24

Marge legte den Hörer auf. »Reed hat höchstens fünfundvierzig Minuten Zeit für uns, und zwar ab drei. Wenn wir sofort losfahren, sollten wir es schaffen.«

»Burbank wird das nicht gefallen, besonders Malone nicht«, sagte Decker. »Er wollte doch die Vernehmung machen.«

»Die sind nach Malibu unterwegs. Wir können wirklich nicht auf sie warten. Reed ist ein vielbeschäftigter Mann.« Marge hängte sich ihre Handtasche über die Schulter. »Wir nehmen den Recorder mit und spielen ihnen das Gespräch Wort für Wort vor. Außerdem – hat Morrison nicht gesagt, wir sollten uns ranhalten?«

»Wenn ich bei diesem Fall noch mehr Gas gebe, durchbreche ich die Schallmauer.« Decker stopfte seine Brieftasche in die Hose. »Also gut, nehmen wir uns Reed vor. Mal gucken, ob er was weiß. Ich wollte ja bloß dumme Streitereien zwischen den Abteilungen vermeiden. Ich hab nämlich das Gefühl, daß Donnie Malone das ziemlich eng sieht.«

»Das ist sein Problem. Wenn er brisante Aufträge will, soll er sich bei den Kollegen von Southeast bewerben da kann er sich mit echt harten Typen rumschlagen.«

Decker musterte sie fragend. »Hast du immer noch Interesse, bei der Mordkommission zu arbeiten?«

Ihr Gesicht nahm einen lebhaften Ausdruck an. »Wieso? Ist eine Stelle frei?«

»Nicht offiziell, Margie. Aber Gerüchten zufolge könnte es in Devonshire bald eine freie Stelle geben.«

Marge wirkte enttäuscht. »Eine freie Stelle? Also was für einen Mann weißer Hautfarbe.«

»Vielleicht könnte man sie überreden, zwei Leute darauf zu setzen.«

»Was wär ich denn dann? Die Zusatzprämie?«

»Marjorie, du weißt doch, wie der Laden läuft. Wenn ich absage, werden sie dich nicht bitten, dich zu bewerben. Also entweder überzeug ich die, daß sie dich als Zusatzprämie nehmen, oder wir bleiben beide, wo wir sind. Sei doch nicht so empfindlich.«

Längere Zeit herrschte Schweigen.

»Willst du denn überhaupt bei der Mordkommission arbeiten?« fragte Marge.

»Es ist eine Herausforderung, aber es bedeutet auch viel längere Arbeitszeiten.« Decker zuckte die Achseln. »Im Augenblick ist das eh alles reine Theorie. Ich wollte dich bloß mal aushorchen.«

Marge lächelte. »Ich weiß dein Verhalten schon zu schätzen und möchte ja auch nicht undankbar klingen. Es ist eben nur so ärgerlich.«

»Ich kann verstehen, wie es sein muß, übergangen zu werden, bloß weil man keinen Pimmel hat. Aber ich hab einen, und wenn ich dir helfen kann, warum denn nicht?«

»Du bist schwer in Ordnung, Pete.«

»Das hat meine Tochter mir auch gerade gesagt.«

»Dann muß es ja stimmen.« Marge zwinkerte ihm zu. »Also los. Ich fahre.«

Wie gut es tut, aus dem Büro rauszukommen, dachte Decker, während er aus dem Fenster sah. Das Wetter war warm und klar, die Freeways relativ leer. Es war zwar eine weite, aber landschaftlich schöne Strecke durch kurvige Canyons im Schatten von Eukalyptushainen, grünen Ahornbäumen und knorrigen kalifornischen Eichen. Scharen schwarzer Vögel flogen am azurblauen Sommerhimmel.

Der Plymouth kam gut voran, bis sie Hermosa Beach am Pacific Coast Highway erreichten. Sofort staute sich der Verkehr, und rücksichtslose Motorradfahrer kurvten in Schlangenlinien um die stehenden Autos. Auf beiden Seiten der Straße waren Fahrradwege markiert, auf denen sich Radfahrer in Latexklamotten abstrampelten. Auf den Gehwegen drängten sich Touristen in geblümten Hemden, die unter dem Gewicht der Kameras um ihre Hälsen ächzten, und andere Fußgänger, deren Hautfarbe von tief gebräunt bis krebsrot reichte. Skateboard- und Rollerbladefahrer sausten in neonfarbenen Surfshorts und Muskelshirts durch die Menge. Möwengeschrei und Vogelgezwitscher wetteiferte mit dumpf dröhnenden Lautsprechern und dem Lärm von Feiernden auf den Balkons der Apartmenthäuser.

