12

Wieder hatte sich Morrison eingeschaltet. Decker sah auf die Uhr – halb zwölf. Besser sich gleich um den Mist kümmern, damit er das Mittagessen genießen konnte. Er rief aus dem Zivilfahrzeug an und wurde kurz darauf zu Morrison durchgestellt.

»Captain«, sagte Decker.

»Wie kommen Sie im Fall Brecht voran?«

»Jede Menge Notizen …«

»Pete …«

»Captain, wir machen Fortschritte – reichlich Verdächtige –, aber es gibt eben keine konkreten Beweise.« Decker informierte ihn über die Einzelheiten und merkte, wie Morrison hörbar seufzte, als er davon sprach, daß Lilah sich im Kopf ein Bild von ihren Angreifern gemacht hätte.

»Diese Lilah Brecht«, sagte Morrison, »ist die ein bißchen bekloppt oder was?«

»Sie könnte uns auf Umwegen etwas sagen wollen.«

»Meinen Sie, sie könnte uns Ärger machen?«

»Ihre Beauty-Farm hat hauptsächlich VIPs als Kundschaft«, sagte Decker. »Ich denke, es wäre äußerst unklug von ihr, den Überfall publik zu machen. Schlecht fürs Geschäft.«

»Aber sie hört sich ziemlich abgedreht an«, sagte Morrison. »Und Sie kennen doch diese perversen Hollywood-Arschlöcher. Die stehen auf Klatsch – je schlüpfriger, desto besser.«

»Ich glaube, wenn wir jeden mit Respekt behandeln«, sagte Decker, »werden sie auch Rücksicht auf unsere Ermittlungen nehmen.«

»Was ist mit Davida Eversong?« fragte Morrison. »Kümmert’s die überhaupt einen Dreck, was mit ihrer Tochter passiert ist?«

»Vermutlich schon. Es ist schwer zu sagen. Sie hat die meiste Zeit über ihren Schmuck geredet.«

»Davida Eversong kennt viele Leute, Pete«, sagte Morrison. »Wir haben es hier neben der Vergewaltigung zu allem Überfluß auch noch mit einem Einbruchdiebstahl in siebenstelliger Höhe zu tun. Das ist ’ne Menge Arbeit für Sie, Marge und Hollander. Ich zieh noch ein paar Detectives vom Einbruch hinzu.«

»Von mir aus«, sagte Decker. »Die kennen die Hehler besser als ich. Bloß …«

»Spucken Sie’s aus, Pete.«

»Ich möchte die Freiheit, den Fall so zu behandeln, wie ich das für richtig halte. Nicht daß ich vorhab, irgendwelchen Bonzen auf die Zehen zu treten, aber wenn es passiert, möchte ich mir deswegen keine Sorgen machen müssen.«

»Sie machen Ihren Job, Pete«, sagte Morrison, »und ich mache meinen.«

 

Nachdem das erledigt war, meldete Decker sich per Code sieben ab und steuerte die Sicherheit und Normalität seines trauten Heimes an. Zunächst war er nur einmal pro Woche zum Mittagessen auf seine Ranch gefahren. Doch während der letzten fünf Monate hatte er seine Besuche auf dreimal pro Woche ausgedehnt. Das Essen war besser und trotz Rinas gelegentlichen Weinanfällen und Wutausbrüchen war es wunderbar, mit ihr zusammen zu sein. Ob sie miteinander redeten oder einfach nur herumsaßen, er hatte nie das Gefühl, sie unterhalten zu müssen. Reden wie Schweigen war für sie ein ganz natürlicher Zustand. Gott, wie er es liebte, sie im Haus herumwerkeln zu sehen. Und darin war Rina richtig großartig.

Er parkte den Plymouth in der Einfahrt und betrat pfeifend das Haus. Das Wohnzimmer war immer noch in einem machomäßigen Neowestern-Stil, doch Rina hatte es mit Spitzengardinen und mit Zierkissen auf der Wildledercouch sowie den Ledersesseln ein bißchen gemütlicher gemacht. Zierkissen mit Rüschenrändern. Yep, er war eindeutig verheiratet. Plötzlich fiel ihm auf, daß es unheimlich still im Haus war, noch nicht mal der Hund bellte. Sofort war er beunruhigt.

»Ist jemand da?«

»Wir sind im Kinderzimmer, Peter«, rief Rina.

Er atmete erleichtert auf. Es war lächerlich, sich gleich Sorgen zu machen, aber er konnte nicht anders. Dann dachte er über das Wir in Rinas Mitteilung nach. Wir sind im Kinderzimmer. Dort war ursprünglich sein Arbeitszimmer gewesen.

Er ging hinein. Sammy hatte einen Schlafanzug an, sein Kopf lag auf dem Kissen, die Decke reichte ihm nur bis zur Taille. Seine Wangen waren ein wenig gerötet, die Stirn feucht. Sein hellbraunes Haar war zerzaust und wurde von einer Jarmulke aus braunem Leder gekrönt. Er lächelte, doch es wirkte gezwungen. So im Bett liegend, sah er viel jünger aus als zwölf – und viel verletzlicher. Rina spielte mit ihm Karten; ein Stapel abgelegter Karten lag auf einem Tablett auf dem Bett. Sie trug ein cremefarbenes Umstandskleid. Ein rotes Tuch um ihren Hals gab ihrem Gesicht ein wenig Farbe. Ihre Haare waren geflochten und zum Teil von einem goldenen Netz bedeckt. Goldene Ringe schmückten ihre Ohrläppchen. Wie eine Frau in so einfachen Kleidern und ohne jedes Make-up so schön sein konnte, war ihm unbegreiflich.

