5
Die Gruppe hatte gerade mit den Lockerungsübungen begonnen, als Mike Ness seinen Namen über den Lautsprecher hörte. Ein Handtuch um den Hals geworfen, das Trägerhemd schweißdurchtränkt, erklärte er seinen Damen, sie sollten »brav weitermachen«, während er nachfrage, was man von ihm wolle. Die intensive Aerobic-Stunde am Nachmittag wurde in der Jazzarena abgehalten, an deren Rückwand sich ein riesiges Wandgemälde mit berühmten Musikern befand. Das Telefon in dem Raum war zwischen den Augen von Dizzy Gillespie angebracht. Ness nahm den Hörer ab.
»Mike, ich wollte dich nur warnen. Die Polizei schnüffelt hier herum.«
Ness konnte nicht antworten. Er spürte, wie sein Herz raste.
»Offenbar ist Lilah letzte Nacht etwas zugestoßen …«
»Was!«
»Sie wurde überfallen, Mike.«
Ness spürte, wie seine Knie nachgaben. Warum mußte sich alles, was er anpackte, in Scheiße verwandeln? »Wa … was ist passiert, Kell?«
»Ich weiß nur, daß sie im Krankenhaus ist. Ich weiß noch nicht mal, in welchem. Ich werd mal ein bißchen rumtelefonieren. Du weißt aber nichts von der Sache, oder?«
»Natürlich nicht!«
Kelley zögerte. »Verhalt dich bitte ganz normal. Wenn der Detective dich fragt, wo du letzte Nacht warst, sagst du, du warst in deinem Zimmer und hast geschlafen, okay?«
»Ich war in meinem Zimmer und hab geschlafen. Was zum Teufel redest du da?«
Kelley seufzte. »Ich bin nervös, Mike. Ich meine, der Detective – es ist übrigens eine Frau –, sie war professionell, aber penetrant. Wir sollten alle einfach ganz ruhig und cool bleiben, okay?«
»Ich bin ruhig und cool.«
»Ich gratuliere.«
»Du benimmst dich nicht gerade erwachsen, Kelley.«
Kelley zögerte erneut. »Michael, ich habe Angst!«
»Hast du mit Davida gesprochen?«
»Sie ist nicht da. Ich weiß nicht mal, ob sie es überhaupt schon weiß. Der Lady-Detective wollte nicht, daß ich mit ihr rede, aber scheiß drauf! Freddy kann ich auch nicht erreichen. Ich weiß nicht, was ich tun soll, Mike.«
»Es gibt nichts zu tun, Kell. Worüber machst du dir Sorgen?«
»Mir gefiel ihre Haltung nicht. Sie war zu neugierig.«
»Verbesser mich, wenn ich unrecht hab, aber sollen Detectives nicht neugierig sein?«
»Nein, das war mehr. Es war, als ob sie alle beschuldigen wollte.«
Ness merkte, wie ihm das Telefon aus der Hand rutschte. Er wischte seine verschwitzte Hand an den Gymnastikshorts ab. »Wen beschuldigen?«
»Sie will eine Liste von allen Männern, die hier arbeiten.«
»Wurde Lilah vergewaltigt?« flüsterte Ness in das Telefon.
»Ich weiß es nicht.«
Ness atmete tief durch. »Gib ihr, was sie haben will. Ich muß den Unterricht hier beenden …«
»Der Lady-Detective wird mit dir reden wollen.«
»Na und?«
»Es ist also okay?«
»Ja, es ist okay!«
»Tut mir leid, Mike. Ich bin einfach so nervös!«
Ness seufzte. Kelley hatte schon als Kind einen nervösen Magen gehabt. Vor Prüfungen mußte sie sich immer übergeben. »Beruhig dich, Schwesterchen. Mach ein paar Atemübungen.«
»Es ist ja nur, weil dieser Job so wichtig für mich ist …«
»Kell, ich muß Schluß machen. Wir reden später.«
Ness hängte ein, klatschte in die Hände und lief zur Vorderseite des Raumes. Eine Ballettstange teilte die verspiegelte Wand in zwei Teile.
»Sehr schön, meine Damen. Wirklich sehr schön. Nachdem Sie nun etwa zweihundertfünfzig Kalorien verbraucht und in Form von Salzen ausgeschwitzt haben, an was sollten Sie da sofort denken?«
»An die Elektrolyte!« rief eine Frau mittleren Alters in gestreiftem Trikot.