Rechts vom Pacific Coast Highway sah man in mehrere Seitenstraßen, die dicht mit Mehrfamilienhäusern bebaut waren. Die Gebäude waren nach keinem einheitlichen architektonischen Konzept errichtet, bestanden jedoch zum größten Teil aus Stuck und Holz und hatten jede Menge Fenster. Jenseits der Häuser wogte das stahlblaue Meer mit seinen weißen Schaumkronen.

Als das Auto an einer verstopften Kreuzung anhalten mußte, beobachtete Marge das bunte Treiben um sich herum. »Ah, wenn man jung, Single … und weiß ist, muß das hier das Paradies sein.«

Decker schielte aus dem Fenster. »Ich glaube, ich seh ein paar Schwarze.«

»Nee, das sind keine richtigen Schwarzen, das sind eher … in Schokolade getunkte Surfer.«

»Ich hör’ Rap-Musik.«

Marge machte eine wegwerfende Handbewegung. »Rap ist von den Weißen übernommen worden, Pete. Sieh dir doch nur Vanilla Ice and his Xeroxes an.« Sie lachte. »Jeder will immer das, was der andere hat: die Weißen schmieren sich Scheiß in die Haare, um Rastalocken zu kriegen, die Schwarzen schmieren sich Zeug in die Haare, damit sie glatt werden. Die Menschheit ist nie zufrieden.«

»Aber das macht uns kreativ«, sagte Decker. »Indem wir die Rastlosigkeit in Kunst umwandeln. Hey, Margie, wie wär’s, wenn wir beide mal ’nen Polizistenrap schreiben:

 

Das Leben eines Cop ist kein Zuckerschlecken

Gangsta und Betrüger bis zum Verrecken

die lauern mir auf, ständig muß ich rasen,

die warten nur darauf, mir das Leben auszublasen …

 

»Behalt deine Dienstmarke und deine Waffe, Sergeant.«

Decker verzog keine Miene. »Ich bin zutiefst getroffen!«

 

Das schon fast zwanghaft ordentliche Büro mit seinem weiten Blick auf den Ozean wirkte eher wie das Büro eines Generaldirektors als das eines Arztes. Die Wände waren bis zur Höhe der Stuhllehnen mit dunklem Nußbaumholz getäfelt, darüber mit pfirsichfarben und dunkelgrün gemustertem Chintzstoff bespannt. Reed hatte einen altmodischen Zweierschreibtisch aus Mahagoni mit geschnitzten Löwenfüßen. Doch seine Anordnung im Raum sowie die Diplome an der Wand signalisierten, daß dieser Schreibtisch nur von einer Person benutzt wurde, die viel Platz brauchte.

Decker machte es sich in einem soliden Ledersessel dem Schreibtisch gegenüber gemütlich, Marge nahm in dem passenden Gegenstück Platz. Reed saß mit geradem Rücken auf seinem Schreibtischstuhl, die Hände ruhten gefaltet auf der Tischplatte. Sein Arztkittel war blütenweiß und frisch gestärkt. Ein Mann, der an Ordnung gewöhnt war. Decker hätte wetten mögen, daß Reed nervös wurde, wenn etwas nicht so lief wie geplant.

Die Stirn des gebräunten, ebenmäßigen Gesichts war gefurcht, die kastanienbraunen Augen bewegten sich unruhig hin und her. Auch wenn er seine Finger zwanghaft zusammenhielt, wippte er sachte mit den Händen auf der Tischplatte. Er hatte dünne mokkafarbene Haare, die an einer Seite gescheitelt waren. Eine kleine Strähne hing ihm in die Stirn. Reed blickte auf seine gefalteten Hände, dann schaute er auf.

»Wie kann ich Ihnen helfen?« Doch bevor sie antworten konnten, fuhr Reed fort: »Vielleicht sollte ich eher fragen, wie können Sie mir helfen? Erst Lilah, und jetzt dieser entsetzliche … ich bin …«

In Reeds Stimme waren noch Reste eines vornehmen britischen Akzents zu hören.

