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Außerhalb der Dienstzeit zu arbeiten hieß nichts anderes, als den gleichen Job ohne Bezahlung zu machen. Doch da sich der gemeldete Zwischenfall nur zwölf Blocks von ihm entfernt ereignet hatte und ohnehin in seinem Polizeirevier landen würde, sah Decker keinen Grund, warum er den Uniformierten nicht zuvorkommen sollte. Schon mal den Schauplatz sichern, bevor die Jungs in Blau Gelegenheit hatten, Beweismaterial zu zertrampeln, und sich so die eigene Arbeit zu erleichtern. Er nahm das Mikrophon aus der Halterung, meldete sich bei der Funkzentrale und schaltete den Computerbildschirm in seinem nicht gekennzeichneten Plymouth an. Wenige Sekunden später schlängelten sich grüne LCD-Linien über den Monitor.

Überfall auf eine Frau – sexuelles Trauma vermutet – keine Namens- und Altersangabe. Die Meldung war von einer spanisch sprechenden Frau gekommen, die das Opfer in einem durchwühlten Schlafzimmer gefunden hatte. Sanitäter waren bereits unterwegs.

Decker bog scharf rechts ab und steuerte auf die genannte Adresse zu.

Im Innenraum des Plymouth roch es stark nach frisch gebackenem Brot – ein Roggenbrot mit Kümmel, zwei knusprige Zwiebelstangen, ein Dutzend mit Mohn bestreute Kaisersemmeln und diverses Blätterteiggebäck. Alles ganz frisch aus dem Ofen, so heiß, daß die Frau in der Bäckerei es nicht in eine Plastiktüte packen wollte. Deshalb steckten diese Köstlichkeiten jetzt in offenen Papiertüten, und ihr Hefearoma ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Frische Backwaren schienen Rinas einziges Gelüst während ihrer Schwangerschaft zu sein, und Decker machte es Spaß, sie zu verwöhnen. Die nächste koschere Bäckerei war zwar zwölf Meilen von ihnen entfernt, doch es war eine ruhige Strecke. Er genoß die frühmorgendliche Stille, während er auf dem Freeway durch die offene Landschaft fuhr und das imposante Lichterspektakel am östlichen Horizont beobachtete. Er war dankbar über die vierzig Minuten Einsamkeit und deshalb alles andere als erfreut gewesen, als die Durchsage in die Stille platzte. Doch der Tatort lag so nahe, daß er sie nicht ignorieren konnte. Also hatte er sein Hirn gezwungen, in den Arbeitsmodus umzuschalten.

Er bog nach links in den Valley Canyon Drive, der mitten durch weites Ranchland führte. In der Ferne war die berühmte Valley-Canyon-Beauty-Farm zu sehen – ein zweistöckiger rosa verputzter Klotz, den man in die Ausläufer der San Gabriel Mountains gesetzt hatte. Vor den sandfarbenen Felsen wirkte das Gebäude wie ein riesiger Furunkel. Unter Deckers Kollegen hatte man den Namen der Schönheitsfarm auf VALCAN verkürzt, woraus dann schließlich VULCAN geworden war. Ein beliebter Scherz war, daß die Klientel von VULCAN heimliche Verwandte von Mr. Spock wären, die auf die Erde gebeamt wurden, um sich die Ohren richten zu lassen. Das VULCAN hatte schon mehr Stars beherbergt, als Sterne auf dem Bürgersteig des Hollywood Boulevard eingelassen waren. Es galt als eine der exklusivsten Einrichtungen dieser Art in den Vereinigten Staaten. Das und die Tatsache, daß die Beauty-Farm von der Tochter von Davida Eversong geleitet wurde, machten es zu einem nationalen Anziehungspunkt für reiche, magersüchtige Frauen, die sich zu Skeletten trimmen wollten.

Davida Eversong war eine der selbst ernannten Grandes Dames des alten Hollywood. Gerüchten zufolge hatte sie sich in einen Bungalow auf dem Gelände der Beauty-Farm zurückgezogen. Decker hatte sie mal in einem Tante-Emma-Laden in der Gegend gesehen. Sie hatte ihr Gesicht hinter einer Sonnenbrille und einem schwarzen Turban verborgen, der sich um ihre Wangen schmiegte und unter dem Kinn zusammengebunden war. Doch gerade wegen dieses Aufzugs war sie ihm aufgefallen. Wer zog sich schon nachts so an, außer wenn man bemerkt werden wollte? Allerdings hatte nur er sie genauer betrachtet. Für die anderen Kunden im Laden war sie einfach eine der für L. A. typischen Exzentrikerinnen gewesen.