»Genau«, sagte Ness. »Ihre Elektrolyte müssen nun dringend wieder ins Gleichgewicht gebracht werden, deshalb bieten wir Ihnen jetzt unsere berühmte kaliumreiche Brühe an sowie verschiedenes organisch angebautes Gemüse aus dem Garten von Lilah Brecht. Sie bekommen diese Köstlichkeiten zwischen Viertel nach drei und zwanzig vor vier in der Empfangshalle. Nehmen Sie auf jeden Fall an diesem Festschmaus teil. Ihr Körper wird es Ihnen danken. Wir sehen uns dann um vier Uhr zum Yoga.«
Ness trocknete sich Gesicht und Hals ab, während er wartete, daß die Damen den Raum verließen. Nachdem die letzte verschwunden war, ging er zu dem Stativ mit der Videokamera, guckte in die Linse und streckte die Zunge heraus. Dann schaltete er die Kamera ab.
Keinen Sinn, sich über irgendwelche Sachen aufzuregen, die man eh nicht ändern konnte.
Er nahm den Camcorder vom Stativ. Es war eins von diesen kleinen Dingern, die bequem in eine Handfläche paßten. Perfekt, um heimlich Aufnahmen machen zu können. Er würde sich das Band später angucken, um zu sehen, ob seine ganzen Übungen aufgezeichnet waren und ob er sich im Rhythmus bewegte. Er genoß es, sich diese Videobänder anzusehen, zuzuschauen, wie sein geschmeidiger Körper sich bewegte und schwitzte und wie die Muskeln in seinen Armen und Beinen zur Geltung kamen. Er wußte, er würde nie ein zweiter Schwarzenegger werden – er war keiner von diesen aufgeplusterten Typen –, aber zumindest war er jetzt mit seinem Aussehen zufrieden. Man mußte immer gut aussehen, sonst war es aus mit den Damen …
Aus den Augenwinkeln sah er, wie eins von diesen durchgestylten Mädelchen auf ihn zukam. Das hatte ihm gerade noch gefehlt – schon wieder so ein sexhungriger Teenager. Sie war gut gebaut und hatte keine Hemmungen, das auch zu zeigen. Ihr Lächeln war zu weiß, um natürlich zu sein.
»Hi, ich bin Aurora«, sagte sie.
»Hi.« Ness verlagerte sein Gewicht und verschränkte die Arme über der Brust. »War das Aerobic gut?«
»Wunderbar.«
»Freut mich zu hören, Aurora.«
»Das bringt die Endorphine ganz schön in Schwung, was?«
»Das kann passieren.«
»Ich kann es richtig spüren.«
»Das ist gut.« Ness wich langsam zurück. »Machen Sie so weiter.«
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
Ness sah auf seine Uhr, dann auf das Mädel. Sie schien nervös, als ob sie darauf wartete, daß er den ersten Schritt tat. Da konnte sie aber lange warten. »Was denn?«
»Ähm … ich wollte gern wissen, ob wir Salztabletten nehmen sollen?«
Guter Vorwand, dachte Ness. Was sie eigentlich wissen wollte, war, ob er mit ihr bumsen wolle.
»Eigentlich nicht, Aurora«, sagte Ness. »Unser Consommé ist perfekt ausgewogen zur Ergänzung der Elektrolyte – es enthält sowohl Natrium als auch Kalium.« Er schlenderte zur Tür. »Deshalb ist es wichtig, daß Sie jetzt Ihre Brühe einnehmen. Da ist alles drin, was Ihr Körper braucht. Im übrigen gibt es sie in unserem Naturkostladen. Sie sollten auf jeden Fall etwas davon kaufen, bevor Sie die Beauty-Farm verlassen. Wenn Sie zu Hause Ihre Übungen machen, verlieren Sie genauso viele Salze wie hier. Doch mit unserer Brühe brauchen Sie sich keine Gedanken über eine zusätzliche Elektrolytversorgung zu machen.« An der Türschwelle hörte er auf zu reden. »Gibt’s sonst noch was?«
»Nein, ist schon okay. Ich sehe, daß Sie’s eilig haben.«
»Sie haben mich zu einem ungünstigen Zeitpunkt erwischt.« Ness schenkte ihr ein – wie er hoffte – entwaffnendes Lächeln. »Ich bin zum Yoga wieder hier, falls Ihnen noch was einfällt.«
»Danke. Ich geh mir jetzt was von der Brühe holen.« Ness wartete, bis sie fort war, bevor er sich wieder seinen Sorgen überließ. Was zum Teufel war letzte Nacht passiert, daß die Polizei hier herumschnüffelte? Er warf das feuchte Handtuch in den Wäschekorb. Als er gerade die Tür abschließen wollte, spürte er, daß jemand hinter ihm stand, und drehte sich um. Ohne daß sie sich vorstellte, wußte er, daß er den Lady-Detective entdeckt hatte.
