33

Decker legte das Album auf den Couchtisch und beobachtete, wie Ness es fixierte. »Wie geht’s Ihnen, Mike?« fragte er.

Die blauen Augen richteten sich ruckartig nach oben und konzentrierten sich nun auf Deckers Gesicht.

»Kommen Sie rein und reden Sie es sich von der Seele«, sagte Marge.

Ness machte leise die Tür zu. Er trug eine abgeschnittene Jeans, ein erbsengrünes Muskelshirt und Nikes. Seine nackten Beine waren kräftig behaart. Auch unter den Achselhöhlen hatte er lange schwarze Haare. Er nahm einen Schluck aus einer Thermoskanne, dann wischte er sich den Mund mit dem Arm ab.

Einen Augenblick sagte niemand etwas.

Schließlich sagte Ness: »Davidas Anwalt hat Eubie und meine Schwester bereits letzte Nacht ohne Kaution freigekriegt. Kell und Eubie waren heute morgen schon wieder bei der Arbeit. Das muß doch wohl heißen, daß Sie nichts Wesentliches gegen die beiden in der Hand haben.«

Decker wartete ab.

»Was Davida betrifft …« Ness lachte leise. »Sie meinen, Sie haben Freddy auf Ihrer Seite? Vergessen Sie’s, Sergeant. Davida hat ihn fest an den Eiern. Sie umgurrt und umturtelt ihn … und schon tut er wieder, was sie will. Sie haben Ihre Zeit verplempert.«

»Alle mäkeln ständig an uns rum«, sagte Marge.

»Meine Schwester war eine Einserschülerin und hat sich noch nie etwas zuschulden kommen lassen. Wenn Sie ihr den Mord nicht anhängen können – und das können Sie nicht, weil sie niemanden umgebracht hat –, was hat sie dann zu befürchten? Zwei Jahre auf Bewährung wegen Behinderung der Justiz und Verfälschung von Beweismaterial … irgend so was.«

»Wollen Sie meine Meinung wissen?« fragte Decker.

»Im Prinzip schon.«

»Was die rechtliche Seite betrifft, dazu kann ich nichts sagen«, erklärte Decker. »Haben Sie irgendwas auf dem Herzen, Mike?«

Ness’ Blick wanderte wieder zu dem Jahrbuch. »Brauchen Sie das Ding da?«

»Es ist ein Beweisstück«, sagte Decker.

»Wofür?«

Decker war sich nicht sicher und antwortete nicht.

Ness senkte den Blick. »Hören Sie, Detective … das einzige, was dieses Buch anrichten kann, ist, mein ohnehin schon beschissenes Leben noch beschissener zu machen. Sie haben nichts, woraus sich ein Fall machen ließe. Und Sie werden auch keinen zusammenkriegen. Aber wenn Sie mir das Jahrbuch geben, könnte ich Ihnen vielleicht eine kleine Nachhilfestunde geben – alles rein hypothetisch natürlich.«

Decker schwieg weiter.

»Sie wissen schon, ein paar Lücken ausfüllen«, sagte Ness. »Solange Ihnen klar ist, daß ich lediglich meine Meinung wiedergebe. Sie können mir drohen, womit Sie wollen. Ich werde mich niemals gegen Davida wenden.«

»Warum schützen Sie sie?« fragte Marge.

»Das hat nichts mit Loyaltität oder so was zu tun.« Ness schlenderte ganz gemächlich zur Bar und schenkte sich einen Fingerbreit Chivas ein. »Aber man kann sich nicht gegen Davida wenden und als Sieger daraus hervorgehen. Wenn du sie nicht besiegen kannst, et cetera, et cetera, et cetera.«

»Haben Sie nicht doch etwas auf dem Herzen, Mike?« sagte Marge.