»Mein Beileid«, sagte Decker.

»Ich bin … völlig am Boden zerstört!« sagte Reed.

»Haben Sie und Ihr Bruder sich nahegestanden?« fragte Marge.

»Nahe?« Reed klopfte mit den gefalteten Händen auf den Schreibtisch. »Das würde ich so nicht sagen … Aber zumindest hat er mir nähergestanden als alle anderen Angehörigen mütterlicherseits. Wir hatten Gemeinsamkeiten durch unseren Beruf. Ab und zu trafen wir uns zum Mittagessen oder bei Konferenzen. Wir benutzten zum Teil dieselben Krankenhäuser. Wir standen uns nicht besonders nahe, aber Kingston war immerhin … Ich kann es einfach nicht fassen …«

Er atmete tief durch, stand auf und ging zum Wasserspender. »Kann ich Ihnen einen Kaffee oder Tee anbieten?«

»Nein danke, Dr. Reed.«

Reed spielte mit einem Pappbecher herum, dann füllte er ihn mit Wasser und trank. »Ich … ich weiß überhaupt nicht …« Er zerknüllte den geriffelten Becher und warf ihn in den Müll. »Ich hab keine Ahnung, wie ich Ihnen weiterhelfen könnte. Im Fall von Lilah auch nicht. Ich … ich hab keinerlei Beziehung zu ihr. Ich weiß nicht …«

Er ließ sich wieder auf seinen Schreibtischstuhl sinken.

»Wann haben Sie Ihren Bruder zum letzten Mal gesehen?« fragte Decker.

»Ihn gesehen?« Reed faltete wieder die Hände. »Ich kann mich nicht erinnern. Vor ein paar Wochen. Meine Sekretärin müßte das wissen. Sie macht für mich die Termine. Kingston und ich haben uns nie spontan getroffen. Immer nur auf … Verabredung. Entweder rief er bei mir an oder ich bei ihm. So in der Art … Darf ich den Recorder abstellen? Der macht mich ziemlich nervös.«

Decker stellte das Gerät ab, dann nahm er sein Notizbuch und hielt es hoch. »Stört Sie das auch?«

»Nein, überhaupt nicht«, sagte Reed. »Der Recorder ist einfach so … entwürdigend.«

»Das stimmt«, sagte Decker. »Hatten Sie mit Kingston Kontakt, nachdem Lilah überfallen wurde?«

»Kontakt?« Reed biß sich auf die Lippe. »Ich weiß nicht … ach doch … er hat mich natürlich angerufen. Er war sehr bestürzt. Ich war ebenfalls bestürzt. Ich hab kein enges Verhältnis zu meiner Schwester, aber … ich fand das einfach entsetzlich!«

»Haben Sie Lilah im Krankenhaus besucht?« fragte Marge.

Reed senkte den Blick. »Nein … hab ich nicht. Das finden Sie bestimmt ziemlich herzlos. Aber zumindest hab ich angerufen. Wir haben nur kurz miteinander geredet. Ich hab sie gefragt, ob sie etwas braucht, und sie hat gesagt, sie brauche nichts. Mutter und Freddy würden sich um alles kümmern. So lief das meistens, wenn ich mit Lilah gesprochen habe. Sie hat mich immer … von allem ausgeschlossen.« Er atmete heftig aus. »Deshalb hab ich mich wohl auch irgendwann nicht mehr bemüht. Nicht daß mein Leben … leer gewesen wäre ohne sie oder ohne sonstwen von ihnen. Meine Familie ist … sehr schwierig. Für mich ist es besser, wenn ich möglichst wenig Kontakt zu ihnen habe.«

»Aber mit Kingston hatten Sie doch Kontakt«, sagte Marge.

»Ja, größtenteils auf beruflicher Basis. Privat allerdings auch.«

»Können Sie sich zufällig erinnern, ob Sie kurz vor dem Überfall auf Lilah mit ihm gesprochen haben?« fragte Decker.