Rina sah zum Anbeißen aus. Doch da Sammy zu Hause war, waren die Aussichten auf eine nachmittägliche Romanze gleich Null. Decker ging zu seinem Stiefsohn, fühlte ihm die Stirn und dann die Wangen.

»Geht’s dir nicht gut?«

Sammy zuckte die Achseln.

»Kann ich dir irgendwas holen, mein Sohn?«

»Ich hab alles.«

»Möchtest du was zu Mittag?« fragte Rina. »Ist zwar noch ein bißchen früh.«

»Ich mach mir schon was.«

»Nein, setz dich. Ich bring’ dir ein Sandwich.«

»Wo ist Ginger?«

»Sie kriegt ein Antiflohbad und wird gebürstet, die Arme. Du weißt doch, wie sie in der Hitze leidet. Ich sollte sie vielleicht abholen, solange du noch hier bist. Macht es dir was aus, Shmuli ein bißchen Gesellschaft zu leisten?«

»Ob es mir was ausmacht?« Decker setzte sich auf die Bettkante. »Es ist mir ein Vergnügen.«

Sammy lächelte schwach.

»Sollen wir sagen, diese Runde war unentschieden?« fragte Rina. »Was meinst du?«

»Klar, Ima.«

Rina packte die Karten zusammen und steckte sie in die Schachtel. »Ich komm gleich wieder. Truthahnsandwich okay?«

»Perfekt.«

Decker tätschelte lächelnd die warme Hand seines Sohnes. »Das war heute morgen einfach so da?«

Sammy nickte.

»Na ja, wird schon wieder. Du mußt viel trinken, Sammy. Trinkst du genug?«

»Ich laufe schon über, Peter.«

»Das ist gut.« Decker legte dem Jungen einen Arm um die Schultern und spürte, wie er sich ein wenig verkrampfte. »Ist mein Arm dir zu schwer?«

»Ich will nicht, daß du dich ansteckst.« Sammy machte sich los. »Ima hab ich auch gesagt, sie soll mir nicht zu nah kommen. Du weißt schon, wegen dem Baby und so.«

Decker küßte ihn auf die Wange. »Mach dir wegen mir keine Sorgen. Ich hab starke Ab Wehrkräfte.«

Doch Sammy blieb auf Distanz. Decker wußte, daß das ganz normal war. Stiefväter übernehmen nicht von heute auf morgen die Stelle von richtigen Vätern. Noch nicht mal über einen Zeitraum von drei Jahren. War es tatsächlich schon so lange her, daß er Rina kennengelernt hatte? Er hatte damals an einem Vergewaltigungsfall gearbeitet; Rina war eine Zeugin gewesen. Seitdem war einiges passiert.

Rina kam mit einem Truthahnsandwich und einem Haufen Krautsalat auf einem Pappteller ins Zimmer. In der anderen Hand hielt sie einen Krug mit bläßlichem Orangensaft.

»Das ist für dich.« Sie reichte Decker den Teller und stellte dann den Krug auf den Nachttisch. »Und das ist für Sammy. Achte drauf, daß er was trinkt, Peter.«

»Das hatten wir doch schon, Ima.«

»Bis später, Jungs.« Sie küßte ihren Sohn auf die Stirn, dann küßte sie Decker auf den Mund und tippte ihm leicht auf den Kopf, bevor sie hinausging. Auf diese sanfte Art erinnerte sie ihn, eine Jarmulke aufzusetzen, bevor er aß.

»Tschüs«, sagte Decker. Schweigend lauschten er und Sammy, wie Rina durch das Haus ging. Einige Sekunden später fiel die Tür ins Schloß, und Decker wandte sich dem Jungen zu.

»Wie geht’s denn so?«

»Du kannst ruhig essen, Peter. Laß dich von mir nicht stören.«

»Ich muß mir erst die Hände waschen. Hast du vielleicht eine Kippa, die ich mir leihen kann?«

»Oberste Schublade rechts.«

»Danke.« Decker fischte eine Batman-Jarmulke aus der Kommode und steckte sie sich im Haar fest. Dann stand er auf und wusch sich in der Küche rituell die Hände. Schließlich setzte er sich wieder auf das Bett, sprach den Segensspruch für das Brechen des Brotes und biß in sein Sandwich. »Hast du Hunger?«

Sammy schüttelte den Kopf.

»Bestimmt nicht?«

»Bestimmt nicht.«

»Geht die Grippe bei euch in der Schule um?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht.«

»Na ja, du und dein Bruder, ihr habt euch ja bisher ganz gut gehalten, wenn man bedenkt, was alles so passiert. Daß wir in wenigen Monaten ein Baby kriegen, muß ja ein bißchen stressig sein.«

»Ich find das nicht stressig. Jedenfalls für mich nicht.«

»Es ist eine Veränderung.«

»Yeah, das ist es wohl.«

Decker biß wieder in sein Sandwich. »Jedenfalls hoffe ich, daß das Baby euer Leben nicht zu sehr durcheinanderbringt. Schließlich besteht ja ein großer Altersunterschied zwischen euch und dem Baby.«

Sammy zögerte. »Genauso groß wie zwischen dir und Ima.«

Decker hörte auf zu kauen. Dann zwang er sich zu schlucken. Das halb zerkaute Essen ging herunter wie Blei. »Yeah. Ungefähr der gleiche Unterschied.«

Sammy schwieg. Das würde kein normales Mittagessen werden.