»Nichts Spezielles.« Mike nippte an seinem Scotch. »Hören Sie, Sie haben nichts gegen mich in der Hand. Und Sie werden auch nichts gegen mich kriegen, solange ich über Davida den Mund halte. Wenn Sie ein paar Informationen wollen – oder ich sollte vielleicht besser sagen ein paar weise Worte von mir – okay. Wenn nicht … bin ich hier raus. Was das da betrifft« – er zeigte auf das Album – »ich kann Sie zwar nicht zwingen, es Lilah nicht zu zeigen, aber es wäre nett, wenn Sie’s nicht täten. Das würde nämlich vermutlich Kelley und mich unsere Jobs kosten. Lilah ist in mancher Hinsicht ein bißchen prüde.«

Decker nahm das Jahrbuch in die Hand und blätterte darin herum. »Michelle Ness, was?«

Ness wurde blaß, sagte aber nichts. Decker merkte, wie ihm der Kopf schwirrte. Was war denn das große Geheimnis? Daß er als Jugendlicher Frauenkleider getragen hatte? Hatten seine Eltern seine Genitalien verstümmelt? Decker legte das Album auf seinen Schoß. »Mike, wenn Sie ein bißchen Konversation mit uns machen wollen, ist das Ihre Entscheidung.«

»Solange Ihnen klar ist, daß das alles rein hypothetisch ist. Was für Perlen möchten Sie denn aus meinem wunderbaren Gehirn fischen?«

»Wie ist Kingston Merritt in Lilahs inneren Safe gekommen?« fragte Marge.

»Ich würde sagen, jemand hat eine High-Tech-Kamera in Lilahs Wandschrank versteckt und sie gefilmt, während sie den Safe öffnete.«

»Ihre kleine Videokamera«, sagte Marge.

»Deshalb nennt man Sie also Detective!«

»Könnten wir die neckischen Bemerkungen vielleicht sein lassen?« sagte Decker.

Ness atmete kräftig aus. »Tut mir leid. Ich werd immer biestig, wenn ich nervös bin. Ich glaub zwar nicht, daß es genau diese Kamera war, aber etwas in der Art. Ein ganz normaler Camcorder, an dem man ein paar Veränderungen vorgenommen hat – den Motor leiser gemacht und die Kamera dann am Deckenventilator in Lilas Wandschrank befestigt. So daß jedes Mal, wenn sie das Licht im Schrank anschaltet, die Kamera zusammen mit dem Ventilator anspringt. Das Summen des Ventilators übertönt das Geräusch von dem Motor des Camcorders.«

»Wie lange haben Sie gebraucht, bis Sie die Kombination aufgezeichnet hatten?« fragte Decker.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, ich mache nämlich nichts Illegales. Aber ich würde meinen, im Durchschnitt etwa sieben Monate – ungefähr zwanzig Filmsequenzen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Selbst dann wäre es noch schwierig, es auf den Videos richtig zu erkennen. Unter Umständen braucht derjenige noch einen ganzen Monat, um immer mal wieder an der Zahlenscheibe herumzuprobieren, bis er endlich die richtige Kombination hat. Und derjenige würde so schlau sein, hinterher alle Bänder zu vernichten.«

»Warum haben Sie die Memoiren nicht einfach an sich genommen, als Sie den Safe schließlich öffnen konnten?« fragte Marge.

»Ich hab nichts davon gesagt, ich hätte den Safe geöffnet …«

»Mike …«

»Ich hab’ nur eine Vermutung aufgestellt, wie man den inneren Safe hätte öffnen können.«

»Warum hat dann derjenige, der den Safe geöffnet hat, nicht gleich den Inhalt an sich genommen?«

»Das werden Sie wohl die Queen Bee, unsere Bienenkönigin, fragen müssen. Sie hatte ganz genaue Vorstellungen, wie die Sache geregelt werden sollte. Einer besorgt die Kombination, ein anderer lenkt das Opfer ab, indem er es zum Essen ausführt, und noch ein anderer macht den eigentlichen Diebstahl. Miss Q-Bee wollte so viele Leute wie möglich in die Sache hineinziehen. Je mehr sie gegen andere in der Hand hat, um so besser für sie. Damit sie die Leute benutzen kann.«

»Womit hat sie die Leute bestochen?« fragte Marge.