Decker war gerade alt genug, um sich an die Endphase ihrer langen Filmkarriere zu erinnern – an die letzten drei oder vier Filme, in denen sie nur noch aufgrund früherer Verdienste eine Rolle bekommen hatte. Dann kam die Runde durch die Talk-Shows, um für ihre Autobiographie Werbung zu machen. Das Buch wurde ein Bestseller. Das war jetzt etwa fünfzehn Jahre her, und seitdem war sie nicht mehr in der Öffentlichkeit in Erscheinung getreten. Doch der Name Eversong beschwor immer noch Bilder von Filmdiven und dem Glamour Hollywoods herauf. Und Eversongs Tochter hatte sicherlich keine Hemmungen, diese Verbindung zu nutzen. Vielleicht war sie sogar richtig stolz auf Mama. Vielleicht ging es ihr aber auch nur um den geschäftlichen Vorteil.

Rund um das riesige Gelände wand sich ein Band bunter Jogginganzüge; die Damen kamen gerade von ihrem Morgenlauf zurück. Aus Deckers Perspektive sahen sie aus wie neonfarbene Ameisen, die einen Hügel umkreisten.

Er griff in eine der Papiertüten, brach ein Stück von einem warmen Kirschteilchen ab und stopfte es sich in den Mund. Mit vollem Mund rief er Rina über Funk an und erklärte ihr, warum er nicht zum Frühstück zu Hause sein würde. Sie klang enttäuscht, aber er wußte nicht, was sie mehr bedrückte – seine Abwesenheit oder der Verzicht auf ihre morgendliche Kaisersemmel.

Nicht daß sie sich nicht über seine Gesellschaft freuen würde, aber sie war einfach mehr mit sich selbst beschäftigt als sonst. Doch das war ja zu erwarten gewesen. Obwohl er insgeheim noch hoffte, daß sich ihre Gedankenverlorenheit legen würde, wußte er mittlerweile, daß das reines Wunschdenken war. El Honeymoon war finito. Zeit, mit dem normalen Alltagsleben anzufangen.

Er erinnerte sich an die körperliche Erschöpfung, die ein Baby mit sich brachte – lange Nächte, in denen man immer wieder aus dem Schlaf gerissen wurde, die Streitereien, die Spannungen. Seine Exfrau hatte morgens wie ein Zombie ausgesehen. Und sich auch so verhalten. Allerdings erinnerte er sich auch an die Freude über Cynthias erstes Lächeln, über ihre ersten Schritte und die ersten Worte. Er nahm an, daß es beim zweiten Mal leichter sein würde, weil er wußte, was ihn erwartete. Aber er wußte auch, daß er es zutiefst vermissen würde, für Rina nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen.

Er biß ein weiteres Stück des Teilchens ab und wischte sich die Krümel aus dem rotblonden Schnurrbart.

Tja, so ist nun mal das Leben, Kumpel.

Er gab Gas, und das Auto schoß die kurvige Gebirgsstraße hinauf. Die Adresse auf dem Bildschirm bezog sich auf die Ranch neben der Beauty-Farm. Zwischen dem rosafarbigen Klotz und dem Nachbarhaus lagen vier Hektar Gestrüpp, aber eine klare Trennlinie zwischen den Grundstücken war nicht zu erkennen.

Er fand beide Hausnummern an einem frei stehenden Briefkasten direkt an der Einfahrt, bog nach links in eine kurvige Asphaltstraße und parkte schließlich vor dem Ranchhaus. Es war ein weißes, einstöckiges Gebäude mit Außenwänden aus Holz und stand auf einer erst kürzlich angepflanzten Grasfläche. Das Haus wurde auf beiden Seiten von Obstbäumen gesäumt – links Zitronen, rechts Aprikosen, Pflaumen und Pfirsiche. Zwischen den Bäumen konnte Decker Fingerhut und vereinzelte Sträucher erkennen, die sich zum Fuß der Berge hin allmählich zu graugrünem Gestrüpp verdichteten.

Er tippte seine Ankunftszeit in den Computer ein – nur zwei Minuten und zweiundzwanzig Sekunden zwischen Durchsage der Meldung und seinem Eintreffen. Die Tatsache, daß er nur wenige Blocks entfernt gewesen war, würde die Statistik ganz schön zugunsten des Los Angeles Police Department verzerren. Er stieg aus dem Auto und sah sich kurz um. Obwohl das Haus nicht besonders groß war, wirkte es dennoch außergewöhnlich.