»Kann schon sein.«

Decker wartete, ob noch etwas folgen würde, aber Reed schwieg. »Klang Kingston anders als sonst?«

»Inwiefern?«

Decker zuckte die Achseln. »Aufgeregt, deprimiert, besser gelaunt als sonst.«

»Kingston war nie gut gelaunt«, sagte Reed. »Er war von seiner Arbeit besessen.«

»Schien er in letzter Zeit noch besessener als sonst?«

»Ja … mir kam es so vor, als wäre es mit King in letzter Zeit noch schlimmer.« Reed seufzte. »Etwa eine Woche bevor … Lilah überfallen wurde, rief er mich an. Er brauchte Geld.«

»Wieso?« sagte Marge. »Hatte er denn nicht eine gutgehende Praxis?«

»Mehrere sogar«, fügte Decker hinzu.

»Sie wissen von dieser Klinik in Burbank?« fragte Marge.

Reed blickte ruckartig auf. »ja, natürlich. Nicht daß ich das billigte … nicht daß ich das mißbilligte … die Abtreibungen, meine ich. Bloß … er machte eben Geld damit, aber das war nur ein Teil davon.«

»Von was?« fragte Decker.

»Weshalb er diese Klinik in Burbank hatte«, sagte Reed.

»Eigentlich ging es um die Föten«, sagte Marge.

Reed verzog das Gesicht. »Dann wissen Sie ja alles.«

»Das war nur eine Vermutung«, sagte Marge.

Und zwar eine verdammt begründete, dachte Decker, während er sich Notizen machte.

»Was machte er mit den Föten?« fragte Marge.

Reed atmete heftig aus. »Was er getan hat, war nicht legal.«

»Reden Sie weiter«, sagte Decker.

»Er betrieb Forschung mit Embryonen. Forschung war Kings ganze Leidenschaft seit dem Medizinstudium … eigentlich schon von Kindheit an. King wollte immer Wissenschaftler werden, aber Mutter wollte, daß er Arzt wurde. Sie wollte, daß wir alle Ärzte wurden.«

»Das ist mir auch aufgefallen«, sagte Marge.

»Mutter war sehr direkt mit ihren Wünschen. Und sie hat so eine Art, daß sie auch kriegt, was sie will. Nicht daß ich bedaure, daß ich Medizin studiert habe. Aber danach war ich nicht bereit, mich weiter nach Mutters Bedürfnissen zu richten. Sie ist eine hoffnungslose Hypochonderin, und jetzt kriegt der arme Frederick ihre Neurosen voll ab. Ich hab ihn schon oft gedrängt, mit ihr zu brechen, aber …« Er biß sich auf die Lippe.»Wo war ich stehen geblieben?«

»Daß Kingston Wissenschaftler werden wollte«, sagte Decker.

»ja, Kingston hat für sich das Beste aus der Situation gemacht. Er wählte Medizin als seine wissenschaftliche Disziplin und trieb seine Forschungen voran. Nichts konnte ihn davon abbringen.«

»Ich kenne Kingstons beruflichen Werdegang nicht«, sagte Decker. »Arbeitete er mit irgendeinem Forschungsinstitut oder einer Universität zusammen?«

Reed schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat die akademische Welt ziemlich schnell verlassen – das war ihm zu kleinkariert, zu viele Bestimmungen und Regeln, zu viele Spielchen, um etwas ordentlich finanziert zu kriegen.«

»Ihr Bruder hatte es also nicht mit Spielchen, Doctor?« sagte Decker.

»Wenn Sie meine Mutter kennen würden, würden Sie verstehen, warum«, sagte Reed. »Wir sind alle Figuren in Mutters Spielchen, ständig im Kampf gegeneinander um ihre Aufmerksamkeit. Kingston mochte keine Kompromisse. Schon als Student beklagte er sich, wie reglementiert Krankenhäuser und Unis wären. Er hat immer gesagt, er wolle seine Forschungen auf keinen Fall mit Stipendien finanzieren. Also hat er … eine eigene Praxis aufgemacht und seine Forschungen selbst finanziert.«

Reed holte tief Luft.

»Das hat ihn völlig in Anspruch genommen. Er hat nie geheiratet, war absolut … ungesellig. Meine Frau und ich, wir haben versucht, ihm … irgendwie klarzumachen, daß es auch noch andere Dinge gibt … aber Forschung war sein Leben.«

»Selbst wenn das bedeutete, sich über einige Vorschriften hinwegzusetzen und illegal mit abgetriebenen Föten zu arbeiten«, sagte Decker.

