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Der frei stehende Safe in der hinteren Ecke des begehbaren Wandschranks im Schlafzimmer war offen und leer. Es war ein hüfthoher grüner Kasten aus sieben Zentimeter dicken, hochwertigen Stahlplatten mit einem Innensafe, der ebenfalls leer war. Während Benny, der Fingerabdruckexperte, das Innere des Safes mit Pulver bestäubte, tanzte Marge Dunn um die Glasscherben auf dem Boden herum und zeichnete einen Plan des Schlafzimmers, den sie in einzelne Abschnitte für die Spurensuche aufteilte.
Das ganze Zimmer war völlig durchwühlt worden; einige Möbel waren umgefallen. Sie sahen alt aus; zierliche, schlichte Stücke ohne Bogen und Verzierungen. Es hätten Kopien sein können, aber vermutlich waren es echte Antiquitäten. In dem ganzen Chaos lagen zahlreiche bestickte Kissen, Deckchen in knalligen Farben und sonstiger Zierrat. Lilah hatte ein Himmelbett, dessen zusammengeknüllte Tagesdecke aus Chenille war. Wie die Tagesdecke von meiner Oma, dachte Marge, weiß und mit lauter kleinen Troddeln besetzt. Sie mußte lächeln bei der Erinnerung, wie sie immer daran gezogen hatte, bis die Knoten aufgingen.
Zwei Bübchen in Uniform namens Bellingham und Potter standen herum. Sie waren zwar nicht direkt im Weg, taten aber auch nichts Produktives. Draußen sicherten bereits einige ihrer Kollegen den Tatort ab, so daß die beiden Knaben nicht gebraucht wurden. Marge rief sie zu sich.
Nett aussehende Bübchen – groß und schlank und glatt rasiert. Ihre Augen funkelten voller Tatendrang. Dieser Enthusiasmus gab Marge das deprimierende Gefühl, alt zu sein, obwohl sie gerade mal dreißig geworden war.
»Warum sehen Sie sich nicht mal ein bißchen in der Gegend um?« schlug sie vor. »Vielleicht hat irgendwer was gehört.«
Bellingham scharrte mit einem auf Hochglanz polierten Schuh auf dem Boden herum. »Sergeant Decker hat gesagt, wir sollen hier warten. Der nächste Nachbar ist die Beauty-Farm, und er wollte nicht, daß wir dort jemanden ohne ihn befragen. Aber wenn Sie wollen, Detective, gehn wir hin.«
Marge dachte einen Augenblick nach und zwirbelte dabei eine blonde Haarsträhne. Pete hatte recht. Diese Bubis waren nicht gewieft genug, um mit den Vulcaniern umzugehen.
»Mir ist dahinten ein Stall aufgefallen«, sagte Marge. »Sehn Sie sich dort mal um. Stellen Sie fest, ob da jemand ist, ob irgendwas verdächtig aussieht. Zählen Sie, wie viele Pferde im Stall stehen.«
»Machen wir, Detective«, sagte Potter. »Sollen wir Ihnen oder Sergeant Decker Bericht erstatten, falls wir was entdecken?«
»Egal wem«, sagte Marge. »Und halten Sie sich nicht zu lange damit auf. Sehn Sie sich bloß ein bißchen um, machen Sie sich ein paar Notizen und berichten. Dann gehn Sie wieder auf Streife. Sie beide arbeiten zusammen?«
»Ja, Ma’am … äh, Detective …« Bellingham wurde rot. »Entschuldigung.«
Marge lächelte und schlug ihm auf den Rücken. »Setzt eure Hintern in Bewegung.«
Als die beiden gegangen waren, war sie froh, etwas mehr Ellbogenfreiheit zu haben. Der Fotograf hatte gerade seine Arbeit beendet, also war nur noch Benny im Zimmer, und der befand sich gerade im Wandschrank. Die Jungs vom Labor untersuchten die Fenster und Türen an der Vorderseite des Hauses, und Pete war mit dem Dienstmädchen im Eßzimmer.
»Detective?« rief Benny.