Die Holzwände glitzerten wie Schnee in der Sonne, nirgends blätterte auch nur ein winziges Stückchen Farbe ab. Die Steinplatten auf dem Gehweg wiesen keinen einzigen Riß auf, und die Holzschindeln auf dem Dach sahen aus, als wären sie mit dem Lineal ausgerichtet. Das Holz der Veranda war ebenfalls frisch gestrichen und knarrte kein bißchen. Hier stand ein Schaukelstuhl aus Rohr, über dessen geschwungenen Armlehnen gehäkelte Deckchen lagen. Es war das perfekte Ranchhaus. Zu perfekt. Es sah aus wie eine Filmkulisse.

Decker hämmerte gegen die Tür und erklärte auf Spanisch, er sei Polizeibeamter. Die Frau, die ihn hereinließ, war völlig verstört und brabbelte unverständliches Zeug vor sich hin. Zwischen hysterischen Schluchzern rief sie immer wieder Dios mio an. Sie war um die Vierzig, und ihre weiche, mollige Figur war in eine gestärkte weiße Dienstmädchenuniform gezwängt. Die dunklen Augen waren voller Furcht, und mit den Fingern raufte sie sich die Haare. Sie führte ihn in ein verwüstetes Schlafzimmer. Das Bett sah aus wie ein Haufen durcheinandergeworfener Bettücher und war mit Glasscherben übersät. Schubladen waren herausgezogen und ausgekippt worden. Doch Decker starrte wie gebannt in die Mitte des Raumes.

Wie ein achtlos hingeworfenes Stück Kleidung lag sie dort auf dem Boden, mit verbundenen Augen und halb nackt. Ihre Haut war voller blauer Flecken und eiskalt. Rasch kniete er sich neben sie und kontrollierte Puls und Atmung. Obwohl sie flach atmete, war ihr Herzschlag zu spüren. Decker suchte ihren Körper nach Blutungen ab – jedenfalls äußerlich war nichts zu entdecken. Obwohl der Fußboden hart und kalt war, wagte Decker nicht, sie aufzuheben, sie könnte ja eine Rückenverletzung haben. Er forderte das Hausmädchen auf, ihm eine Decke zu bringen. Dann nahm er vorsichtig die Augenbinde ab und erstarrte, als er sah, wen er da vor sich hatte.

Davida Eversongs Tochter – die Besitzerin von VALCAN. Er hatte ihr Foto Dutzende Male in den lokalen Käseblättern gesehen. Geschichten, so mitten aus dem Leben gegriffen: die Beauty-Farm bittet am Wochenende zur Rettet-die-Wale-Gala oder ein ganz besonderer Aufenthalt zum doppelten Preis zur Unterstützung der Obdachlosen. Ihr betörendes Gesicht schmückte jede Woche die Titelseite des Deep Canyon Bellringer, Arm in Arm mit immer einem anderen Star.

Wie zum Teufel war noch mal ihr Name? Alle sprachen immer nur von Davidas Tochter. Selbst die Lokalzeitungen schrieben über sie immer nur als Sowieso, die Tochter von Davida Eversong. Sie hatte irgendeinen exotischen Vornamen. Lara? Nein, nicht Lara, Lilah … Das war’s. Lilah. Lilah irgendwas mit B. Sie wohnte also neben ihrer Kurklinik. Das war plausibel.

Selbst in ihrem gegenwärtigen Zustand konnte er erkennen, daß sie schön war. Ihre Augenlider waren verquollen, die Unterlippe aufgeplatzt und geschwollen. Ihr Hals war voller roter Druckstellen, doch es waren keine Spuren von einer Schnur oder ähnlichem zu sehen. Auf ihrem Oberkörper waren Striemen, als ob man sie ausgepeitscht hätte.

Decker nahm seinen Spiralblock heraus und fing an, die erkennbaren Verletzungen zu notieren. Wenn sie noch längere Zeit bewußtlos blieb und nicht ihre Zustimmung geben konnte, fotografiert zu werden, würden seine Aufzeichnungen ein wichtiges Beweismittel sein.