»Ja.« Reed nickte. »Ja, er hat die Vorschriften sehr frei ausgelegt – dagegen verstoßen. Aber so war King eben. Wenn er sich mal was in den Kopf gesetzt hatte, konnte ihn niemand mehr aufhalten.«

»Was machte er mit den Föten?« fragte Marge.

»Wollen Sie das genau wissen?«

»Ja«, sagte Marge.

»Er zermahlte sie und jagte die Zellen durch eine französische Presse, um sie zu öffnen. Dann wurde die DNA eliminiert und Enzyme und Proteine getrennt, um solche embryonischen Enzyme zu lokalisieren und isolieren, die möglicherweise bei Empfängern von Implantaten ein Abstoßen des Fremdkörpers verhindern.«

»Ich mußte das fragen«, sagte Marge.

»Embryogewebe – besonders in den frühen Entwicklungsstadien – ist unspezifisch«, sagte Reed. »Die Zellen haben die erstaunliche Fähigkeit, überall zu wachsen, ohne abgestoßen zu werden … vielleicht sollte ich Ihnen ein Beispiel geben.«

»Aber bitte ein kurzes, Doctor«, sagte Decker.

»Natürlich.« Reed räusperte sich. »Mal angenommen, Sie brauchen eine Niere, und ich kann eine Niere spenden. Aber das bedeutet noch lange nicht, daß Ihr Körper meine Niere annehmen wird.«

»Sie muß kompatibel sein«, sagte Marge.

»Genau!« sagte Reed. »Embryogewebe ist anders als Ihr Gewebe und als mein Gewebe. Ich kann es irgendwo in Ihren Körper injizieren, und … es besteht eine gute Chance, daß Ihr Körper es nicht abstößt, weil es nicht als fremd empfunden wird. Es ist unspezifisch. Wir beginnen alle als einzelne Zelle, der sogenannten Zygote. Während der Gestation differenzieren sich die Zellen, obwohl sie alle die gleiche DNA-Komponente haben. Ein Prozeß, den wir noch nicht so ganz verstehen. Die Zellen werden aufgefordert, Gehirnzellen oder Hautzellen oder Nierenzellen zu werden. Wenn man nun unspezifisches Embryogewebe in ein Organsystem injiziert, wird es Teil des jeweiligen Systems. Was ist nun das Besondere an Embryogewebe, daß unser Körper es akzeptiert und aufnimmt? Das ist – war es, woran King gearbeitet hat.«

Marge sah Decker an. »Das meiste hab ich verstanden. Komm mir richtig schlau vor.«

»Es klingt komplizierter, als es ist«, sagte Reed. »Ich werd’s mal vereinfachen …«

»Doctor Reed, wir brauchen nicht sämtliche medizinischen Details zu kennen«, sagte Decker. »Halten wir einfach mal fest, daß Dr. Merritt illegal mit Embryonen gearbeitet hat. Wie lange forschte er schon auf diesem Gebiet?«

»Seit Jahren. Er hat einige unglaubliche Entdeckungen gemacht! Aber er konnte seine Ergebnisse nicht publizieren, weil seine Forschungen illegal waren.«

»Warum wirkte er dann in letzter Zeit noch besessener als sonst?« fragte Decker. »Wurde ihm die Sache allmählich zu heiß? Kriegte er böse Briefe von Abtreibungsgegnern?«

»Nein, nein … zumindest nicht daß ich … es gibt immer gewisse Feindseligkeiten, wenn man Abtreibungen macht, aber …« Reed setzte sich wieder hin. »Es ging um’s Geld. Er brauchte es absolut dringend. Forschung ist teuer – all die Maschinen, die teuren Chemikalien und die ganzen Tiere, die er kaufen mußte. Das trieb ihn fast in den Ruin. Aber das war nichts Neues. Kingston hat seine Forschungen immer mit Ach und Krach finanziert. Aber er hatte das Gefühl, daß er vor einer wichtigen Entdeckung stünde. Und er brauchte Geld, um weiter daran zu arbeiten. Deshalb hat er mich wegen eines Kredits angerufen.«

»Und haben Sie ihm was gegeben?« fragte Marge.

»Ja, hab ich. Genau gesagt zwanzigtausend Dollar. Aber das war nicht genug.« Reed schüttelte den Kopf. »Ich will absolut ehrlich zu Ihnen sein. Das Geld war nicht der einzige Grund, weshalb er mich anrief. Er wollte mich aushorchen. Mutter hatte ihm einen Vorschlag gemacht.«

»Was für einen Vorschlag?« fragte Decker.