»Je nach Person. Den Doktor, der komische Sachen mit Föten macht, mit viel Geld – viel mehr, als er je mit Abstrichen verdienen könnte. Den schwächeren Sohn mit der Anerkennung von Mama und vielleicht noch mit ein paar Dollar, um ihn bei Laune zu halten. Bei so niederen Kreaturen wie mir klappt’s mit Erpressung. Vielleicht will ich nicht, daß bestimmte Dinge aus meiner Vergangenheit meiner Chefin zu Ohren kommen – könnte meine Schwester und mich um den Job bringen.«

»Wie ist Davida daran gekommen?« Decker klopfte auf das Jahrbuch.

Ness wirkte angewidert. »Kurz nachdem ich mal hier zu Besuch war, wurde in das Zimmer meiner Schwester eingebrochen. Es wurden jedoch nur ein paar persönliche Dinge gestohlen. Kelley glaubte, es sei ein etwas merkwürdiger Typ gewesen, der in der Küche arbeitet und in sie verknallt war. Sie wollte allerdings deshalb kein Theater machen. Sie war gerade neu hier, und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel ihr dieser Job bedeutete. Endlich unabhängig und so … Wie dem auch sei, sie sagte nichts von dem Einbruch. Dann kriegte ich eines Tages einen Anruf von einer Person, deren Namen ich nicht nennen möchte. Einbrüche und das Verschwinden persönlicher Dinge … sehen Sie da irgendeine Parallele? Der Modus operandi der Q-Bee.«

»Warum sollte Davida in Kelleys Zimmer einbrechen und ausgerechnet Ihr Jahrbuch stehlen?« fragte Marge.

»Q-Bee hatte es vermutlich nicht ausdrücklich auf das Jahrbuch abgesehen. Sie suchte einfach was, womit sie Mitarbeiter unter Druck setzen konnte. Das ist typisch Miss Bee. Möglichst gegen jeden was in der Hand haben.« Ness starrte auf das Jahrbuch. »Gegen mich hat sie sofort einen Treffer gelandet. Also wurde ich einer ihrer Laufburschen, genau wie ihre Söhne. Bloß daß sie von mir mehr erwartete.«

»Hatten Sie eine Affäre mit ihr?« fragte Marge.

»Warum reden Sie in der Vergangenheit?« Ness runzelte die Stirn. »Aber was spielt das überhaupt noch für eine Rolle?«

»Was ist im Fall von Kingston Merritt passiert?« fragte Marge.

Ness schob sich die Haare aus den Augen. »Ich würde sagen, da hat jemand seine Laufburschen falsch eingeschätzt. Ich verstehe nicht, wie man so einen Dreckskerl wie Russ schicken kann, wenn jemand wie ich zur Verfügung steht.« Er hielt inne. »Sie hat behauptet, sie hätte mich schützen wollen. Vielleicht stimmt das ja sogar.«

»Was ist also passiert, nachdem sie Russ in Kingstons Praxis geschickt hat?« fragte Marge.

»Wer weiß?« sagte Ness. »Ich war nicht dabei. Das nächste, was ich höre, ist, daß ich in Kings Büro nachsehen gehen soll.« Er atmete tief ein und langsam wieder aus. »Russ und King … beide schwammen in Blut. Ich hab schon einen starken Magen, aber … dieser Geruch … ich bin so schnell ich konnte wieder raus.«

»Dann haben Sie Eubie dazu gebracht, sich um Russ’ Leiche zu kümmern?« fragte Marge.

»Lesen Sie doch noch mal die Aussagen von Eubie und Kelley«, sagte Ness.

»Eubie war bereit, Ihnen zu helfen, weil er Ihnen was schuldig war, nicht wahr, Mike?« sagte Decker. »Weil Sie ihm für die Nacht, in der Lilah vergewaltigt wurde, ein Alibi gegeben haben.«

»Das war nicht das erste Mal«, sagte Ness. »Eubie ist ein Typ mit einem sensiblen Näschen und einem sehr lockeren Reißverschluß. Lilah hätte ihn längst gefeuert, wenn ich mich nicht eingemischt hätte.«

»Warum haben Sie das getan?«

»Weil ich ein Idiot bin, deshalb.«

»Hat Davida den Auftrag gegeben, ihren eigenen Sohn zu ermorden?« fragte Marge.