»Ich komme.« Marge zwängte ihre mächtige Figur in den Schrank. Das war nicht ganz einfach, da Benny bereits den größten Teil des Platzes einnahm. Der Mann war groß und kräftig, aber nicht dick. Heute trug er ein gestärktes weißes Hemd und eine Hose mit scharfen Bügelfalten. Auf seiner Kleidung war kein Staubkorn zu sehen. Eindeutig der gepflegteste Labormann, mit dem sie je zusammengearbeitet hatte. »Was gibt’s?«
»Wir haben hier ein paar schöne Abdrücke.« Benny hatte eine tiefe Stimme. »Leider wiederholen sie sich. Sehen Sie hier … das ist ein rechter Zeigefinger. Er taucht zweimal auf. Hier haben wir einen Teil einer Handfläche und zwei rechte Daumen auf der Zahlenscheibe. Das da drüben ist ein Mittelfinger. Auf den inneren Zahlenscheiben haben wir dieselbe Handfläche und den Zeigefinger. Sehen Sie, wie klein die sind. Von einer Frau. Ich werde sie sichern, aber ich wette, daß sie von der Dame des Hauses stammen.«
»Sonst noch was?«
»Bisher nicht.«
Marge tat die fehlenden Spuren mit einem Achselzucken ab. Die meisten Täter hinterließen zwar nicht gerade eine Visitenkarte, aber irgendwelche verwertbaren Spuren fabrizierten sie fast alle. Selbst wenn sie nichts weiter fanden, gab es immer noch das Sperma. Marge konnte es riechen, als sie sich dem Bett näherte. Sie würde die Laken in Plastiktüten verpacken, sobald sie das Chaos, das darauf lag, durchgegangen war.
Sie ging ins Badezimmer. Die hell- und dunkelgrünen Keramikfliesen an den Wänden waren in makellosem Zustand. Die Wasserhähne waren zwar altmodisch, aber auf Hochglanz poliert und ohne jeden Kratzer. Innen an der Tür hing ein Spiegel mit schräg geschliffenen Kanten. Offene Glasregale dienten als Medizinschrank. Auf den Glasböden standen Tontöpfchen, die in Schönschrift beschriftet waren – Hamamelis, Fingerhut, Minze, Klee. Nicht die üblichen Medikamente, kein einziges verschreibungspflichtiges Mittel. Auf dem obersten Glasboden stand eine Schüssel mit nach Zimt duftenden Kiefernzapfen und Eicheln. Das Badezimmerfenster war aus durchsichtigem Glas. Ein Vorhang aus Glasperlenschnüren schützte vor neugierigen Blicken. Die Perlen warfen Regenbogen in allen Farben des Spektrums auf die Wände.
Wer auch immer das Schlafzimmer verwüstet hatte, für das Bad hatte er sich nicht interessiert.
Marge wandte sich wieder dem Schlafzimmer zu. Es war mit einer cremefarbenen Seidentapete tapeziert. Darauf prangten etliche Schwarzweißfotos von Lilah Brecht, wie sie gerade irgendeine Berühmtheit umschmeichelte. Oder vielleicht war es auch umgekehrt. Die Stars wirkten jedenfalls begeistert, auf dem Foto sein zu dürfen. Sämtliche Fotos waren signiert.
Für Lilah und Valley Canyon: mit den herzlichsten Grüßen, Georgina DeRafters.
Für Lilah Brecht, die einzige Frau, die mich je ohne Makeup gesehen hat. Halt mir die Zellulitis von den Oberschenkeln. Alles Liebe, Ann Milo.
Georgina DeRafters und Ann Milo, altgediente Schauspielerinnen, die ausschließlich B-Movies gemacht hatten. Die großen Stars hingen vermutlich an den Wänden der Beauty-Farm. Wie mochte das auf die weniger Prominenten wirken? Bemerkten sie es überhaupt? Mußten sie wohl; alle Schauspielerinnen sind narzißtisch. Was mochte Lilah ihnen sagen, nachdem sie ihr Hunderte Dollar pro Tag gezahlt hatten und dann noch nicht mal ihr Foto an der Wand sahen?
Meine engsten und liebsten Freundinnen behalte ich zu Hause?