»Hast du Probleme mit dem Altersunterschied zwischen uns, Sam?«

»Eigentlich nicht.«

»Ein bißchen?«

Der Junge zuckte die Achseln.

»Mir macht es schon ein bißchen Probleme«, sagte Decker.

Sammy antwortete nicht.

»Man kann ja nichts dazu, in wen man sich verliebt. Und ich bin sehr glücklich mit deiner Mutter. Aber manchmal mach ich mir Gedanken über unseren Altersunterschied. Besonders da Ima offenbar nicht so schnell altert wie ich.« Decker verlagerte sein Gewicht. »Der Unterschied fällt manchmal ziemlich stark auf. Ich kann verstehen, daß dir das peinlich ist …«

»Es ist mir nicht peinlich«, erwiderte Sammy schroff.

»Na schön.« Decker zögerte. »Ich muß gestehen, daß es mir manchmal schon ein bißchen peinlich ist. Auf der Arbeit ziehen die mich ganz schön auf.«

Sammy legte den Kopf schief. »Die triezen dich?«

»Es ist nicht böse gemeint.«

»Marge trietzt dich?«

»Nein, Marge nicht. Sie ist sehr anständig in diesen Dingen.«

»Aber es stört dich, wenn die anderen es tun?«

»Manchmal ja. Ich glaube übrigens, deine Mutter hat auch Probleme damit. Sie wird jedes Mal ein bißchen rot, wenn sie jemand für meine Tochter statt für meine Frau hält.«

Und wird sehr rot, wenn jemand sie für Cindys Freundin hält. Gott, war das furchtbar gewesen. Alle drei wären am liebsten in den Erdboden versunken. Dieser Ausdruck auf Cindys Gesicht. Natürlich hatte er null Chance gehabt, die Situation zu retten, was das Ganze auch nicht gerade leichter machte.

»Aber wie ich schon sagte«, fuhr Decker fort, »sie sieht sehr jung aus. Und ich sehe eher älter aus, als ich bin. Ganz natürlich, daß die Leute sich vertun.«

»Wäre es dir lieber, wenn sie wie du etwas älter wäre? Ich meine nicht richtig alt, aber näher an deinem Alter ran.«

»Ich mag Ima so, wie sie ist. Und ich bin froh, daß sie jung war, als sie dich und Jakey bekommen hat, denn junge Mütter haben sehr viel Energie. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre etwas jünger, damit ich mehr Energie hätte.«

»Du hast doch Energie.«

»Na ja, ganz okay für einen alten Mann.«

»Du bist doch gar nicht so alt, Peter. Weißt du, die meisten Kinder in meiner Klasse haben Väter in deinem Alter. Ima war einfach sehr jung. Beide waren … Ima und … na du weißt schon, Abba war auch jung … als ich geboren wurde.«

Decker holte tief Luft und atmete langsam aus. »Wär’s dir lieber, wenn ich so jung wäre wie dein Abba?«

»Nein, nein, nein. Überhaupt nicht. Das hab ich nicht gemeint.«

Doch die Stimme des Jungen überschlug sich, und das lag mit Sicherheit nicht am Stimmbruch. Der Schmerz war nicht zu überhören.

»Weißt du, was ich wünschte, Sammy?« sagte Decker.

Sammy antwortete nicht.

»Ich wünschte …« Decker nahm die Hand seines Stiefsohns. »Ich wünschte, daß du jetzt mit deinem Abba reden könntest. Ich schwöre bei Gott, ich wünschte, er wäre jetzt an meiner Stelle hier.«

Sammy brach in Tränen aus und schmiegte sich an Decker. Decker hielt ihn ganz fest und ließ ihn sich ausweinen. Der Junge kam allmählich in die Pubertät und hatte an Schultern und Armen bereits kräftige Muskeln entwickelt. Doch jetzt, wo er so bitterlich schluchzte, wirkte er noch sehr zerbrechlich.

»Ich kann mich gar nicht mehr so richtig an ihn erinnern, Peter. Ich versuche es ständig, aber von Tag zu Tag werden die Erinnerungen einfach immer … verschwommener. Ich erinnere mich an Dinge, die ich mit dir gemacht habe, aber ich kann mich nicht an die Sachen erinnern, die wir früher zusammen gemacht haben.« Der Junge machte sich los und trocknete seine roten Augen an den Ärmeln des Schlafanzugs. »Manchmal … manchmal … glaube ich mich an Sachen zu erinnern … verstehst du?« Er schniefte und trocknete sich erneut die Augen. »Ich glaube, mich sehr klar zu erinnern. Doch dann bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich mich nur daran erinnere, weil Ima davon erzählt hat. Oder ob ich mich daran erinnere, weil es so passiert ist. Und ich fühle mich furchtbar deswegen, weil ich nichts dagegen tun kann. Und es ist erst vier Jahre her. Wenn das so weitergeht, kann ich mich mit Zwanzig an gar nichts mehr erinnern.«

»Doch, das wirst du schon noch.«

»Nein, werd ich nicht.«

Okay, Decker, geh darauf ein. »Du warst sehr jung, als er starb.« Zu jung. Viel zu jung. »Sammy, was hältst du von folgendem? Du schreibst auf, an was du dich von deinem Abba erinnerst, und zeigst es deiner Mutter. Um zu sehen, ob sie sich genauso daran erinnert wie du.«

»Das würde sie zu sehr mitnehmen.«

»Nein, das glaube ich nicht.«

»Doch, das würde es. Ich weiß das, Peter.«

Decker spürte Erleichterung. Es war gut, daß der Junge mit ihm stritt. Es gab nichts Unheimlicheres als Jugendliche in diesem Alter ohne Widerspruchsgeist.