»Q-Bee ist zwar eine kaltblütige Schlange, aber das ist nicht ihr Stil.« Ness zuckte die Achseln. »Sie hat die Leute lieber lebendig, damit sie sie besser aussaugen kann. Ich glaube, daß Davida die Wahrheit sagt – daß die beiden sich gegenseitig erschossen haben. Aber wissen tu ich es natürlich nicht, weil ich nicht dabei war.«

»Aber Sie haben in Merritts Büro nachgesehen.«

Ness zuckte erneut die Achseln. »Was spielt das denn für eine Rolle? Ist ja eh alles nur reine Theorie von mir.«

»In Merritts Büro wurden zwei Männer erschossen, aber es wurden dort keine Waffen gefunden, Mike«, sagte Decker. »Haben Sie zufällig auch eine Theorie bezüglich der Waffen?«

»Vielleicht sollte man eher fragen, was ist aus den Waffen geworden? Und die Antwort könnte lauten: Walzblech. Recycling ist sehr gut für die Umwelt. Können wir jetzt dieses Thema beenden und diesen ganzen Schlamassel vergessen?«

»Schlamassel ist das richtige Wort«, sagte Marge.

»Yeah, das war echt ein Schlamassel.« Ness schwieg einen Augenblick. »Nicht daß es nicht auch sein Gutes gehabt hätte. Nachdem wir uns erst mal über die Grundregeln geeinigt hatten, war Q-Bee ganz umgänglich. Wußten Sie schon, daß Davida eine eigene Beauty-Farm aufziehen will … noch viel toller als VALCAN. Wir dachten, Palm Springs wäre ein guter Ort.«

»Wir?« sagte Marge.

»Kelley und ich wären dann stille Teilhaber«, sagte Ness. »Unsere Sachkenntnis ist unser Beitrag zu der Partnerschaft. Wir haben schon fast alle Papiere unterzeichnet – es müssen nur noch ein paar Kleinigkeiten ausgebügelt werden. Endlich krieg auch ich mein Stück vom Kuchen. Kelley und ich haben eine Menge von Lilah gelernt. Aber es wird Zeit für was Neues.«

»Sie machen Lilah also Konkurrenz«, sagte Marge.

Ness grinste. »Ich mache Lilah keine Konkurrenz, Detective. Das tut Davida.« Er sah zum wiederholten Mal auf seine Uhr, dann auf das Jahrbuch. »Kann ich das haben?«

»Warum ist das so wichtig für Sie, Mike?« sagte Decker. »Sie hätten Lilah doch einfach erzählen können, der Name Michelle Ness sei ein Druckfehler.«

Ness’ Lachen klang gezwungen. »Sie haben sich das offenbar nicht sehr genau angeguckt. Im Gegensatz zu Davida.«

»Was haben wir denn übersehen?« fragte Marge.

Ness begrub sein Gesicht in den Händen, dann blickte er auf. »Was soll’s? Ich bin schon so oft gedemütigt worden, da kommt’s auf einmal mehr auch nicht an. Vielleicht haben Sie ja sogar Mitleid mit mir.«

Im Zimmer herrschte Stille.

»Mike Ness«, flüsterte er schließlich. »Alias Michelle Ness – Tennis-Team, Volleyball-Team, Softball-Team, Basketball-Team und … Cheerleader-Truppe.« Er lachte leise. »Ja, ich war Cheerleader. Kein Mädel auf der Welt konnte so hoch springen wie ich. Das kam von all den Hormonen, wissen Sie.«

»Sie haben männliche Hormone genommen?« fragte Marge.

»Die brauchte ich nicht zu nehmen, Detective. Die hatte ich von Geburt an. Wenn Sie sich meine Geburtsurkunde ansehen, werden Sie feststellen, daß ich ein männliches Wesen bin.«

»Das wissen wir.«

»Sie wissen …«, Ness lachte. »Sie sind ja wirklich eifrig. Kann ich jetzt das Album haben?«

»Noch eine Frage, Mike«, sagte Decker.

»Ich weiß schon, was kommt. Eine Variante der alten Frage: Wer bin ich? In diesem Fall heißt sie: Was bin ich?«

Decker schwieg. Er beobachtete, wie Ness sich einen weiteren Scotch einschenkte. Er schien sich hier zu Hause zu fühlen. Decker fragte sich, wie oft Davida ihn hierher bestellt hatte – mit sexuellen oder anderen Wünschen. Ness nahm einen großen Schluck Whisky.