Die arme Frau. Ihr Nachthemd war bis zum Becken hochgezogen. Offenbar hatte es ein sexuelles Delikt gegeben. Decker nahm den moschusartigen Geruch von Sperma im Zimmer wahr. Sobald er seine Notizen beendet hatte, zog er ihr das Nachthemd nach unten und deckte sie mit der Decke zu, die das Dienstmädchen gebracht hatte. Er strich ihr einige feine, blonde Haarsträhnen aus der feuchten Stirn und berührte in der Hoffnung, daß seine Hände ihr Gesicht ein wenig wärmen würden, vorsichtig ihre Wangen. Ein sanfter Atem blies über seine Hände.

Er flüsterte: »Lilah«, erhielt aber keine Antwort. Ganz allmählich schienen ihre Wangen ein bißchen Farbe zu bekommen. Decker wies das Hausmädchen an, nichts anzufassen, und bat sie, draußen zu warten und den Sanitätern den Weg zu zeigen.

Brecht! Das war ihr Name. Lilah Brecht. Ihr Vater war ein deutscher Regisseur gewesen, der künstlerisch ambitionierte Filme gedreht hatte. Sein Name tauchte häufig in Zeitschriften- oder Zeitungsartikeln auf, in denen es um ausländische Filme ging. Mit einer Schauspielerin als Mutter und einem Regisseur als Vater war es eigentlich erstaunlich, daß sie nicht ebenfalls in dieses Metier eingestiegen war, schoß es Decker durch den Kopf.

Sein Blick wandte sich wieder Lilahs Gesicht zu. Zumindest schienen die Verletzungen nur oberflächlich zu sein, die Knochen im Gesicht waren offenbar nicht gebrochen. Das war ein Glück, weil sie sehr feine Züge hatte, die durch einen genau plazierten Schlag leicht hätten entstellt werden können. Sie hatte ein ovales Gesicht, eine schmale gerade Nase und hohe Wangenknochen, die in einem kantigen Kiefer endeten, der sich zu einem sanft gewölbten Kinn verjüngte. Decker stellte sich vor, daß sie tief liegende, mandelförmige Augen haben mußte.

Er hörte, wie sich Schritte näherten, drehte sich um und sah die Sanitäter ins Zimmer treten. Es waren zwei – ein Mann und eine Frau. Beide trugen kurzärmelige blaue Arztkittel. Decker wollte aufstehen, doch irgendwas hielt ihn fest. Eine Hand. Ihre Hand! Sie war aus dem Nichts hervorgeschossen und umklammerte mit erstaunlicher Kraft seinen Arm. Er verzog das Gesicht vor Schmerz, kniete sich wieder hin und versuchte, den Druck zu lindern. Sie hatte seinen linken Arm gepackt – den Arm, der sich immer noch nicht ganz von einer Schußverletzung erholt hatte. Als er vorsichtig versuchte, ihre Finger zu lösen, verstärkte sie ihren Griff und zwang ihn, sich mit einer gewissen Gewalt zu befreien. Dann nahm er ihre Hand und umschloß sie.

»Können Sie mich hören, Lilah?« flüsterte er.

Keine Reaktion.

Die Sanitäterin kniete sich neben Decker. Sie war jung und hatte kurze, braune, lockige Haare, die ihr rundes Gesicht betonten. Laut Namensschild hieß sie Gomez.

Decker versuchte, Lilahs Hand loszulassen, doch sie hielt ihn fest.

»Sie scheinen eine Freundin gefunden zu haben«, sagte Gomez, während sie eine kleine Taschenlampe auf Lilahs Pupillen richtete. Dann kontrollierte sie Puls und Atmung.

»Sie muß irgendwie bei Bewußtsein sein«, sagte Decker. »Sie reagiert bloß nicht verbal.«

»Haben Sie die Decke über sie gelegt?«

»Yeah«, sagte Decker. »Sie war kalt und grau, als ich reinkam.«

»Schock.« Gomez steckte die Taschenlampe ein. »Ihr Pupillarreflex ist normal. Ihr Puls ist schwach, aber regelmäßig.« Sie starrte auf das Gesicht. »Ist das nicht … Sie wissen schon … die Tochter dieses Filmstars? Der die Beauty-Farm gehört.«

»Das ist Lilah Brecht.« Erneut versuchte Decker seine Hand wegzuziehen, doch ihre kalten Finger hatten sich um sein Handgelenk geschlossen.

»Ich glaube, sie versucht, Ihnen was zu sagen.« Gomez schlug die Decke zurück und untersuchte rasch den Körper der blonden Frau. »Lilah, können Sie mich hören? Drücken Sie …« Sie sah Decker an.

