Kapitel 18

Die Wege trennen sich

 

Sie hatte ihn noch nicht gebissen.

Hungrig? Essen war das Letzte, was er jetzt im Sinn hatte.

Er wollte nur frische, kühle Luft. Und eine andere Farbe als Rot. Alles, nur keine Wärme und diesen süßlichen Duft von Rosen. Und das Gefühl ihrer Hände auf seiner Haut.

Die Handschellen klirrten, als sie ihn von der Wand weg zu sich zog. Er wehrte sich zwar nicht dagegen, aber er ließ sich beim Gehen Zeit.

Max hatte gelernt, wann es Zeit war zu kämpfen und wann man sich besser unterwarf. Solange sie belustigt war und sich nicht über seine Macht und Stärke ärgerte, hatte er eine Chance. Es war ein labiles Gleichgewicht.

Das Problem an der Geschichte war, dass er nicht wusste, wie lange er dieses Spiel mitmachen musste. Er könnte es jederzeit beenden; aber es gab immer noch einen Funken Hoffnung. Hoffnung, die immer wieder von Furcht abgelöst wurde.

Er wollte nicht, dass Victoria herkam... und auf der anderen Seite doch. Und er wusste, dass sie kommen würde.

Es war nur die Frage, wann.

Und ob sie es schaffte.

Er hoffte inständig, dass sie das Richtige tat und zuerst das Portal schloss.

Bitte. Lass nicht alles umsonst gewesen sein.

Lilith bedeutete ihm, sich neben ihr hinzuknien, dann beugte sie sich über ihn und strich mit den Lippen über seinen Hals. Wie jedes Mal verkrampfte sich sein Magen bei dem widerlichen Gefühl einer heißen und einer kalten Lippe, die über seine Haut glitt. Ihre Hände legten sich um seinen Hinterkopf, wobei sie die Finger in sein Haar schob.

»Ich glaube, ich werde dich dein Haar nicht wieder abschneiden lassen«, murmelte sie dicht neben seinem Ohr, während sie an den Spitzen zupfte, die sich an seiner Wange wellten. Er gab sich weiter unbeteiligt, trotz des widerlichen Kribbelns unter seiner Haut. »Ich mag es lang. Wir werden es ein bisschen wachsen lassen.«

Das war ein gutes Zeichen. Sie hatte also nicht vor, ihn in allzu naher Zukunft umzuwandeln. Zumindest nicht, bevor sein Haar eine bestimmte Länge erreicht hatte.

Dem Himmel sei Dank, dass das Haar und die Nägel von Untoten nicht wuchsen.

»Du denkst, sie wird kommen, um dich zu holen«, meinte Lilith in umgänglichem Ton, während ihre Fingerspitzen über seine Brust strichen. Sie vermied den Kontakt mit der vis bulla und hatte ihn gezwungen, das Kruzifix, das er um den Hals getragen hatte, abzulegen.

Sein einziger verbleibender Schutz war die vis und die vier kleinen Fläschchen mit Weihwasser, die er in seinen Absätzen versteckt hatte. Die Stiefel standen an der Wand, neben der Lagerstatt, auf der er schlief. Er hatte noch nicht auf sie zurückgreifen müssen, doch sobald sie ihn biss, würde er es tun.

»Sie ist Illa Gardella, und es gibt andere Aufgaben, um die sie sich zu kümmern hat«, erwiderte er gelassen. »Im Gegensatz zu dir hat sie sich voll und ganz ihrem Auftrag verschrieben, ihre Rasse — die Menschheit — zu schützen.«

Plötzlich bohrte sie ihre Nägel in seinen Rücken und riss die Hand nach unten. Eine kleine Warnung. Er fügte sich, indem er ein leises Stöhnen ausstieß, denn er wusste, es würde ihr gefallen, dass sie ihm Schmerzen zugefügt hatte.

»Warum bist du so brutal und gibst so schneidende Bemerkungen von dir? Kannst du denn dein Schicksal nicht hinnehmen?«, fragte sie.

Jetzt war er sicher, dass das, was da seinen Rücken hinunterlief, Blut war. Lilith nahm etwas davon mit den Fingern auf und führte ihre Hand geziert an den Mund, um dann jeden Finger einzeln abzulecken, als hätte sie gerade eine Sahnetorte gegessen.

Plötzlich fuhr sie herum und schaute ihn aus schmalen Augen an. »Was ist das?«, fragte sie, und Wut loderte in ihren blau umkränzten roten Augen. Ihre Lippen wurden schmal.

»Dann schmeckst du es also?«, fragte er und rückte von ihr ab. »Hast du wirklich gedacht, ich würde unvorbereitet herkommen?«

»Was ist es?«, fragte sie wieder, während ihre Augen größer wurden und die Adern in ihrem Gesicht als blaue Linien hervortraten.