Oder besser gesagt, sie hatte ihn gefunden.
Während er auf dem Freeway 405 Richtung Süden fuhr, dachte Decker über das Baby nach. Es war seine Idee gewesen. Nicht daß Rina keine Kinder gewollt hätte. Aber sie hätte lieber noch gewartet, bis alle so richtig das Gefühl hatten, eine Familie zu sein, bevor man ein neues Mitglied hinzufügte. Er war zwar schon zweiundvierzig, aber sie war erst dreißig, und das Alter der Mutter spielte die entscheidende Rolle für den Verlauf einer Schwangerschaft.
Wahrscheinlich wären sie Rinas Plan gefolgt, wenn er nicht angeschossen worden wäre. In einer wahren Odyssee war er von dem einen Ende des Landes zum anderen gereist, bis er den vermißten jungen gefunden hatte – und den Verrückten, der ihn entführt hatte. Unglücklicherweise hatte der Verrückte eine Waffe. Verrückte haben meistens Waffen.
Nachdem er sich ein wenig von den Schußverletzungen erholt hatte, hatte Decker darauf bestanden, daß sie die Sache mit dem Baby beschleunigen. Schließlich war er nicht mehr der Jüngste, und beide hatten schon mit ihren ersten Partnern Fruchtbarkeitsprobleme gehabt. Wenn es nun lange dauern würde? Oder wenn sogar ein medizinischer Eingriff notwendig wäre? Warum sollte man warten, um später dann festzustellen, daß es ein Problem gab, das man möglicherweise erst in einigen Jahren beheben konnte? Rina verstand seine Argumentation und war einverstanden.
Doch in Wahrheit war es so, daß er dieses Baby brauchte. Nach seiner flüchtigen Begegnung mit dem Tod verlangte es ihn nach etwas Lebensbejahendem. Und welche bessere Möglichkeit gab es, wieder ein Gefühl für die eigene Kraft zu bekommen, als ein Kind zu zeugen?
Er kurbelte das Fenster seines Wagens herauf und schloß damit Luft und Geräusche aus. Dann stellte er die Klimaanlage an. Ein eisiger Wind blies ihm ins Gesicht.
Als Rina ihm die gute Nachricht mitteilte, hatte er überglücklich seine ganze Abteilung zur Happy Hour eingeladen und sich tatsächlich einen angetrunken. Nicht richtig voll, aber angeheitert genug, daß Marge ihn nach Hause fahren mußte.
Dann war er wieder hart in die Realität zurückgestoßen worden. Noch jemand, der Essen, Kleidung und eine Ausbildung brauchte – das würde bei seinem Gehalt ziemlich eng werden. Hinzu kamen noch Rinas morgendliche Übelkeit und ihre Stimmungsschwankungen. Außerdem zeigten seine Stiefsöhne ihm die kalte Schulter. Beide hatten lange gebraucht, um sich mit einem Eindringling abzufinden. In letzter Zeit war es besser geworden. Die vielen Sonntage im Park, wo sie Modellraketen starteten, hatten eindeutig dazu beigetragen. Doch Sammy und Jake waren immer noch ziemlich mißtrauisch.
Durchaus verständlich, aber er würde ihnen schon noch das Gegenteil beweisen.
Am meisten schmerzte ihn die Reaktion seiner fast erwachsenen Tochter. Cindy war ihm immer so unabhängig erschienen. Sie hatte den letzten Sommer in Europa verbracht und war seit diesem Jahr auf dem College. Sie schrieb selten, rief nie an.