»Das … ich weiß es nicht. Ganz ehrlich, sobald ich hörte, daß es von Mutter kam, hab ich King geraten, die Finger davon zu lassen. Ich selbst habe diesen Rat immer befolgt und bin gut damit gefahren. Mutter kann ziemlich heimtückisch sein – sie spielt uns gern gegeneinander aus. King hat mir erzählt, es könnte eine Menge Geld dabei herausspringen – mehr, als sie ihm je gegeben hat.«

»Hat Ihre Mutter Kingston denn häufiger Geld gegeben?« fragte Decker.

»Ab und zu … ein Tausender hier, ein Tausender da. Aber nach dem, was Kingston mir erzählt hat, hatte ich den Eindruck, daß er … einen richtigen Batzen erwartete.«

Decker mußte daran denken, wie Davida davon sprach, wie sie ihren Söhnen dauernd Geld zusteckte. Aber es scheint nie zu reichen. Diese Aasgeier.

»Ich hab King gesagt, wenn es von Mutter käme, könnte es eigentlich nur Ärger bringen«, fuhr Reed fort. »Ich weiß nicht, ob er auf mich gehört hat.«

»Aber Sie haben einen gewissen Verdacht«, sagte Decker.

»Ja, das hab ich.« Reed faltete die Hände. »Sobald King mir von der Sache mit Lilah erzählte … von dem Diebstahl … hab ich mich gefragt, ob er … was damit zu tun hat …«

»Haben Sie ihn zur Rede gestellt?«

»Nein.« Reed schüttelte den Kopf. »Nein, hab ich nicht. Ich … ich wollte es nicht wissen. Aber King war eindeutig bestürzt. Er würde Lilah niemals weh tun. Er hat unsere kleine Schwester über alles geliebt. Lilah hat ihn immer mehr als Vater als als Bruder angesehen. Allerdings hat sich Mutter ganz gewiß nicht viel um sie gekümmert.«

»Glauben Sie, er könnte Lilah irgendwas gestohlen haben, um Ihrer Mutter einen Gefallen zu tun?«

»Ich weiß wirklich nicht, was ich glauben soll.«

»Als Sie mit Kingston gesprochen haben, hat er da zufällig die Memoiren von Hermann Brecht erwähnt?«

Reed schien echt verblüfft. »Ich wußte noch nicht mal, daß Hermann Brecht Memoiren geschrieben hat.«

»Hat er aber offenbar.«

Reed zuckte die Achseln.

»Doctor, was können Sie mir über Hermann Brecht erzählen?« sagte Decker.

»Ich habe Hermann als unscheinbaren, blassen und äußerst mürrischen Mann in Erinnerung, der meine Mutter meinem Vater ausgespannt hat. Heute ist mir klar, daß meine Eltern vermutlich schon lange, bevor Hermann auftauchte, Probleme in ihrer Ehe hatten, aber ich war ein Kind und habe Hermann als Eindringling gesehen. Nachdem er und Mutter verheiratet waren, habe ich mich geweigert, bei ihnen zu wohnen. Ich bin zurück nach London gegangen und habe bei meinem Vater gewohnt, bis ich volljährig war. Eine sehr weise Entscheidung.«

Reed schien gedankenverloren.

»Meine lebhafteste Erinnerung an Hermann ist anläßlich der Feiern zur Geburt von Lilah. Meine Mutter und er lebten damals in einer alten Villa in Westberlin – eine der wenigen, die im Zweiten Weltkrieg nicht zerbombt worden waren. Es war, kurz nachdem Präsident Kennedy in Berlin gewesen war und seine berühmte Rede gehalten hatte – Ich bin ein Berliner.« Reed sah Marge an. »Vor Ihrer Zeit, Detective.«

Marge lächelte. »Erzählen Sie weiter, Dr. Reed.«

»Ich wurde nach Deutschland eingeflogen«, sagte Reed. »Das war Anfang der sechziger Jahre. Obwohl ich damals noch jung war, habe ich gute Erinnerungen an die Menschen in Westdeutschland, weil sie nicht genug kriegten von Amerika und Amerikanern. Und meine Mutter war nicht nur Amerikanerin, sondern eine berühmte Amerikanerin. Nach der Geburt von Lilah wurde Mutter von der Presse förmlich belagert, und sie kostete das voll aus. Es gab eine Party nach der anderen, Mutter war überglücklich und strahlte, küßte jeden, lachte die ganze Zeit und schwebte durch die Menge wie ein Schwan. Ich habe dieses Bild im Kopf, weil sie jeden Tag ein andersfarbiges flatterndes Gewand trug.«