Marge zuckte die Achseln. Für jedes Foto, das noch an der Wand hing, lag mindestens eins irgendwo im Zimmer. Das Glas vor den Bildern war ganz bewußt zerstört worden, als ob jemand die Fotos von der Wand genommen und mit einem Hammer darauf geschlagen hätte. In der Mitte jeder Scheibe war ein Loch, von dem aus Risse strahlenförmig zum Rand verliefen. Im Zimmer funkelte es von all dem Glas, in dem sich das helle Morgenlicht widerspiegelte. Die Sonnenstrahlen kamen durch zwei große Fenster herein – eins auf der Ost- und eins auf der Nordseite. Pete hatte die Schlafzimmerfenster verschlossen vorgefunden. Die Männer vom Labor hatten an den Rahmen keine Einbruchsspuren entdeckt.
Die Nachttische zu beiden Seiten des Betts waren umgeworfen worden, die Lampen nur noch ein Haufen Scherben. Durch den bloßen Aufprall auf dem Boden konnten die Keramiksockel der Lampen nicht so zertrümmert worden sein. So groß war die Entfernung zwischen Tisch und Fußboden nicht. Jemand mußte die Dinger regelrecht zerschmettert haben.
Jemand, der offenbar stinksauer gewesen war.
Die Frisierkommode war ausgeräumt und sämtliche Schubladen waren herausgezogen und ausgekippt worden. Kleidung lag achtlos herum.
Nur Lilahs Schlafzimmer war verwüstet worden.
Vielleicht hatte der Täter erwartet, etwas Bestimmtes im Safe zu finden. Und als es nicht da war, hat er das gesamte Schlafzimmer durchsucht.
Aber warum wurde dann das übrige Haus nicht durchwühlt?
Vielleicht hat er gefunden, was er wollte.
Dann hat er sie vergewaltigt.
Vorsichtig betastete Marge mit Handschuhen das zerbrochene Glas auf dem Bett. Sie würde Benny bitten, die Scherben einzupacken. Vielleicht hatte sich ja jemand daran geschnitten und Blutspuren hinterlassen. In dem Moment kam der Fingerabdruckexperte aus dem Wandschrank.
»Ich bin da drinnen fertig, Detective. Wenn Sie nach weiteren Anhaltspunkten suchen wollen, bitte schön. Ich fang jetzt an, die Wände einzustauben.«
»Haben Sie außer den weiblichen Fingerabdrücken noch was gefunden?«
Benny schüttelte den Kopf.
»Detective?«
Marge drehte sich um. Officer Bellingham war zurückgekommen und machte ein sehr ernstes Gesicht.
»Wir haben gerade mit dem Stallburschen gesprochen. Ich glaube, Sie sollten ihn sich selbst vornehmen.«
»Ein Stallbursche?«
»Ja, Ma … Detective. Er behauptet, er wohnt dort. In einer der Boxen gibt es eine kleine Kochplatte, einige Kochutensilien und Arbeitskleidung. Und vor dem Stall ist eine chemische Toilette. Er könnte die Wahrheit sagen. Aber ich glaube, der Mann ist nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte.«
»Er ist geistig behindert?«
»Oder sehr dumm, Detective. Er antwortet nur in Einwortsätzen und sieht einem nicht in die Augen. Sehr verdächtig. Natürlich behauptet er, er hätte nichts gehört. Und der Stall ist ja auch ziemlich weit vom Haus entfernt. Aber ich glaube, dieser Mann sollte richtig vernommen werden. Officer Potter ist noch bei ihm. Sollen wir ihn herbringen?«
»Nein, ich geh selbst zum Stall. Sie sorgen dafür, daß niemand Unbefugtes das Schlafzimmer betritt. Hat dieser Stallbursche auch einen Namen?«
»Carl Totes. Er sagte, er arbeitet schon seit vielen Jahren für Miss Brecht. Wie bereits gesagt, es sieht so aus, als würde er tatsächlich in dem Stall hausen, aber ich glaube, er könnte als Verdächtiger in Frage kommen.«
»Ich kümmer mich drum.«
»Ach übrigens, Detective, es gibt sechs Boxen, und fünf Pferde stehen im Stall.«
Marge klopfte ihm den Rücken. »Gut gemacht, Officer.«
Bellingham versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken, doch es gelang ihm nicht ganz. Sein linker Mundwinkel verzog sich nach oben. Mit schiefen Lippen sagte er: »Danke, Detective.«
Nach einer halben Stunde und drei Tassen Tee hatte sich das Hausmädchen allmählich beruhigt. Sie hieß Mercedes Casagrande, war fünfunddreißig, stammte aus Guatemala und arbeitete seit sieben Jahren für Lilah Brecht. Die Antworten sprudelten nicht gerade aus ihr hervor, doch trotz aller Reserviertheit hatte Decker das Gefühl, daß sie helfen wollte. Sie wollte bloß ihren Job nicht in Gefahr bringen und auch nicht die Privatsphäre der Patrona verletzen.