»Ich leide an einer sogenannten kortikalen Adrenalhyperplasie. Mir fehlt dieses eine Enzym … eine genetische Panne. Ohne dieses Enzym spielen die Nebennierendrüsen verrückt und stoßen literweise zusätzliche Hormone aus – Androgene.«

Er sah sie an. Seine Augen blitzten vor Wut.

»Wissen Sie, was Androgene bei Föten tun? Sie machen aus kleinen Mädchen kleine Jungen. Erst als ich anderthalb war, kam irgendein Arzt darauf, daß meine Hoden sich nicht senken würden, weil ich keine hatte. Ich war ein Mädchen, das mit zusammengewachsenen Schamlippen geboren worden war, die wie ein Hodensack aussahen, und mit einer Klitoris so groß wie ein Pimmel. Ich bin so geworden, weil meine Nebenniere mich von der Zeugung an mit Testosteron gefüttert hatte.«

Er trank einen weiteren Schluck Whisky.

»Dieser Zustand war nicht lebensbedrohlich. Meine Mutter hätte überhaupt nichts deswegen tun müssen, sondern hätte mich einfach als Jungen aufwachsen lassen können. Außer der Tatsache, daß ich unfruchtbar wäre und einen kleinen Pimmel hätte – klein, aber seiner Aufgabe durchaus gewachsen –, hätte ich ein ziemlich normales Leben führen können.

Aber meine Mutter wollte das nicht. Meine Chromosomen sagten, ich sei ein Mädchen, und Mom glaubte fest an Gottes Plan. Wenn Gott gewollt hätte, daß ich ein Junge bin, hätte er einen richtigen Jungen aus mir gemacht. Also beschloß Mom, mich zu einem Mädchen zu machen. Also … zogen wir in eine andere Gegend. Nachdem ich anderthalb Jahre lang Michael gewesen war, Overalls getragen und mit Feuerwehrmännern gespielt hatte, wurde ich plötzlich Michelle, trug Kleider und spielte mit Puppen. Ich kann mich erinnern, daß mich das sehr durcheinandergebracht hat.«

Er trank seinen Whisky aus und schenkte sich rasch einen neuen ein.

»Mal überlegen, ich hab Kortison geschluckt, dann ein Östrogen nach dem anderen. Meine Eltern hätten mich sofort einem korrigierenden Eingriff unterziehen lassen können, aber Mom war eine absolute Perfektionistin. Und da ich alles andere als perfekt war, bestand sie darauf, mich vom besten Chirurgen des Landes behandeln zu lassen, was ein Vermögen kostete. Sie und Dad beschlossen, so lange zu sparen, bis sie es sich leisten konnten. Derweil war ich ein kleines Mädchen mit einer Wölbung in der Unterhose. Ich begriff sehr rasch, daß man seine Geschlechtsteile zu verbergen hatte. Durch die Hormontherapie schrumpfte mein Pimmel ein bißchen, aber ich sah nie wie ein richtiges Mädchen aus. Vor allem, ich fühlte mich nie wie ein Mädchen.«

Er starrte in seinen Drink.

»Ich wäre am liebsten gestorben. Das einzige, was mich am Leben erhielt, war Kelley. Gott, wie ich sie liebte. Ich war ein Monster, und sie war perfekt. Ein perfektes kleines Mädchen mit einem perfekten kleinen Körper. Sie verhielt sich auch wie ein kleines Mädchen … etwas, das ich nie hingekriegt hab. Zum Beispiel schrie sie, wenn sie Spinnen oder Würmer sah.« Er hob seine Stimme um mindestens eine Oktave: »Mitchy, Mitchy, mach es tot, mach es tot!«

Er lachte.

»Ich war ihr Insektenkiller. Kell lief ständig hinter mir her und hat mich auf jeden gehetzt, der sie gezankt hat. Alle wußten, daß Kelleys Schwester niemandem etwas durchgehen ließ.«

Er rieb sein Gesicht mit den Händen.