Reed dachte einen Augenblick nach. »Hermann hingegen zog sich immer in irgendeine Ecke zurück, soff die ganze Zeit und weigerte sich, mit irgendwem zu reden, besonders mit Mutters anderen Kindern. Kingston und ich waren für ihn personae non gratae. Mutter war natürlich zu sehr mit ihren Bewunderern beschäftigt, um auf Hermann zu achten. Ich kann mich an dieses albtraumhafte Gefühl erinnern, in eine fremde Welt geraten zu sein – à la Fellini, wenn Sie so wollen.«

»Wenn Ihre Mutter sich die ganze Zeit nicht um Sie gekümmert hat, warum hat sie Sie dann überhaupt einfliegen lassen?« fragte Marge.

»Weil ich der Sohn von Davida Eversong war«, sagte Reed. »Ich mußte dort sein, um den Schein zu wahren.«

»Hermann war also kein Partytyp«, sagte Decker.

»Überhaupt nicht … ganz im Gegensatz zu meiner Mutter.« Er lachte traurig. »Wenn ich an all die Mütter denke, die ich betreut habe, ich hab ehrlich gesagt … noch nie eine Frau erlebt, die kurz nach einer Geburt gesellschaftlich so aktiv war wie Mutter in dieser Woche. Natürlich wurde Mutter von vorne und hinten verhätschelt. Sie hatte eine Krankenschwester für sich selbst, und zwei für das Baby – eine Amme, die Lilah stillte, und eine Schwester, die sich um alles mögliche kümmerte. Keine der Krankenschwestern hat mir … und noch nicht mal Kingston … erlaubt, unsere kleine Schwester anzufassen.«

»Warum sagen Sie ›noch nicht mal Kingston‹?« fragte Decker.

»Ich hatte Mutter schließlich verlassen und war zu Vater gezogen, aber er lebte noch bei ihr. Für mich war diese Abweisung zwar auch schlimm, aber ich gehörte ja gar nicht so richtig zur Familie. Kingston hingegen war stinksauer. Bei einer von Mutters vielen Parties hatte er plötzlich so sehr die Nase voll, daß er das Baby der Schwester aus den Armen riß. Das versetzte Hermann in Rage. Die beiden lieferten sich einen heftigen Faustkampf. Der wurde zwar rasch beendet, aber da hatten beide schon blutige Nasen. King war damals erst sechzehn, aber er war stark und streitsüchtig. Und Hermann war betrunken, also war er kein … es war furchtbar.«

»Wie alt waren Sie damals?« fragte Marge.

»Knapp vierzehn. Zu jung, um eine ganze Woche mit einem betrunkenen Stiefvater in Berlin auszuhalten. Ich hielt mich im Hintergrund, bis ich gnädigerweise nach England zurückgeflogen wurde. Als Mutter Freddy bekam … beziehungsweise ihn adoptierte, wollte sie mich wieder einfliegen lassen. Ich hab mich geweigert, und mein Vater – möge er in Frieden ruhen – hat meine Entscheidung akzeptiert.«

»Während Ihres Aufenthalts in Berlin, Doctor, ist es da auch zwischen Ihnen und Hermann Brecht zu Streitereien oder Handgreiflichkeiten gekommen?« fragte Marge.

»Nein, ich hab mich gefügt. Ich hab übrigens Hermann Brecht nie wieder gesehen außer im offenen Sarg bei seiner Beerdigung. Traurig, wenn jemand so jung stirbt, aber das hat meinen Haß gegen ihn nicht gemildert. Er war ein depressiver Säufer, der meine Mutter meinem Vater ausgespannt hat und der hochtrabende, manierierte und zynische Filme gemacht und sie als Kunst bezeichnet hat.«

»Sie haben keine Vermutung, was in seinen Memoiren stehen könnte?« fragte Decker.

»Ich weiß es nicht … und es interessiert mich auch nicht.«