Sie saßen an einem ovalen Tisch im Eßzimmer. Der Raum war mit Möbeln aus dem frühen 20. Jahrhundert ausgestattet. Das gesamte Haus war im Stil des Art Déco oder des Art Nouveau eingerichtet. Decker hatte sich den Unterschied zwischen den beiden Epochen noch nie merken können. Nachdem er eine Weile mit dem Dienstmädchen geplaudert hatte, begann sie sich zu entspannen und seine Fragen in holprigem Englisch zu beantworten.
Decker nahm seinen Notizblock heraus und fragte: »Wie viele Tage pro Woche arbeiten Sie für Missy Lilah?«
»Ich arbeite jeden Tag außer Samstag und Sonntag. Da arbeite ich nicht, da geh ich in Kirche.«
»Wie sehen Ihre Arbeitszeiten aus?«
»Sieben bis fünf. Aber manchmal ich arbeite diferente Zeiten. Wenn Missy Lilah abends Hilfe für Dinner braucht, ich arbeite elf bis acht oder neun Uhr. Wenn einer auf mein Kinder aufpaßt.«
»Übernachten Sie schon mal hier?« fragte Decker.
»Nein.« Mercedes schüttelte den Kopf. »No duermo en la casa, no.«
»Sie waren also gestern nicht hier?«
»Doch, gestern gearbeitet.«
»Aber es war Sonntag.«
Mercedes schien verwirrt. »Ich nur vier Stunden gearbeitet. Missy Lilah ruft mich an und sagt, Haus steht auf Kopf. Also ich komme. Das ist nicht jede Woche. Ich arbeite vielleicht einmal in Monat sonntags. Aber nur, wenn einer auf mein Kinder aufpaßt.«
»Um wie viel Uhr sind Sie nach Hause gegangen?«
»Ich fünf, vielleicht halb sechs gegangen. Alles okay. Missy Lilah sagt, sie geht mit ihrem Bruder aus, also muß ich nichts zu essen machen.«
Decker strich über seinen Schnurrbart. »Missy Lilah ist mit ihrem Bruder essen gegangen?«
»Ja.«
»War der Bruder hier, als Sie gegangen sind?«
»Nein, noch nicht da, aber sie sagt, sie geht mit ihm essen. Sie geht mit ihm ein- oder zweimal in Woche essen.«
»Wie heißt dieser Bruder, Mercedes?«
»El Doctor Freddy.«
»El Doctor Freddy.«
»Ja.«
»Hat El Doctor Freddy auch einen Nachnamen – nom de familia?«
»Selbe wie Missy Lilah.«
»Freddy Brecht?«
»Ich glaube, sein Name ist Señor Frederick.«
»Frederick Brecht?«
»Ich glaube.«
»Und er ist Arzt? Un doctor de la medicina?«
»Sí. Er arbeitet in Beauty-Farm. Aber arbeitet nicht ganze Zeit da.«
»Er hat noch eine eigene Praxis?«
»Ich glaub ja.«
»Wissen Sie, wo diese Praxis ist? Usted sabe donde está su otra oficina?«
Mercedes schüttelte den Kopf.