»Sergeant Decker«, sagte er.

»Drücken Sie Sergeant Deckers Hand, wenn Sie mich hören.«

Keine Reaktion.

»Vielleicht ist es ja etwas Ernsteres«, sagte Gomez.

Ihr Kollege, ein dünner junger Mann mit hängenden Schultern, kam mit der Tragbahre herein.

»Können Sie bei ihr bleiben?« sagte Gomez zu Decker. »Ich muß Eddie mit der Bahre helfen.«

»Yeah. Versuchen Sie, nichts durcheinanderzubringen.«

Gomez sah sich im Zimmer um. »Könnten Sie das denn feststellen?«

»Es geht um das Durcheinander, das der Täter angerichtet hat, nicht um Ihres.« Der Rücken tat ihm vom Knien weh. Er setzte sich auf den Boden. »Lilah, ich bin Sergeant Decker. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Können Sie mich hören? Drücken Sie meine Hand, wenn ja.«

Keine Reaktion.

»Lilah, Miss Gomez …«

»Teresa.«

»Lilah, Teresa und Eddie werden sich gut um Sie kümmern. Sie bringen Sie jetzt ins Krankenhaus. Alles wird wieder gut.«

Sie drückte zwar nicht seine Hand, doch unter ihren geschlossenen Lidern kamen Tränen hervor.

»Lilah, ich weiß, daß Sie mich hören können, aber ich weiß auch, daß Sie zu schwach zum Reden sind. Probieren Sie es gar nicht erst. Ich werde versuchen herauszufinden, was mit Ihnen passiert ist. Sobald es Ihnen besser geht, komme ich zu Ihnen ins Krankenhaus, und dann reden wir miteinander. Nur Mut! Ich muß jetzt meine Hand wegnehmen, damit die Sanitäter Sie ins Krankenhaus bringen können.«

Doch als er seine Hand wegziehen wollte, packte sie noch fester zu.

Eddie sagte: »Sie können ruhig ihre Hand weiter halten.« Seine Stimme klang blechern. »Sie stören uns nicht.«

Decker versuchte erneut, sich loszumachen. »Lilah, ich würde mich gern ein bißchen in Ihrem Haus umsehen. Um so eher finde ich heraus, was passiert ist.«

Statt ihn loszulassen, grub sie ihre Finger in sein Fleisch.

»Halten Sie einfach weiter ihre Hand, Sergeant, während wir sie aufladen«, sagte Teresa. »Es hat keinen Sinn, sie aus der Fassung zu bringen.«

Decker tat wie geheißen, fühlte sich jedoch unwohl dabei. Soviel Verzweiflung lag in ihrem Griff – und soviel Kraft. Es war unheimlich, weil Lilah so geschunden und schwach wirkte. Vielleicht wich langsam der lähmende Schock. »Sie sind jetzt in Sicherheit, Lilah«, flüsterte er. »Niemand wird Ihnen etwas tun. Sie sind in Sicherheit.«

»Lilah, wir werden Sie jetzt hochheben«, sagte Teresa. »Ich stütze Sie bloß ein bißchen im Nacken. Keine Angst, es wird schon gehen.« Sie wandte sich an Decker. »Wo Sie schon mal hier sind, helfen Sie uns doch beim Aufladen, indem Sie eine Hand unter ihren Rücken schieben.«

Decker nickte.

»Ich zähl bis drei«, sagte Eddie. »Eins … zwei … drei, los!«

Wie ein eingespieltes Team hoben sie zu dritt Lilah auf die Tragbahre, während sie immer noch Deckers Hand umklammert hielt. Doch zumindest konnte er jetzt stehen, seine Schultern und den Rücken entspannen. Erneut versuchte er, seine Hand wegzuziehen, aber Lilah ließ nicht locker.

Teresa reckte den Hals, um zu Decker hochzuschauen. »So wie sie Sie festhält, können wir zumindest sicher sein, daß die Wirbelsäule nicht gebrochen ist … jedenfalls nicht von der Taille an aufwärts.«

»Lilah, können Sie mit den Zehen wackeln?« fragte Eddie.

Eine schwache Reaktion.

»Gut, Lilah«, sagte Decker. »Das war gut. Können Sie mich verstehen? Drücken Sie meine Hand, wenn ja.«

Ein leichter Druck.