Sie hatte auch nie viel Zeit, wenn er anrief. Doch wenn sie miteinander sprachen, war das immer freundschaftlich und heiter gewesen. Sie schien auch keine Probleme damit zu haben, daß er Rina heiratete. Im Gegenteil, Cindy und Rina hatten sich von Anfang an gut verstanden. Besser als er je zu hoffen gewagt hätte.
Deshalb hatte es ihn schockiert, wie sie auf die Nachricht reagierte – dieses furchtbare Schweigen. Hätte sie sich denn was dabei vergeben, ihm zu gratulieren, als sie endlich was sagte?
Mannomann, sie konnte einen ganz schön treffen.
Meinst du nicht, daß ihr die Sache ein wenig überstürzt, Dad?
Jetzt war es an ihm gewesen zu schweigen.
Nun ja, selbst wenn wir die Sache tatsächlich überstürzt haben, Cindy, können wir’s jetzt wohl kaum noch rückgängig machen.
Das stimmt.
Erneutes Schweigen.
Na dann, viel Glück.
Klang sehr abfällig, so wie in ›viel Glück, du wirst es brauchen, Kumpel.‹
Cindy, ich hab dich lieb …
Hör mal, Dad, ich bin erwachsen, ich bin kein Kind mehr. Du brauchst mir nichts zu beteuern. Mir ist schon klar, daß du mich lieb hast, egal wie viele Kinder ihr noch bekommt. Und das werden sicher einige sein, weil Rina noch jung ist. Wenn es das ist, was du willst, dann wünsche ich dir alles Gute.
Cindy, ich will dir überhaupt nichts beteuern …
Genau das tust du aber. Lüg doch nicht.
Okay, vielleicht ist es so. Aber es ist doch wohl nicht so schrecklich, wenn ein Vater zu seiner Tochter sagt, daß er sie lieb hat.
Eisiges Schweigen.
Decker seufzte. Tut mir leid, wenn ich dich verärgert hab …
Ich bin nicht sauer.
Wenn ich dich verärgert hab, weil ich dir meine Liebe beteuern wollte.
Oh. Schweigen. Ist schon gut.
Soll ich dich morgen noch mal anrufen.
Wenn du willst.
Dann ruf ich morgen noch mal an.
Okay. Sie hatte einen Augenblick gezögert. Wie geht’s deinem Arm, Daddy?
Mach dir um mich keine Sorgen, Honey. Mir geht’s gut.
Yeah, dir geht’s immer gut. Bis dann.
Er hatte sie am nächsten Tag angerufen. Und am nächsten und am übernächsten. Jedes Mal war er auf die gleiche frostige Haltung gestoßen. Ein paar nichtssagende Worte, eine aufrichtig gemeinte Frage nach seiner Gesundheit und eine kühle Reaktion, wenn er sagte, es ginge ihm gut. Er wußte, sie wollte, daß er sich ihr anvertraute, aber das war einfach nicht seine Art. Er wollte sich bei niemandem ausweinen, schon gar nicht bei seiner Tochter.
Und so ging das immer weiter. Schließlich schlug Rina vor, er solle warten, bis Cindy auf ihn zukäme.
Natürlich hatte dieser Vorschlag zu einem Streit geführt. Er beschuldigte Rina, sich in seine Angelegenheiten mit seiner Tochter einzumischen. Später bedauerte er seine Reaktion, aber ihm war auch nicht danach, sich bei Rina zu entschuldigen. Und Rina versuchte nichts zu forcieren; sie war gut in diesen Dingen.
Nachdem er sich beruhigt hatte, mußte er sich eingestehen, daß Rinas Rat gar nicht so schlecht gewesen war. Ihm wurde klar, daß sein ständiges Anrufen Cindy das Gefühl geben mußte, daß er sich ihrer Beziehung nicht sicher sei. Im Laufe der Monate zwang er sich, nur noch einmal die Woche anzurufen. Und jedes Mal war Cindy unnahbar gewesen.
Vielleicht würde sie ja wieder zugänglicher, wenn das Baby da war.
Und vielleicht würde er auch im Lotto gewinnen.