»Sie machen das großartig«, sagte Decker. »Muy bien. Sie haben also El Doctor Freddy nicht ins Haus kommen sehen?«
»Nein.«
»Hat Doctor Freddy einen Haustürschlüssel?«
Mercedes zog vor Konzentration die Stirn in Falten. »Ich glaub … ja.«
Decker notierte: Kein gewaltsames Eindringen. Dr. Freddy könnte einen Schlüssel haben. »Und Doctor Freddy war nicht da, als Sie nach Hause gegangen sind.«
»Nein, war noch nicht da.«
»Aber Missy Lilah war zu Hause.«
»Ja, kam gegen vier von Beauty-Farm, ganz naß. Sie macht sehr viel Sport. Sie ganz, ganz dünn, aber is okay, weil sie nicht bricht wie muchas mujeres in Beauty-Farm. Sie erzählt mir, all die Frauen brechen, um dünn zu sein. Find ich nicht gut.«
»Das finde ich auch nicht gut.«
»Aber Missy Lilah bricht nicht, um dünn zu sein. Aber macht mucho Sport. Mucho tiempo corriendo. En la calle, en la montaña, todo el tiempo, ella corrió.«
Decker schrieb: Lilah fanatische Joggerin. »Läuft sie auch schon mal nachts?«
»Ich weiß nicht.«
Wenn ja, würde das ein neues Licht auf den Zwischenfall werfen. Nachdem sie mit ihrem Bruder zu Abend gegessen hat, ist Lilah zu einem mitternächtlichen Lauf aufgebrochen. Jemand, der mit ihren Gewohnheiten vertraut ist, hat gewartet, bis sie erschöpft von ihrem Lauf zurückkam, und sie gezwungen, ihn reinzulassen. Nachdem sie den Safe geöffnet hat, ist er über sie hergefallen, dann hat er das Zimmer verwüstet. Dieses Szenario würde mit der Tatsache übereinstimmen, daß man keine Spuren für ein gewaltsames Eindringen ins Haus gefunden hatte.
Decker entschuldigte sich für einen Augenblick, stand auf und ging im Zimmer herum. Er verzog das Gesicht, als der Schmerz durch seinen Oberkörper fuhr. Obwohl die Schußverletzungen am linken Arm und in der linken Schulter waren, hatte er festgestellt, daß er durch das Strecken der Wirbelsäule den pochenden Schmerz in seinen Gliedmaßen lindern konnte. Er nahm zwei extra starke Tylenol-Tabletten aus seiner Hemdentasche, steckte sie in den Mund schluckte sie ohne Wasser. Das ging so automatisch wie das Atmen. Nachdem er erst vom Kodein, dann von Percodan abgekommen war, hatte er sich abwechselnd mit zwei nicht rezeptpflichtigen Schmerzmitteln beholfen – einen Tag Tylenol, den anderen Advil. Obwohl der Zwischenfall fast genau acht Monate zurücklag, hatte er sich zwar gut, aber immer noch nicht vollständig davon erholt. Die nicht rezeptpflichtigen Tabletten machten das Ganze erträglich, doch er wußte, daß er irgendwann lernen müßte, ohne die Medikamente und mit den Schmerzen zu leben.
Er streckte sich noch einmal, dann setzte er sich wieder und sagte: »Mercedes, als Sie heute morgen kamen, ist Ihnen da irgend etwas am Haus aufgefallen, bevor Sie in Missy Lilahs Schlafzimmer gingen?«
»Nein, nichts.«
»Alles war wie immer?«
»Ja.«
»Kein Möbelstück verrückt oder eine Vase, die auf einem anderen Tisch stand … so was in der Art?«
»Nein. Nur Tür zu Missy Lilahs Schlafzimmer ist auf. Sie hat sie gern zu.«
»Aber im Wohnzimmer ist nichts anders als sonst, oder im Eßzimmer?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Die Haustür war abgeschlossen.«
»Ja. Ich komm mit mein Schlüssel rein.«
»Sie haben einen Schlüssel?«
»Ja.«
»Weiß jemand in Ihrer Familie, daß Sie einen Schlüssel zu diesem Haus haben?«
Mercedes wurde rot vor Schreck. »Ninguna persona! Ich hab ihn an spezielle Platz.«
»Sie sind sich also sicher, daß niemand sonst an den Schlüssel zu Missy Lilahs Haus rankommt?«
»Ninguna persona en mi familia. Nur ich.«
Decker sagte, er glaube ihr, nahm sich jedoch vor, der Frage noch einmal nachzugehen. »Als Sie heute morgen kamen, sind Sie sofort ins Schlafzimmer gegangen? Oder haben Sie erst noch was anderes gemacht? Ihren Mantel und Ihre Tasche aufgehängt, die Waschmaschine angestellt?«
»Ich häng mein Mantel auf und seh mich um. Alles okay. Entonces, ich seh die Tür auf.«
»Die Schlafzimmertür?«
»Ja, die Schlafzimmertür. Ich geh sie zumachen, ich seh Missy Lilah …«
Sie legte die Hände vors Gesicht und brach urplötzlich in Tränen aus. Das Schluchzen hielt eine volle Minute an. Decker wartete, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. Mercedes griff in ihre Handtasche, nahm ein zerknittertes Papiertaschentuch heraus und rieb sich die Augen. »Sie wird wieder okay, Missy Lilah?«
»Ich glaube schon.«
»Ich bete zu Dios – zu Jesús – sie wieder okay. Ich geh heute in Kirche und bete für Missy Lilah.«
»Beten ist immer gut«, sagte Decker.