»Schreib es trotzdem auf, und zeig es mir. Wenn ich dann meine, es ist gerade ein günstiger Zeitpunkt, werde ich es ihr zeigen. Wie findest du das?«

Sammy zuckte die Achseln.

»Ganz wie du willst, Junge.« Decker sah auf sein angenagtes Mittagessen. Sein Magen rebellierte, seine Schulter pochte, und er merkte, daß er Kopfschmerzen bekam. Er fischte zwei Ecotrin aus seiner Jackentasche und schluckte sie ohne Flüssigkeit. »Denk einfach mal drüber nach.«

»Okay.« Sammy zögerte. »Würde es dir denn nichts ausmachen? Ich meine, wenn ich … na ja, über meinen Abba rede?«

Wenn er ganz ehrlich war, machte es ihm schon etwas aus, und er kam sich deswegen engherzig vor. Aber er hatte sich soweit im Griff, daß er seine kleinlichen Bedenken nicht dem Wohlergehen seines Stiefsohnes in den Weg stellen würde.

»Sammy, du und dein Bruder, ihr könnt soviel über euren Abba reden, wie ihr wollt. Im übrigen würde ich auch gern mehr über euren Abba erfahren. Aber es kommt mir irgendwie komisch vor, eure Mom nach ihm zu fragen.«

»Das kann ich verstehen.«

Decker nickte zustimmend. Vater und Sohn kamen sich näher. Prima!

»Weißt du was, Peter?«

»Was gibt’s, mein Junge?«

»Irgendwie hab ich ein schlechtes Gewissen, daß ich nicht Dad zu dir sage.«

Oje. »Möchtest du denn Dad zu mir sagen?«

»Eigentlich schon. Aber es fällt mir … nicht so leicht. Nicht daß ich dich nicht als meinen Dad sehe. Das wollte ich dir schon die ganze Zeit sagen.«

»Wow, da tut sich ja einiges bei dir.«

»Wie siehst du das denn?«

»Sam, es ist mir egal, wie du mich anredest. Wenn du Dad zu mir sagen willst, dann ist das prima. Aber hab bloß kein schlechtes Gewissen, wenn du lieber weiter Peter sagen möchtest.«

»Ich glaube, Yonkie würd gern Dad zu dir sagen. Wir haben darüber geredet – nicht daß du meinst, daß wir viel hinter deinem Rücken über dich reden.«

»Ich hab viel hinter dem Rücken meiner Eltern über sie geredet.«

Sammy lächelte. Diesmal ungezwungen. »Na jedenfalls, als du und Ima geheiratet habt, hat Yonkie mich gefragt, wie wir dich denn anreden sollten. Und ich … ich wußte, ich könnte nicht Abba zu dir sagen. Und Dad zu dir zu sagen kam mir auch komisch vor. Da hat Yonkie gemeint, wenn ich nicht Dad zu dir sage, würd’ er es auch nicht tun. Aber ich glaube, er hätte es eigentlich gern gewollt.«

»Warum versuchst du nicht …?«

»Ich weiß, ich weiß. Mit ihm darüber zu reden. Reden, reden, reden. Ich weiß nicht.«

Decker strich dem Jungen über die heiße Wange. »Mach doch folgendes. Nenn mich eine Woche lang Dad. Oder noch besser, nenn’ mich einen Monat lang Dad. Und wenn es dir nach einem Monat immer noch lieber ist, mich Peter zu nennen, dann sag wieder Peter. Oder Akiva. Mein jüdischer Name bedeutet mit sehr viel. Es könnte der spezielle Name zwischen uns werden, wenn dir Dad unnatürlich vorkommt.«

»Akiva. Nicht schlecht. Da bin ich gar nicht drauf gekommen. Okay, ich versuch’s erst mal mit Dad. Wenn das nicht geht … dann Akiva.«

»Fein.«

Sammy sah auf das nur zur Hälfte gegessene Sandwich. »Ich hab dir den Appetit verdorben, was?«

»Nee …« Decker zwang sich, das Sandwich zu nehmen und hineinzubeißen. »Siehst du?«

»Geschickter Zug … Dad.«

Decker lachte.

»Weißt du was?« Sammy wurde wieder ernst. »Erinnerst du dich, wie wir darüber gesprochen haben, daß es dir manchmal ein bißchen peinlich ist, daß Ima so jung aussieht?«

»Da sollte ich mich wohl dran erinnern. Das war doch erst vor etwa fünf Minuten.«

Sammy boxte ihn gegen die Schulter – die unverletzte. »Manchmal … ich meine, das klingt jetzt echt verrückt. Aber Ima wird oft für meine ältere Schwester gehalten. Selbst jetzt, wo sie … selbst jetzt.«

Decker nickte. Das Wort schwanger ging ihm offenbar auch nicht leicht von der Zunge.