»Natürlich wurde während der Pubertät alles schlimmer. Ich hab meine Medikamente nicht mehr regelmäßig genommen, weil ich haßte, wie ich mich danach fühlte – schwach und launisch. Sobald ich mit den Medikamenten schlampte, begann ich mich zurückzuentwickeln – Haare an den Beinen, Flaum im Gesicht, eine tiefere Stimme. Es ging so langsam, daß die Leute es zuerst gar nicht merkten. Nach außen hin verwandelte ich mich nur in ein richtig häßliches Mädchen. Was das Ganze zu einem echten Albtraum machte, war, daß ich anfing, mich für Mädchen zu interessieren. Der Sportunterricht war ein schlechter Witz – ich, wie ich all die nackten Mädchen anschaute und unter dem Handtuch einen Ständer kriegte.«

Betretenes Schweigen.

»Ich hatte keinen einzigen Freund auf der Welt außer Kelley«, sagte Ness schließlich. »Ich war ein verdammter Freak. Aber ich konnte Spagat machen wie kein anderes Mädchen.« Er lachte. »Die ganzen tollen Mädchen waren stinksauer, als ich Cheerleader wurde. Natürlich konnten sie nicht laut lästern, denn ich war nicht nur stark, sondern auch ziemlich fies. Wenn ein Mädchen mir oder meiner Schwester dumm kam, hab ich sie mir vorgeknöpft. Sie wußten, daß ich es ernst meinte.«

Er lachte leise.

»Die Freunde der Mädels haben versucht, mich einzuschüchtern – mich geschubst, geschlagen, mich an den Haaren gezogen. Dann bin ich auf sie drauf und hab sie ordentlich verdroschen. Die Typen haben nicht richtig zugeschlagen, weil sie mich ja für ein Mädchen hielten. Deshalb haben sie ihre ganze Energie darauf verschwendet, meine Schläge abzuwehren. Bis ihnen klar wurde, daß ich nicht wie ein Mädchen kämpfte, hatte ich sie bereits ziemlich fertiggemacht. Sie haben nie gewagt, mich zu verpetzen – das wäre zu peinlich gewesen. Selbst ich hatte einige wenige Sternstunden.«

Bei der Erinnerung daran lächelte er erneut.

»Schließlich ließen mich alle einfach links liegen. Das machte das Leben zwar nicht schön, aber zumindest hatte ich meine Ruhe. Dann kamen meine wunderbaren Eltern eines Tages an und verkündeten, sie hätten jetzt genügend Geld gespart, um mir eine erstklassige Operation zu bezahlen.«

Er suchte Blickkontakt zu Decker.

»Wissen Sie, was sie zu mir gesagt haben, Sergeant? Wir bringen dich zu einem Arzt, und der schneidet dir das ab, was von deinem Pimmelchen noch übrig ist.«

Er schüttelte heftig den Kopf.

»Das kam für mich überhaupt nicht in Frage! Ich besaß die Unverschämtheit, meinen Eltern zu sagen, daß ich ein Junge sein wollte – Scheiß auf die Medikamente, Scheiß auf die Operation, Scheiß auf den Abschlußball in der Schule – was meine Mutter besonders ärgerte, weil sie hundert Dollar für mein Kleid ausgegeben hatte.

Meine ach so wunderbaren Eltern erklärten mir prompt, sie würden mich verstoßen, wenn ich wieder ein Junge würde. Was sie dann auch taten. Die einzige, die zu mir gehalten hat, war Kelley. Also haben sie ihr zugesetzt. Schließlich haben sie sie rausgeschmissen, weil es ständig Krach gab. Sie war erst siebzehn und hatte keine Möglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Eine Einserschülerin, und sie haben ihr keinen roten Heller gegeben. Ich hab sie dann unterstützt. Ich hab uns eine Wohnung besorgt und ihr das College finanziert. Diesen ganzen Mist mußten meine Schwester und ich nur deshalb durchmachen, weil meine Eltern nicht akzeptieren wollten, was ihre genetischen Anlagen bei mir angerichtet hatten.«

Ness sah auf seine Uhr und stieß einen heftigen Atemzug aus. »Ich muß los … der Yoga-Kurs um fünf. Bin schon spät dran.«

Decker stand auf und warf Ness das Album zu. Ness fing es mit einer Hand und klemmte es unter seinen Arm.