»Ja.«
»Fühlen Sie sich danach besser?«
Mercedes nickte. »Alle brauchen ayuda -Hilfe.«
Wie wahr. Decker tätschelte ihre Hand. »Mercedes, machen Sie Missy Lilahs Zimmer jeden Tag sauber?«
»Ja.«
»Putzen Sie auch im Wandschrank?«
»Ja, da saug ich jede Tag. Sie mag kein Staub.«
»In dem Wandschrank ist ein großer Safe.«
»Ja.«
»Stauben Sie den Safe ab?«
»Ja, jede Tag.«
»Haben Sie den Safe gestern abgestaubt?«
»Ja, jede Tag.«
»Tragen Sie Handschuhe, wenn Sie den Safe abstauben?«
»Ich trag kein Handschuhe, nur wenn ich Toilette putze.«
»Es kann also sein, daß Sie den Safe mit den Händen berührt haben? Es posible que su mano ha tacado la puerta de la caja de seguridad?«
»Sí, es posible.«
Benny hatte einige Fingerabdrücke auf dem Safe gesichert. Man würde dem Hausmädchen zum Vergleich ebenfalls die Fingerabdrücke abnehmen müssen. Doch ein Gutes hatte ihr emsiges Putzen – der Safe war jeden Tag saubergewischt worden. Wenn einige der Abdrücke von Lilah stammten, mußte sie den Safe geöffnet haben, nachdem Mercedes ihn gestern abgestaubt hatte. Hatte man sie gezwungen, ihn zu öffnen? Oder vielleicht hatte sie gestern etwas Wertvolles hineingelegt, und irgendwer hatte davon gewußt.
Decker machte sich rasch einige Notizen – Fragen, die er Lilah stellen würde. Hoffentlich war sie am späten Nachmittag wieder bei vollem Bewußtsein und in einem Zustand, der es erlaubte, sie kurz zu vernehmen. »Wir sind gleich fertig, Mercedes. Nur noch ein paar Fragen, und zwar zu dem Mann, der sich um die Pferde kümmert.«
»Señor Carl?«
»Ja. Er behauptet, er wohnt im Stall. Ist das wahr?«
»Ja.«
»Wie lange lebt er schon dort?«
»Vier, fünf Jahre. Er nach mir gekommen, aber arbeitet schon lange für Missy Lilah.«
»Sehen Sie ihn oft?«
»Nein.«
»Wenn im Haus was kaputtgeht, wer repariert das?«
Mercedes mußte nachdenken. »Missy Lilah schickt Leute – immer andere. Manchmal Leute von ihre Arbeit.«
»Von ihrer Arbeit? Sie meinen von der Beauty-Farm?«
»Ja.«
»Was für Leute?«
»Diferentes. Ich glaub, manchmal ein Junge kommt Gemüse ernten.«
»Ein Junge? Ein muchacho?«
»Nein. Älter. Name ist Mike.«
»Mike«, wiederholte Decker. »Kennen Sie seinen Nachnamen?«
Mercedes schüttelte den Kopf.