»Das soll jetzt keine Beleidigung sein«, sagte Sammy, »aber ich bin wirklich froh, daß du alt … schon etwas älter bist. Wenn ich mit dir zusammen bin, wissen die Leute, daß du mein Dad bist. Wenn wir zum Baseball gehen, weiß jeder, da nimmt ein Dad seine Kinder mit ins Stadion. Ich bin stolz darauf, daß Ima so jung und schön ist, aber manchmal will man eben, daß seine Eltern wie Eltern aussehen, weißt du, was ich meine?«

»Klar doch. Mach dir keine Sorgen, Sammy, mich wird bestimmt nie jemand für deinen Bruder halten.«

»Da bin ich auch froh drüber.«

»Ich auch«, sagte Decker. »Ganz ehrlich.«

»Was ich dir auch noch nie erzählt hab, Pete … Dad, die meisten Väter von meinen Freunden sind so was wie Ärzte oder Anwälte oder Geschäftsleute.«

»Mhm.«

»Meine Mitschüler finden’s echt klasse, daß du Detective bist.«

»Richtig exotisch, was?«

»Yeah, genau. Weil du das tust, was die in den Filmen machen, die wir eigentlich nicht sehen sollen. Ich sag immer, daß es nicht so ist … außer dieses eine Mal …«

»Das waren außergewöhnliche Umstände.« Um jemandem einen Gefallen zu tun, hatte er einen ausgerissenen Jungen im Teenageralter und einen Verrückten quer durch das Land verfolgt und sich eine Schußverletzung eingehandelt. Immerhin hatte er den Jungen heil zu seiner Familie zurückgebracht. Das war die Sache wert gewesen. Er verlagerte erneut sein Gewicht. »Keine Angst, das wird nicht wieder passieren. Du hast recht, Sam. Mein Job ist nicht so, wie das in den Filmen dargestellt wird.«

»Yeah, ich erzähl meinen Freunden, daß du die meiste Zeit nur ermittelst, Leute vernimmst und einen Haufen Anrufe machst … am Schreibtisch hockst …«

Decker fing an zu lachen.

»Sagst du das nicht immer?«

»Wort für Wort.«

»Die glauben mir aber wohl nicht. Vielleicht weil sie alle wissen, daß du … na ja, daß du angeschossen wurdest. Boruch Haschem ist ja jetzt alles wieder gut. Dir geht’s doch wieder gut?«

»Mir geht’s prima.«

»Hattest du Angst?«

»Als es passierte, hatte ich schon Angst. Aber jetzt hab ich keine Angst mehr.«

»Wirklich nicht?«

»Wirklich nicht.«

»Nicht mal ein bißchen?«

»Nein.« Und das war die Wahrheit. Seine Sorge galt einzig den Menschen, die er liebte, nicht sich selbst.

»Die andern Kinder in der Schule …« Sammy spielte an der Bettdecke herum. »Die fragen mich immer wieder nach dieser Geschichte. Ich wünschte, sie würden endlich damit aufhören.«

»Es geht dir auf die Nerven.«

»Yeah, ich mag gar nicht daran denken. Deshalb erzähl ich denen auch, daß dein Job normalerweise nicht so ist. Aber sie löchern mich trotzdem weiter. Du hast für sie offenbar irgend was Gespenstisches an dir.«

Decker klimperte mit den Fingern in der Luft und heulte dabei wie ein Gespenst.

Sammy lachte. »Emes, ich find es ja auch irgendwo klasse, was du machst. Vielleicht kannst du mich ja mal mit zur Arbeit nehmen.«

Decker spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Der Junge war tatsächlich stolz auf ihn. »Würd’ ich gern tun, Sam. Such dir einen Tag aus, wir regeln die Sache mit Ima, und dann bist du mein Partner.«

Sammy streckte ganz spontan die Arme aus und fiel Decker um den Hals. Dann stieß er ihn genauso abrupt von sich. »Jetzt hab ich genug geredet. Spielst du mit mir Karten?«

 

Das Büro der Detectives in der Polizeidienststelle Foothill war nicht gerade der angenehmste Aufenthaltsort, wenn die Quecksilbersäule auf über dreißig Grad kletterte. Bei Dutzenden von Männern, die auf engem Raum schwitzten, ohne Klimaanlage und mit kaum Luftzirkulation, breitete sich sehr rasch ein strenger Geruch aus. Einige verkrafteten das besser als andere, und Mike Hollander schien es trotz seiner fast fünfzig Pfund Übergewicht mit am wenigsten auszumachen.

Es lag nicht in seinem Naturell, sich übermäßig über irgend etwas aufzuregen. Nicht daß er ein Dummkopf gewesen wäre, er war einfach … entspannt.

Er hatte noch etwas Zeit, bevor er zum Gericht mußte, und tunkte genüßlich ein Doughnut in seinen Kaffee. Dann hievte er seinen massigen Körper von seinem Stuhl hoch und walzte zu Deckers Schreibtisch hinüber. Auf dessen verkratzter Holzplatte lagen ein brauner Umschlag vom Labor, mehrere Polizeizeichnungen und eine Liste von Straftätern, die eine Ähnlichkeit mit den Männern auf den Zeichnungen hatten. Hollander wischte die Krümel aus seinem walroßartigen Schnurrbart, nahm sich die Liste und ließ sich mit seinem dicken Hintern wieder auf seinen Stuhl fallen.

Dann nahm er das Telefonbuch und fing an, die Kerle zu überprüfen. Er hatte bereits zwei von der Liste gestrichen, als Decker hereinkam. Hollander legte den Hörer auf und biß erneut in sein Doughnut.