Die Praxis von Frederick Brecht war in Tarzana, am westlichen Ende des Ventura Boulevard – der glitzernden Einkaufsmeile für das San Fernando Valley. Decker hatte ein Ärztehaus erwartet, statt dessen stand er vor einem zweistöckigen Mini-Einkaufszentrum. Brechts Praxis lag eingekeilt zwischen einem Reisebüro und einem Bioladen. Für jedes Geschäft waren nur zwei Parkplätze vorgesehen. Brechts Plätze, die mit RESERVIERT FÜR ARZTPRAXIS gekennzeichnet waren, waren beide besetzt. Decker fuhr auf einen der Plätze von dem Bioladen, in der Hoffnung, daß der Besitzer den Wagen nicht abschleppen lassen würde.
Die Tür zur Praxis war aus Glas. An der Innenseite hing ein weißer Vorhang, um neugierige Blicke abzuhalten. Auf dem Glas stand in goldenen Buchstaben:
DR. MED. FREDERICK R. BRECHT
GANZHEITLICHE MEDIZIN UND
PHYSIOTHERAPIE
AKUPUNKTUR UND ERNÄHRUNGSBERATUNG
NUR AUF VORANMELDUNG
Decker ging hinein und blieb abrupt stehen.
Das Wartezimmer war leer und ohne das übliche Mobiliar. Statt Sofas und Stühlen lagen braune Matten auf dem gewachsten Parkettfußboden. Mitten im Raum lag ein Stapel Fachzeitschriften: Zeitschrift für ganzheitliche Gesundheit, Annalen der östlichen Medizin, Der Vitamin-Digest. Von der Decke hingen Lampions mit seidenen Schirmen, die ein warmes, gedämpftes Licht abgaben. Die Tapete war mit Szenen aus dem Leben chinesischer Bauern bedruckt – Männer und Frauen im Kimono mit eindimensionalen Gesichtszügen bestellten den Acker und zogen eine Art Wurzel aus dem Boden. New-Age-Synthesizer-Musik und der Geruch von Weihrauch erfüllten den Raum.
Decker sah nachdenklich auf das geschlossene Fenster des Empfangsschalters, dann starrte er auf den mit Kissen belegten Fußboden und überlegte, ob er die Schuhe ausziehen sollte. Er beschloß, die Schuhe anzubehalten, stellte jedoch fest, daß er auf Zehenspitzen ging. Schließlich klopfte er an das geriffelte Glas, und eine Frau mittleren Alters schob die Scheibe zur Seite. Sie trug kein Make-up, dafür aber reichlich Schmuck. Dutzende Armreifen, mehrere silberne Halsketten und riesige Ohrringe mit Perlen, die ihr bis auf die Schultern hingen. Sie hatte kurze braune Haare und tief liegende Augen. Ihre Stimme tönte wie ein Glockenspiel, was einen merkwürdigen Gegensatz zu ihrem reifen Gesicht bildete.
»Ja?«
»Ich bin Sergeant Peter Decker vom LAPD.« Er zeigte der Frau seine Dienstmarke. »Ich würde gerne Dr. Brecht sprechen.«
»Dr. Brecht ist heute nicht da. Möchten Sie eine Nachricht hinterlassen?«
Pling, Pling.
»Wo ist Dr. Brecht?« fragte Decker.