»Das Blut eines frisch geweihten Venators«, erwiderte er. »Ich habe reichlich Weihwasser vor und nach der Prüfung getrunken, und es ist immer noch in meinem Blut.«

Sie zischte ihn mit mittlerweile unglaublich roten Augen und gebleckten Fangzähnen an, doch dann wich ihre Wut einem Lächeln, dass ihn mehr beunruhigte als ihr Zorn. Der Tod wäre so viel einfacher.

»Wirklich, Maximilian, mein Schatz, du überraschst mich immer wieder. Ich frage mich, ob es in den nächsten Jahrhunderten auch so sein wird... oder ob du irgendwann anfängst, mich zu langweilen.«

Sie zog ihn näher und hängte ein Glied seiner Kette hoch an die Wand, sodass er sich nicht wegbewegen konnte.

»Das heißt also, dass ich mich erst an dir laben kann, wenn dein Blut nicht mehr mit Weihwasser versetzt ist. Wie klug von dir, solch eine Vorfreude bei mir zu schüren.« Ihre kühlen, skelettartigen Finger legten sich um seine Schultern und glitten

dann über seine Armmuskeln. »Es gibt viele andere Möglichkeiten, sich die Zeit bis dahin zu vertreiben, mein Liebster.«

Und so setzte sich der zweite Tag seiner Gefangenschaft fort.

Plötzlich aus dem Schlaf gerissen, saß Sebastian senkrecht im Bett.

Schweiß strömte an ihm herab... teils wegen des strahlenden Sonnenscheins, der durch das Fenster der Gastwirtschaft strömte, teils wegen des Traumes, dessen Nachwirkungen sein Herz immer noch wie wild schlagen ließen, sodass er die Finger in das Bettlaken krallte.

Gütiger Himmel, würde das denn nie aufhören?

In letzter Zeit waren die Alpträume klarer und noch viel drängender. Er schüttelte den Kopf, um die Bilder von Giulia zu verdrängen, die ihn anflehte, sie zu retten, und holte mit geschlossenen Augen tief Luft. Was sollte er tun?

Unwillkürlich fragte er sich, ob sein Traum mit den Ereignissen der letzten Nacht zusammenhing, als er seine beringte Hand in den Teich getaucht und gespürt hatte, wie er in einen Wirbel aus Bildern und Erinnerungen gezogen wurde. Sie hatte ihn noch nie zuvor angefleht, sie zu retten. Erst jetzt.

Bestand denn überhaupt die Möglichkeit dazu?

Gab es irgendetwas, das ihn dazu befähigen würde, nach all den Jahren?

Oder wurde er einfach nur allmählich verrückt?

Wahrend er dalag, gingen ihm Worte und Sätze wie wirre Fäden durch den Kopf. Ein lang gegebenes Versprechen... ein Erlöser.

Die, für die er lebt... werden gerettet.

Er schob die Decke weg, die an seiner verschwitzten Haut klebte, und setzte sich mit pochendem Herzen auf. Brim, der Wache hielt, während die anderen sich ausruhten, sah ihn an.

Sebastian stand auf, wankte ein bisschen und flüsterte: »Leg dich hin. Ich halte jetzt Wache.«

Die Ringe glitzerten an seiner Hand, als er nach dem Wasserkrug griff. Verdammte Ringe. Würden sie jemals wieder abgehen?

Was bedeutete das alles?

Er trank von dem Wasser, das durch die Hitze lauwarm war, und schaute aus dem Fenster. Sie hatten die Kugel gestern Abend gefunden und waren danach sofort aufgebrochen. Bis zum späten Nachmittag dieses Tages waren sie unterwegs gewesen. Die Sonne brannte auch den Rest des Tages heiß vom Himmel, sodass sogar die Nacht warm war und ein ruhiger Schlaf kaum möglich, selbst wenn es ihm gelingen würde, die beklemmenden Bilder zu verdrängen.

Giulias Gesicht verfolgte ihn immer noch, die Worte gingen ihm immer wieder durch den Kopf, als wollten sie sich wie ein Wurm in seinem Gehirn eingraben.

Ein Erlöser, der mit einem großen Makel behaftet ist. Ein lang gegebenes Versprechen.

Wäre Wayren da, würde sie die Worte vielleicht deuten können.

Sebastian schaute wieder aus dem Fenster, und sein Blick schweifte zu dem in der Ferne liegenden Berg. Pesaro, armer Teufel. Wie lange würde es dauern, bis Lilith ihn umgewandelt hatte? Sie würde bestimmt nicht zulassen, dass ihm die Flucht noch einmal gelang, aber er würde dagegen kämpfen.

Keiner verstand das besser als Sebastian: diese Angst davor, in einen Untoten verwandelt zu werden. Die Angst, seine Seele

zu verlieren und verdammt zu sein von dem Augenblick an, in dem man dem Verlangen nachgab, das Blut eines Sterblichen zu trinken.