»Du hast einen Bericht aus dem Labor über den Fall Brecht bekommen. Außerdem hat Leo die Zeichnungen vorbeigebracht und eine Liste mit Namen aufgrund der Beschreibung von deiner Tussi. Ich hab die ersten beiden überprüft. Die sitzen noch im Bau.«

Decker zog seine Jacke aus und ging schnurstracks zur Kaffeemaschine. »Danke, Mike. Wen hat sie rausgepickt?«

»Keine Kerle, die was mit Vergewaltigung zu tun hatten.«

»Mit Raubüberfall denn?«

»Yeah, aber das heißt nichts. Die meisten bekannten Genies sind wegen Raubüberfall da.«

»Das stimmt.«

»Ich hab’ die Seiten mit ihren Fotos markiert, wenn du sie mit den Zeichnungen vergleichen willst. Ach ja, die Telefongesellschaft hat zurückgerufen. An dem Morgen ging tatsächlich um 7.46 Uhr ein Anruf mit der Vorwahl von Malibu an Frederick Brecht. Ich habe die Nummer nachgeschlagen. Es ist die von Davida Eversong.«

Decker nickte. »Schön, jemand zu sehen, der sich an die gute alte Arbeitsmoral hält, Detective Hollander.«

»Sag es nicht weiter, aber ab und zu ist mir so richtig danach.« Hollander zog eine Pfeife aus der Tasche und steckte sie in den Mund, ohne sie anzuzünden. »Was hast du, Rabbi?«

»Nichts.«

»Es ist Morrison, was?« sagte Hollander. »Was hat er gemacht?«

»Nichts. Er will, daß ein paar Jungs vom Einbruch sich um den gestohlenen Schmuck kümmern.«

»Es geht um reichlich Knete. Und sie haben die Kontakte. Laß sie’s doch machen.«

»Das seh ich genauso.«

»Weshalb bist du dann sauer? Glaubst du, daß Morrison nicht genug Vertrauen zu dir hat oder was?«

»Ich bin nicht sauer.« Decker zögerte. »Nun ja, ein bißchen schon. Mir stinkt es, daß wir diesen ganzen Scheiß am Hals haben, bloß weil jemand Mist gebaut hat.«

Hollander zuckte die Achseln. »Das waren die andern, nicht wir. Wer das nicht glaubt, der kann mich mal.« Er kaute auf dem Mundstück seiner Pfeife herum. »Diese Lady – diese Lilah kommt die dir ganz ehrlich vor?«

Decker betrachtete die Zeichnungen. »Warum fragst du?«

»Guck dir mal die Zeichnungen genau an und sag mir, was dir auffällt, Rabbi.«

»Viel radiert. Und die obligaten zotteligen Haare und schielenden Augen.«

»Schielende dunkle Augen«, sagte Hollander. »Offenbar hat jeder, der schielt, dunkle Augen.«

»Um deine Frage zu beantworte: Die Dame ist sehr merkwürdig.«

»Leo hat erzählt, daß die Dame von dir sehr, sehr angetan zu sein schien.«

Decker fuhr mit dem Kopf hoch. »Was hat sie ihm erzählt?«

»Das weiß ich nicht. Ich wiederhole nur, was er gesagt hat. Im übrigen würd ich mir keine allzu großen Sorgen deswegen machen. Du weißt doch, wie Vergewaltigungsopfer manchmal sein können.«

Decker sah ihm in die Augen. »Warum hast du’s dann überhaupt erwähnt, Mike?«

Hollander hob beschwichtigend die Hände. »War nicht bös gemeint, Rabbi. Bloß daß Leo das sehr, sehr vor angetan stark betont hat. Wenn sie nicht ganz dicht ist, wär’ es vielleicht nicht schlecht, Marge oder mich hinzuzuziehen, um der Dame zu zeigen, daß du nicht ihr persönlicher Gesetzeshüter bist. Besonders weil sie so gut aussieht.«

»Was hat ihr Aussehen damit zu tun?«

»Hey, wir sind doch alle nur Menschen …«

»Ich kann nicht glauben, daß du mir so einen Mist erzählst, Hollander. Ich mach meinen Job schon fast so lang wie du.«

»Deck, ich sag doch gar nicht, daß du nicht in der Lage bist, mit Lilah Brecht oder sonst einem Vergewaltigungsopfer klarzukommen. Aber du weißt doch genauso gut wie ich, wie nervig solche Bekloppten sein können. Deine Frau ist schwanger, und ich versuche nur, dir Ärger zu ersparen. Aber wenn du den Helden spielen willst, bitte.«

Hollander holte sich noch eine Tasse Kaffee und ging an seinen Schreibtisch zurück.

Decker rieb sich die Augen. »Yeah, du hast ja recht. Sie könnte Trouble machen. Sie und ihre Mutter.«

»Miz Davida Eversong«, sagte Hollander. »Hast du mal ’nen Film mit der gesehen? In ihrer Glanzzeit war sie ’ne heiße Nummer.«

»Sie sieht immer noch recht gut aus. Gut erhalten.«

»Von Natur oder mit Hilfe der Chirurgie?«

»Wohl beides. Hör mal, Mike, danke für das Angebot, aber ich komm schon klar mit dem Fall.«

»Wollt’ dir ja bloß helfen.« Hollander hakte einen weiteren Namen auf der Liste ab. »Ein gewisser Bobby Ray Gatten. Mal gespannt, was mit dem los ist.« Er nahm den Hörer und wählte.

