in den Spalt gezogen wurden.
Das Kreischen wurde leiser, und der schwarze Nebel lichtete sich, als er nach unten gezogen wurde. Aber immer noch rührte sie sich nicht, sondern beobachtete, wie die Kugel sie alle zur Hölle schickte. Nicht einmal das Zittern ihrer Hand und ihr vor Schmerzen brennender Rücken hielten sie davon ab. Der Sog schien gar nicht abreißen zu wollen, und schließlich merkte sie, dass die Dämonen nicht nur aus der wirbelnden Rauchwolke auf dem Friedhof kamen, sondern von überall her. Der Himmel war voll mit dunklem, waberndem Nebel und Wolken, während der Mond immer deutlicher hervortrat, heller und heller schien und die dunkelgrauen Wolken mit weißen Rändern versah.
Plötzlich stand der Mann mit dem leeren Blick und dem Hut mit der geschwungenen Krempe vor ihr. Adolphus. Seine Augen brannten, seine Zähne traten lang, gelb und spitz hervor. Er stürzte sich schwarz, finster und böse auf sie. Der Gestank abgrundtiefer Bosheit stieg ihr in die Nase, als das Kreischen in ihren Ohren hallte und schmerzhaft durch ihren Körper zog. Dann knitterte er und schrumpfte, sein Gesicht verzerrte sich zu einer lang gezogenen Fratze, die nach unten gezogen wurde, während seine Lippen sich weiter bewegten, sie anbrüllten, schrien... dann war er fort, nicht mehr als ein widerliches Fitzelchen schwarzen Rauchs.
Und endlich kehrte Stille ein. Die Kugel schimmerte immer noch in ihrer Hand, aber der Nebel war fort. Die schwarzen Wesen waren wieder im Nichts verschwunden, und Victoria sah, dass die schwarze Spalte immer schneller dichten Qualm ausstieß. Rauchschwaden stiegen auf, und Max ritt ganz dicht heran, um aus drei verschiedenen Flaschen Weihwasser in den Spalt zu gießen.
Noch einmal stieg eine Rauchwolke auf, dann begann der Boden in sich zusammenzufallen.
Das Portal war geschlossen.