Konnte ein Untoter dem brennenden Verlangen zu trinken widerstehen? Diesem alles beherrschenden Drang, dieser Gier? Konnte dieser Durst, dieser dämonische Makel verdrängt werden?

Mit einem großen Makel behaftet.

Eine mit einem Makel behaftete Seele?

Sebastians Herz begann wie wild zu schlagen. Der größte Makel... eine untote Seele.

Ein lang gegebenes Versprechen.

Gütiger Himmel... Unsterblichkeit. Jemand, der seine Seele freiwillig hergab wegen eines lang gegebenen Versprechens.

Wie lange?

Sein Mund fühlte sich so an, als hätte er auf einem Wattebausch gekaut, und er konnte kaum schlucken. Seine Hände zitterten, und er hatte ein komisches Gefühl im Magen.

Eine leichte Benommenheit bemächtigte sich seiner, und wieder trat ihm Schweiß auf die Stirn.

Die, für die er lebt... werden gerettet.

Rette mich.

Rosamundes Prophezeiung hallte wie ein Lied, das nicht zum Schweigen gebracht werden konnte, in seinem Kopf wider.

Dann endlich begriff er. Diese Worte hatten sich aus einem bestimmten Grund in sein Gehirn eingebrannt.

Und in der neuen Welt wird ein Erlöser sein, der mit einem großen Makel behaftet ist. Er wird ein lang gegebenes Versprechen einlösen, und am Ende werden die, für die er lebt, gerettet werden.

Nicht Pesaro war der Erlöser.

Sondern er selbst.

Sebastian stand auf. Plötzlich war da eine Klarheit, ein Wissen um den ihm vorgegebenen Weg, wie er es seit Jahren nicht gekannt hatte. Und trotz der vor ihm liegenden Aufgabe war er frohen Herzens.

Victoria wachte auf, als die Sonne so tief gesunken war, dass sie ihr durchs Fenster direkt ins Gesicht schien. Sie war so schrecklich müde gewesen, und ihre Erschöpfung war noch durch ihre Sorge um Max verstärkt worden, sodass sie erleichtert gewesen war, am helllichten Tage eine Rast einzulegen, obwohl sie es hasste, dies ihren Gefährten gegenüber zuzugeben.

Doch jetzt würden sie weiterreiten und das Midiversum-Portal vielleicht schon spät am nächsten Tag erreichen. Schnell, schnell, schnell. Je früher sie es schafften, desto schneller konnte sie zu Max zurück.

Sie setzte sich auf und sah sich im Zimmer nach den anderen um. Einer lag schlafend auf dem Boden, ein anderer auf einem schmalen Bett an der Wand.

Wer fehlte?

Vielleicht war er losgegangen, um Vorräte zu besorgen. Sie stieg aus dem Bett und trat ans Fenster, um nach draußen zu schauen. Die tief stehende Sonne warf zwar bereits lange Schatten, doch sie konnte immer noch die nach Norden führende Straße erkennen, auf der niemand unterwegs war.

Als sie sich wieder umdrehte, sah sie den Zettel, der mit einem Messer an der Wand befestigt war. Der Zettel war einmal gefaltet, und es stand ein großes V darauf.

Victoria nahm ihn von der Wand, klappte ihn auf und sah die Unterschrift, ehe sie den Brief las: ein großes geschwungenes S.

Sie sank auf das Bett, neben dem sie gestanden hatte — Sebastian hatte es benutzt -, und las den Zettel noch einmal durch.

Victoria!

Ich reite zu Max. Du sollst wissen, dass ich dich immer lieben werde, obwohl du so dumm warst, dich für einen anderen zu entscheiden. Aus diesem Grunde gehe ich, auch wenn ich nicht weiß, was mich erwartet. Frag Wayren nach Rosamundes Prophezeiungen. Sag ihr, dass ich das lang gegebene Versprechen einlösen werde. Pass gut auf dich und den neuen Gardella auf.

Verflixt und zugenäht. Verflixt und zugenäht.

Das sah Sebastian mal wieder ähnlich, einen Abschiedsbrief zu schreiben, der sowohl Hoffnung als auch Schmerz bescherte. Sie faltete den Zettel einmal, zweimal, dreimal. Der neue Gardella.

Wusste er es genau oder riet er nur? Oder war das einfach Sebastian, der versuchte amüsant zu sein? Sie selbst vermutete es erst seit kurzem. Sebastian, du Dummkopf, ich brauche auch dich. Würde sie jetzt alle beide verlieren?

Sie warf wieder einen Blick auf den Berg, der jetzt fast zwei Tagesritte entfernt war. Er erhob sich violett-schwarz in der Ferne und wurde noch von der Sonne angestrahlt.

Gute Reise, Sebastian. Bring euch beide wohlbehalten zurück.