Decker setzte sich hin und brach das Siegel von dem Umschlag mit dem Laborbericht. Er enthielt eine Spermaanalyse, die ihnen allerdings nichts nützen würde, bevor sie einen Verdächtigen hatten. Außerdem hatte man anhand der wenigen fremden Schamhaare eine DNA-Analyse gemacht. Interessant war, daß keines dieser Haare vom Auskämmen oder von ihren Kleidern stammte. Sie waren alle, zusammen mit einem halben Dutzend kurzer, dunkler Kopfhaare, auf dem Bettuch gefunden worden. Kein Blut, keine Fasern von fremder Kleidung. Und natürlich auch keine Fingerabdrücke.

Lilahs Finger- und Zehennägel waren sauber, was bedeutete, daß sie sich nicht gewehrt hatte oder nicht hatte wehren können. Ihre Vagina hatte kein Sperma enthalten. In dem Umschlag waren auch Polizeifotos, die im Krankenhaus aufgenommen worden waren. Wieder wurde Deckers Argwohn von Mitleid überlagert, als er ihre geschwollenen Augen sah. Es gab auch ein Foto von einem heftigen Bluterguß an ihrem rechten Oberschenkel.

Die Arme.

Er hörte Marges Stimme und drehte sich um.

»Hallo, Dunn.«

»Hallo, Rabbi.« Sie kam zu ihm und warf einen Blick auf den Laborbericht. »Irgendwas gefunden?«

»Haare und Sperma. Sonst nichts.«

»Das reicht, wenn wir einen Verdächtigen finden.«

»Hast du was erreicht?«

»Ich hab mit dem Küchenpersonal der Beauty-Farm gesprochen«, sagte Marge. »Alle sagen, sie wären in der Nacht, in der Lilah überfallen wurde, zu Hause gewesen. Angehörige und Freunde bestätigen das.«

»Und was glaubst du?«

»Ich glaube, die waren wirklich zu Hause. Könnten die Haare von einem Hispanic stammen?«

»Die Kopfhaare waren kurz und dunkel. Mal sehen …« Decker blätterte in den Unterlagen herum. »Ah, hier … unter dem Elektronenmikroskop hat man festgestellt, daß es sich um glatte Haare handelt. Mehr steht da nicht.«

»Könnte also ein Hispanic sein.« Marge zog einen Stuhl an Deckers Schreibtisch und setzte sich. »Bei glatten Haaren können wir Schwarze vermutlich ausschließen.«

Decker dachte darüber nach. »Hätten wir denn welche?«

»Eubie Jeffers, der Tennislehrer der Beauty-Farm, ist schwarz.« Marge zog sich einen weiteren Stuhl heran, streifte die Schuhe ab und rieb ihre Füße aneinander. »Er ist zwar ein sehr hellhäutiger Schwarzer und sehr angepaßt. Aber trotzdem schwarz.«

»Ist er verdächtig?«

»Er war in der fraglichen Nacht in der Beauty-Farm und rückte nur sehr ungern damit raus. Da er nicht auf dem Gelände wohnt, hab ich ihn gefragt, was er dort gemacht habe. Er sagte, er hätte einer Patientin eine außerplanmäßige Privatstunde gegeben.«

»Im Matratzensport?«

»Nehm ich an.«

»Sag’s mir nicht: Sie ist verheiratet.«

»Dann sag ich’s dir auch nicht.«

»Nett. Der Ehemann blecht dafür, daß seine Frau ein bißchen Ruhe und Entspannung kriegt, und sie bumst mit einem vom Personal herum.«

»Vielleicht hat Frauchen ja ein Abkommen mit ihrem Gespons. Ich glaub nicht, daß Jeffers fürchtet, von einem zornigen Ehemann niedergeschossen zu werden. Ich hatte eher den Eindruck, daß er Angst vor einer Klage à la Mike Ness und Ms. Betham hat.«

»Hast du darüber was rausgekriegt?«

»Ich bin die Akte zum Fall Betham durchgegangen. Es scheint wirklich sehr fragwürdig. Offensichtlich hat Ms. Betham schon andere aus dem gleichen Grund angezeigt – ihren Friseur, ihren ehemaligen Masseur. Ich glaube nicht, daß es zum Prozeß kommt. Aber damit ist Ness immer noch nicht aus dem Schneider.«

Decker nickte. »Jeffers hat also in der Nacht, als Lilah vergewaltigt wurde, ein bißchen herumgevögelt.«

»Sieht so aus.«

»Legt er die Gäste regelmäßig aufs Kreuz?«

»Ziemlich regelmäßig laut Aussage der anderen Aerobiclehrerin. Ihr Name ist Natanya Frankel – ein stämmiges kleines Ding. Behauptet, sie wär früher im tschechischen Gymnastikteam gewesen, hätte sich aber 1985 abgesetzt.«

»Beschönigt ihre Vergangenheit?« fragte Decker.

»Vermutlich, aber ich glaube nicht, daß das eine Rolle spielt. Wichtiger könnte ihre Beziehung zu Eubie Jeffers sein. Ich glaube, die beiden waren mal ein Paar.«

»Meinst du, sie ist rachsüchtig?«

»Nein, sie wirkte sehr sachlich. Hat mir allerdings erzählt, daß Jeffers Mühe hat, die Hose zuzulassen.«

»Auch Lilah gegenüber?«

»Das weiß ich nicht. Natanya war nicht mehr so mitteilsam, als es um ihre Chefin ging. Ich würde sagen, daß die Leute, die für Lilah arbeiten, sie offensichtlich mögen. Natanya meinte, Lilah sei großzügig, was Zeit und Geld beträfe.