»Ich hab Ihnen doch gesagt, daß ich Lilah nicht vergewaltigt hab.«

Decker antwortete nicht.

»Danke«, sagte Ness.

»Keine Ursache«, sagte Decker.

 

Decker war in gelassener Stimmung, als sie die Polizeistation betraten. Zwar hatten sie in Davidas Bungalow nichts gefunden – die Memoiren konnten sie vermutlich abschreiben –, aber zumindest würde er vor Beginn des Sabbats zu Hause sein und hätte sogar noch ein wenig Zeit. Hollander hob ächzend seinen Hintern vom Stuhl.

»Ihr zwei habt gerade Ms. Eversong verpaßt.«

»Ist sie weg?« fragte Marge.

»Vor ungefähr zwanzig Minuten. Wollt ihr nen Kaffee?«

Decker nahm die Zettel mit den telefonischen Nachrichten und begann sie durchzublättern. »Danke, Mike, Kaffee wär prima.«

»Die konnten sie nicht länger als eine Stunde hierbehalten?« klagte Marge.

»Man braucht einen Grund, um jemanden in Gewahrsam zu nehmen, Marge«, sagte Hollander. »Was können wir ihr schon anhängen? Daß sie ein Verbrechen nicht gemeldet hat?«

»Was ist mit Freddy?« sagte sie zu Decker. »Wir haben immer noch Freddy an der Hand.«

»Weißt du, was ich glaube, Margie?« sagte Decker. »Ich glaube, Ness hat recht. Freddy wird kneifen. Wir haben am Ende wahrscheinlich weniger in der Hand als am Anfang.«

»Sie ist also frei?«

»Ich fürchte schon«, sagte Hollander. »Und Morrison rechnet damit, daß sie uns wegen Belästigung verklagen wird. Doch diese Klage werden wir wohl abschmettern können. Habt ihr ihn in der Glotze gesehen? Ich fand, er gab eine ganz gute Figur ab. Euch beide hab ich allerdings nicht gesehen.«

»Du hast nicht gesehen, wie ich ›Hi, Mom‹ gesagt hab?« fragte Marge.

»Dieses Stück Band liegt vermutlich auf irgendeinem Schneidetisch«, sagte Decker.

»Yeah, die ganze Geschichte flimmerte nur ein paar Sekunden über den Bildschirm«, sagte Hollander. »Und jetzt, wo Davida entlassen ist, ist es schon Schnee von gestern.«

»Wo ist Morrison?« fragte Decker.

»Nicht da.« Hollander zuckte die Achseln. »Er hat euch aber eine Nachricht hinterlassen. Auf deinem Schreibtisch, Rabbi.«

Decker ging zu seinem Platz und nahm den neutralen weißen Briefumschlag, der auf seinem Schreibtisch lag. Er zog ein Blatt heraus und las Marge vor, was darauf stand.

»Burbanks vorläufiges Ergebnis im Mordfall Merritt stimmt mit Davidas Darstellung überein, sie werden jedoch noch weitere Untersuchungen machen … Devonshire ermittelt weiter im Fall Donnally … der Überfall auf Lilah wurde als gestellt befunden … Davidas Schmuck ist wieder aufgetaucht … die Anklage gegen Totes wurde fallen gelassen. Gute Arbeit … Zeit für was Neues.«

»Das ist alles?«

»Sieht so aus.«

»Das stinkt zum Himmel!« Marge schlug mit der Faust gegen den Schreibtisch. »Ich werde an der Sache dran bleiben.«

»Solltest du aber besser in deiner Freizeit tun, Detective«, sagte Hollander. »Ich hab mir erlaubt, dir einen neuen Fall aufs Auge zu drücken. Eine junge Frau wurde am hellichten Tag in der Tiefgarage eines Einkaufszentrums überfallen. Man hat ihre Personalien aufgenommen und sie dann nach Hause geschickt. Ich hab mich mit ihr in Verbindung gesetzt und schon mal mit dem Papierkram angefangen. Sie ist total verängstigt, und ich hatte Mühe, überhaupt an sie ranzukommen. Sie ist sofort drauf angesprungen, als ich sie fragte, ob sie einen weiblichen Detective wollte. Du solltest vermutlich noch vor dem Wochenende mit ihr reden. Ich nehm dir dafür deine beiden Jugendlichen ab.«

Marge ließ sich auf ihren Stuhl fallen und stützte das Kinn in die Hände.