»Das weiß ich nicht.«
»Hat er sich heute schon gemeldet?«
Plötzlich wurde die glockenhelle Stimme schneidend wie Glas. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich Ihre Fragen beantworten sollte.«
»Warum nicht? Haben Sie was zu verbergen?«
»Natürlich ni …«
»Warum sollten Sie dann nicht eine einfache Frage beantworten? Hat Dr. Brecht Sie heute schon angerufen?«
Sie war nun sichtlich nervös. »Äh … er wird sich sicher bald melden.«
»Aber er war heute noch nicht hier.«
»Nein.« Sie seufzte. »Er hat eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. ›Althea, sagen Sie allen Patienten heute ab. Mir ist was dazwischengekommen.‹ Also hab ich den Patienten abgesagt.« Sie spielte an einem Ohrring. »Keine große Sache. Heute wäre eh nicht viel los gewesen – drei Streßberatungen, zwei Ganzkörpermassagen, ein Biofeedback.«
»Um wie viel Uhr hat er die Nachricht hinterlassen?«
»Sie war auf dem Anrufbeantworter, als ich heute morgen um acht hier ankam. Der erste Termin war erst um zehn. Also hatte ich reichlich Zeit abzusagen.«
»Hält Ihr Anrufbeantworter die Uhrzeit fest, wann ein Gespräch eingegangen ist?«
»Nein.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja«
»Na schön. Dr. Brecht hat doch eine weitere Praxis in der Beauty-Farm seiner Schwester, ist das richtig?«
Etwas Boshaftes trat in Altheas Augen. »Das ist keine offizielle Praxis. Man kann dort keinen Termin bei ihm machen, wenn man nicht Gast der Farm ist. Freddy hilft seiner Schwester. Was man umgekehrt von ihr nicht gerade behaupten kann.«
»Wie oft hilft er in der Beauty-Farm aus?«
»Zu oft.«
»Sagen Sie mal so ungefähr.«
»Vielleicht ein- bis zweimal pro Woche. Das mag Ihnen vielleicht nicht viel erscheinen, aber es behindert den reibungslosen Ablauf dieser Praxis. Wissen Sie, Freddy ist ein ganz besonderer Arzt. Er hat mich von meinen Rückenschmerzen befreit, und ich glaube wirklich an ihn. Das tun viele Leute. Er bemüht sich sehr um seine Patienten. Ich finde es nicht richtig, daß er jedes Mal springt, wenn seine Schwester pfeift.«
»Was ist mit seiner Mutter?« fragte Decker.
»Die große Davida Eversong? Sie und seine Schwester sind das gleiche Kaliber. Meinen Sie, daß die ihm jemals unter die Arme greifen würde? Für die gibt’s nur Lilah, Lilah, Lilah. Natürlich ruft sie ihn immer an, wenn sie eine Massage braucht, und er kommt angerannt. Meinen Sie, daß sie ihn jemals dafür bezahlt?«
»Nicht?«
»Keinen Cent.« Althea seufzte. »Ich rede wohl zu viel.«
»Meinen Sie, daß Dr. Brecht bei seiner Mutter sein könnte?«
Sie seufzte erneut. »Ich habe nicht gelogen, aber ich habe Ihnen auch nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ich weiß nicht, wo er ist, aber ich weiß, daß er nicht auf der Beauty-Farm ist. Und ich habe auch bei ihm zu Hause und bei seiner Mutter angerufen. Es hat sich niemand gemeldet.« Plötzlich wurde sie rot. »Ich hab ihm nicht nachspioniert. Es gab da nur einige geschäftliche Dinge, über die ich mit ihm reden mußte.«
»Was für geschäftliche Dinge?«
»Das ist nicht Sache der Polizei.«
Decker unterbrach seine Fragen einen Augenblick, um ihr zu erklären, daß im Augenblick alles Sache der Polizei war. »Geben Sie mir doch bitte die Adressen und Telefonnummern von Ms. Eversong und Dr. Brecht. Ich könnte sie mir zwar selbst besorgen, aber so würden Sie mir ein bißchen Arbeit abnehmen. Und Zeit könnte in diesem Fall von entscheidender Bedeutung sein.«
»Warum? Was meinen Sie damit?«
»Letzte Nacht hat es einen Zwischenfall im Haus von Dr. Brechts Schwester gegeben.«
»Einen Zwischenfall?«
»Sie wurde überfallen.«
»Mein Gott! Was ist denn pass …«
»Ich weiß, daß Dr. Brecht gestern Abend mit ihr zum Essen verabredet war«, fiel Decker ihr ins Wort. »Nun erzählen Sie mir, daß er heute nicht zur Arbeit erschienen ist. Allmählich frage ich mich, ob ihm nicht vielleicht etwas zugestoßen ist.«
»O mein Gott!«
»Nicht daß ich einen Grund zu der Annahme hätte, daß ihm etwas passiert …«
»O Gott!« Althea zog an ihrem Ohrring. »Ogottogottogott. Selbstverständlich gebe ich Ihnen die Telefonnummern.« Sie riß eine Schublade auf und nahm mit zitternden Händen ein Blatt Papier und einen Stift heraus. »Warum haben Sie mir nicht gleich gesagt, worum es geht?«
Sie beschimpfte ihn. Aber Decker bekam, was er wollte, also hielt er den Mund.