»Aber er arbeitet in Lilahs Beauty-Farm?«
»Ja, glaub ich.«
»Okay«, sagte Decker. »Señor Carl repariert also nichts im Haus.«
»Nein. Arbeitet nur mit Pferde, erntet vielleicht Gemüse, también. Ich weiß nicht.«
»Machen Sie schon mal Frühstück oder Mittagessen für Señor Carl?«
»Nein.«
»Oder kleine Snacks? Geben Sie ihm was zu trinken, wenn’s heiß ist?«
»Nein, er bleibt aus dem Haus, ich bleib im Haus. Wir reden nicht, oder vielleicht ein-, zweimal im Jahr. Er kommt zum Haus und fragt nach Missy Lilah. Aber er kommt nie in Haus.«
»Benutzt er schon mal das Bad im Haus?«
»Nein. Ich glaub, er hat Toilette.«
»Waschen Sie schon mal seine Sachen?«
Mercedes schüttelte den Kopf.
Decker beugte sich zu ihr und flüsterte: »Macht er ihnen angst?«
Das Hausmädchen kräuselte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Nein, er macht mir kein angst. Missy Lilah sagt, er nett. Ich glaub auch, er nett. Aber ich glaub, er ist ein bißchen …« Sie malte mit dem rechten Zeigefinger neben ihrer rechten Schläfe Kreise in die Luft.
»Ein bißchen verrückt?«
»Vielleicht. Aber ich glaub, er liebt Missy Lilah. Einmal Missy Lilah hat bösen Streit draußen mit ihr Bruder. Missy Lilah läßt Bruder nicht ins Haus, und er wütend. Señor Carl hört das und wird ganz schlimm wütend.« Sie demonstriert seinen Zorn, indem sie die Nase kraus zieht und eine Hand zur Faust ballt. »Er geht in Stall und holt große Schaufel. Er zeigt sie El Doctor, brüllt ihn an und sagt, er soll weggehen.«
»War es ein schlimmer Streit?«
»Ja, sehr schlimm.«
»Streitet Missy Lilah sich oft mit Doctor Freddy?«
»O nein!« Mercedes riß die Augen weit auf. »Missy Lilah nicht streiten mit Doctor Freddy, niemals. Das war el otro doctor, su otro hermano.«
Decker mußte das erst verdauen. »Sie hat zwei Brüder?«
»Ja.«
»Und beide sind Ärzte?«
»Ja. El otro doctor vielleicht zwei- oder dreimal hier, seit ich hier arbeite. Missy Lilah mag ihn nicht. Er kommt, und sie streiten. Letzte Mal, Señor Carl ihn fortgejagt. Brüllt ihn an und fuchtelt mit Schaufel. Sagt: ›Geh weg. Geh weg, oder ich bring dich um.‹«
»Wie ist der Name von el otro doctor?«
»Missy Lilah mir nicht gesagt. Sie nennt ihn nur su otro hermano.«
»Woher wissen Sie, daß er Arzt ist?«
Mercedes schwieg. »Kann mich nicht erinnern. Weiß halt, er ist Arzt.«
»Wie lang ist das her, daß Carl ihn fortgejagt hat?«
»Ich glaub, zwei Jahre.«
»Sie haben also su otro hermano seit zwei Jahren nicht gesehen?«
»Nein.«
»Okay. Noch mal zurück zu Señor Carl. Sie glauben, er ist ein bißchen verrückt? Un poco loco?«
»Mehr estupid … wie sagt man, dumm.«
»Haben Sie je gesehen, daß er sich Missy Lilah gegenüber verrückt verhalten hat?«
Mercedes schüttelte den Kopf.
»Ist er Ihnen schon mal dumm gekommen?«
Ein weiteres Kopfschütteln.
Decker sah auf seine Uhr. Es war schon fast Mittag, und sein Magen knurrte. Doch vor dem Mittagessen wollte er sich Señor Totes noch persönlich vorknöpfen. Marge hatte den Stallburschen vermutlich inzwischen gelöchert. Er würde sich mit ihr besprechen, und dann Totes nach dem Streit fragen, den Lilah mit ihrem anderen Medizinerbruder hatte. Vielleicht könnte er Marge zur Beauty-Farm schicken, um über diesen Mike Erkundigungen einzuziehen. Er steckte sein Notizbuch ein und dankte dem Hausmädchen für ihre Hilfe.