In dem Moment stöhnte Decker laut auf und reichte ihr einen Zettel mit einer Nachricht. »Ich fing gerade an zu glauben, ich hätt’s hinter mir«, sagte er.

»Sun Valley Pres«, sagte Marge. »Lilah ist also offenbar noch nicht verlegt worden. Rufst du sie zurück?«

»Was bleibt mir denn anderes übrig?«

»Du kannst es bis Montag aufschieben.«

»Könnte ich. Und dann bringt sie sich am Wochenende um, und ich fühl mich für den Rest meines Lebens schuldig.« Er nahm Marges Telefon und wählte die Nummer, die auf dem Zettel stand. »Ich hasse das.«

Marge klopfte ihm sanft den Rücken. »Ist es nicht lästig, ein Gewissen zu haben?«

»Verdammt, es klingelt tatsächlich«, sagte Decker. »Vielleicht knallt sie mir ja den Hörer auf.«

Lilah meldete sich mit Hallo. Ihre Stimme war tief und sexy. Decker merkte, wie sich ihm der Magen verkrampfte. »Lilah, hier ist Detective Sergeant …«

»Meine Mutter hat mich vor knapp zehn Minuten angerufen! Wissen Sie, was sie mir erzählt hat?«

»Lilah …«

»Sie hat mir erzählt, Sie hätten sie zum Verhör auf die Polizei bringen lassen!«

»Li …«

»Sie hat mir erzählt, daß es von Presse nur so wimmelte. Die haben sie fotografiert, als sie in einem Polizeiauto saß. Und sie hat mir erzählt, Sie hätten ihre Wohnung auseinandergenommen.«

»Wir hatten einen Durchsuchungsbefehl …«

»Um eine Möglichkeit zu finden, sie zu ruinieren …«

»Überhaupt nicht …«

»Daß Sie Lügen über sie verbreitet haben!«

»Ich hab gar nichts verbreitet …«

»Lügen über sie, Lügen über mich, Lügen über Kingston!«

»Lilah …«

»Und dann hat sie noch gesagt, Sie hätten behauptet, ich hätte ihren Schmuck gestohlen. Haben Sie das gesagt, Peter?«

»Lilah …«

»Ich hab sie noch nie so wütend erlebt! Sie war außer sich! Hat getobt und geschrien!«

»Es ist nicht unsere Absicht …«

»Erzählen Sie mir doch keinen Müll! Sind Sie darauf aus, den guten Namen meiner Mutter zu ruinieren?«

»Wir wollten …«

»Augenblick mal, Peter. Ich habe Besuch bekommen.«

Decker hörte ein Murmeln im Hintergrund.

»Ich muß jetzt Schluß machen, Peter.« Ihre Stimme war plötzlich zuckersüß. »Mein lieber Bruder John ist hier«, schnurrte Lilah. »Mein Gott, ich hab ihn eine Ewigkeit nicht mehr gesehen! Er hat mir Orchideen mitgebracht, der Gute.«

Also war der gute Bruder gekommen. Wollte er sein Gewissen entlasten, weil er Lilah nicht besucht hatte, als sie angeblich vergewaltigt worden war? Oder hatte Davida es irgendwie geschafft, den armen Kerl als Ersatz für Kingston in die Familie zu locken? Zum Teufel damit, sagte Decker zu sich selbst. Das war alles nicht sein Problem. »Viel Spaß mit Ihrem Besuch, Lilah.«

»Sie haben Mutter als absolute Idiotin dastehen lassen.«

»Das war unbeabsichtigt«, sagte Decker.

»Das mag zwar sein, aber Sie haben es trotzdem getan!«

Plötzlich fing sie an zu kichern. »Gott, es ist wunderbar, die alte Zicke leiden zu sehen. Machen Sie weiter so, Peter!«

Sie hängte ein. Decker ebenfalls.