Trotzdem hatte ich nie den Eindruck, daß Lilah sich mit ihrem Personal verbrüdert. Es war ganz klar, daß Natanya über ihre Chefin sprach.«

»Hat irgendwer vom Personal was über Davida Eversong gesagt?«

»Die Leute aus der Küche haben mir erzählt, daß sie sich oft was in ihr Haus bringen läßt und reichlich Trinkgeld gibt. Sie finden sie ganz in Ordnung.«

»Was ist mit Davida und diesem Jeffers? Hattest du den Eindruck, daß sein Problem, die Hose zuzulassen, sich auch auf sie bezieht?«

»Pete, Davida muß über Siebzig sein.«

»Das hat nichts zu sagen, Margie.« Decker berichtete ihr von seinen Gesprächen mit Lilah und Davida. »Mutter und Tochter führen einen heftigen Konkurrenzkampf. Wenn Lilah und Jeffers was miteinander hätten, würde ich es Davida ohne weiteres zutrauen, daß sie versuchen würde, ihn ihr abspenstig zu machen. Aus dem einfachen Grund, weil die Frau es genießt, Macht auszuüben.«

»Was hat das mit der Tatsache zu tun, daß Lilah vergewaltigt wurde?«

»Das weiß ich nicht. Ich meine nur, daß die Sache aus zwei Gründen nach einer internen Angelegenheit aussieht. Erstens: Wir haben noch keinen Außenstehenden ausfindig gemacht, der auch nur im entferntesten verdächtig ist. Zweitens: Die Familie ist sehr seltsam.«

»Du sagst es.« Marge erzählte ihm von ihrer morgendlichen Begegnung mit Brecht und Merritt. »Die Jungs wären sich fast in die Haare geraten. Ness und ich konnten sie gerade noch so trennen. Merritt war so lange pampig, bis ich ihm erzählte, was mit Lilah passiert war. Das nahm ihm den Wind aus den Segeln. Er ist sofort ins Krankenhaus gefahren.«

»Er schien also wirklich überrascht über das, was er von Lilah hörte?«

»Ich denke ja.« Marge verzog das Gesicht. »Glaubst du etwa, Merritt hätte seine eigene Schwester vergewaltigt?«

»Nicht unbedingt direkt. Aber wie wär’s mit folgendem? Laut der Mutter haben Merritt und Brecht sie ständig um Geld angeschnorrt. Mal angenommen, einer von ihnen hat zwei Dreckskerle beauftragt, den Schmuck zu klauen. Angenommen, die Kerle nahmen den Schmuck, dann sahen sie Lilah und beschlossen spontan, sie zu vergewaltigen.«

»Was ist dann mit den Memoiren?«

»Die haben die Kerle einfach aus Jux mitgenommen.«

Marge zuckte die Achseln. »Stecken Brecht und Merritt in finanziellen Schwierigkeiten?«

»Ich weiß es nicht. Wir werden sie mal überprüfen. Und den anderen Bruder auch, wenn wir schon dabei sind.«

»John Reed. Über den weiß ich absolut nichts. Er könnte sogar der einzig Anständige unter Schweinen sein.«

»Laß uns zunächst ganz einfach an die Sache rangehen«, sagte Decker. »Wir fangen mit der Nachfrage bei den Banken an. Mal sehen, ob einer von ihnen Schulden hat – auf dem Privat- oder auf dem Geschäftskonto. Wenn einer der Brüder in arger finanzieller Bedrängnis ist, könnte Schmuck im Wert von einer Million ein ganz schöner Anreiz sein.«

»Einverstanden. Ich kümmer mich drum.«

»Du hast auch was von einem früheren Ehemann erzählt.«

Marge überflog ihre Notizen. »Ein gewisser Perry Goldin. Laut Aussage von Merritt – der zugegebenermaßen nicht sonderlich glaubwürdig ist – war die Scheidung nicht einvernehmlich. Ich weiß nicht, wer dieser Goldin ist und wo er in der fraglichen Nacht war, aber wir sollten das besser rausfinden.«

Decker nickte. »Da kümmer ich mich drum.«

Marge schüttelte den Kopf. »Sie hat sich von diesen Kerlen also im Kopf ein Bild gemacht, Pete?«

Decker zuckte hilflos die Achseln.

»Dann sind die Zeichnungen Schrott«, stellte Marge fest.

»Die Identifizierungen im Verbrecheralbum auch«, warf Hollander ein. »Keiner der Typen, die sie rausgepickt hat, war auch nur im Umkreis von hundert Meilen von ihrem Haus.«

Decker nickte und fragte sich, was – wenn überhaupt – Lilah zu verbergen versuchte. Vielleicht war es nur die natürliche Verwirrung eines Verbrechensopfers. Viele Opfer bildeten sich Dinge ein, weil sie zu verängstigt und verunsichert waren.

»Wenn ihr meinen ungebetenen Rat hören wollt«, sagte Hollander, »dann vergeßt ihre Bilder. Macht euch lieber auf die Socken und sucht ganz altmodisch nach Beweisen.«

»Und das sollten wir am besten gleich tun«, sagte Decker. »Ich will Morrison nicht verärgern.«

»Hast du endlich mit ihm gesprochen?« fragte Marge.

»Yep. Er war ganz friedlich, hat mir aber klar zu verstehen gegeben, was er will.«

»Vor allem keine schlechte Presse«, sagte Hollander.

»Am liebsten überhaupt keine Presse«, sagte Decker.