»Das ist ausgezeichnet, Lilah! Die Sanitäter werden Sie jetzt ins Krankenhaus bringen. Sie sind in sehr guten Händen. Die Ärzte werden Ihnen helfen. Sie werden ein paar Tests durchführen, um festzustellen, ob alles in Ordnung ist. Ich möchte, daß man Sie sehr gründlich untersucht. Ist das in Ordnung? Verstehen Sie mich?«

Ein weiterer Druck ihrer Hand.

»Wo bringen Sie sie hin?« fragte Decker die Sanitäter.

»Ins Sun Valley Memorial«, antwortete Teresa. »Ist das okay?«

»Yeah, das ist prima. Fragen Sie nach Dr. Kessler oder Dr. Begin, und sagen Sie ihnen, es wär für Sergeant Decker. Die beiden haben Erfahrung mit solchen Vorfällen und wissen, was ich zur Beweisaufnahme brauche. Das Übliche – sämtliche Flüssigkeiten, ein gründliches Durchkämmen von Scham- und Kopfhaar, Finger- und Fußnägel reinigen und alles, was drunter ist, ins Labor.« Er streichelte die Hand, die ihn umklammert hielt. »Lilah, sind Sie einverstanden, wenn im Krankenhaus Fotos von Ihren Verletzungen gemacht werden? Solche Fotos könnten mir bei der Suche nach dem Monster helfen, das Ihnen das angetan hat. Verstehen Sie mich?«

Sie gab ein ersticktes Geräusch von sich.

»Lilah, drücken Sie meine Hand, wenn Sie damit einverstanden sind.«

Ein weiterer Druck ihrer Hand.

»Danke, Lilah.«

Decker sah die Sanitäter an. »Sagen Sie den Ärzten Bescheid, daß ich einen Polizeifotografen schicke. Außerdem brauche ich die Kleidung und ihre anderen persönlichen Dinge in Plastiktüten verpackt. Bitten Sie die Leute, Handschuhe zu tragen. Die Sachen hol ich selbst ab und bring sie ins Labor.«

»Alles klar«, sagte Teresa.

Decker betrachtete die manikürte Hand mit den langen, schmalen Fingern, die sein Handgelenk umschlang. »Lilah, ich bin’s noch mal, Sergeant Decker. Ich stelle Ihnen jetzt eine Frage. Drücken Sie meine Hand, wenn die Antwort ja ist. Wissen Sie, wer Sie überfallen hat?«

Keine Reaktion.

»Okay, ich stelle Ihnen noch einmal dieselbe Frage. Drücken Sie, wenn die Antwort ja ist. Wissen Sie, wer Sie überfallen hat?«

Nichts.

»Sie wissen also nicht, wer Sie überfallen hat. Drücken Sie, wenn Sie nicht wissen, wer Sie überfallen hat.«

Decker spürte einen leichten Druck. »Okay, das war sehr gut. Lilah, ich verspreche Ihnen, daß Sie in Sicherheit sind. Alles wird wieder gut. Sie müssen mich jetzt loslassen.«

Ihre Finger verstärkten den Druck.

»Lilah, die beiden hier müssen Sie jetzt ins Krankenhaus bringen, und ich kann nicht mit.« Als er ihr seine Hand entwand, stieß sie ein dumpfes Stöhnen aus. »Ich komm wieder, Lilah. Ich verspreche, ich komm wieder und werd mit Ihnen reden.«

Sie stöhnte erneut. Tränen kullerten über ihr Gesicht. Als die beiden Sanitäter sie hinaustrugen, bemerkte Decker, wie ihre Hand nach ihm ausgestreckt blieb. Und dieses Stöhnen … Er hatte das Gefühl, als ob er sie im Stich ließe, und er hoffte, daß sie ihm das nicht übel nehmen würde, wenn er zur Vernehmung kam … falls sie sich überhaupt an ihn erinnerte. Opfer von Sexualverbrechen litten zuweilen unter Amnesie, besonders wenn sie große Qualen erlitten hatten.

Decker streckte sein Kreuz, dann fuhr er mit seiner kräftigen Hand durch sein karottenrotes Haar. Als er sich umdrehte, sah er das Dienstmädchen in der Tür stehen. Sie zitterte immer noch und suchte am Türpfosten Halt. Er sagte, sie solle sich in die Küche setzen und sich eine Tasse Tee machen. Er käme gleich zu ihr.

Decker nahm ein Plastiktüte aus der Jackentasche und steckte die Augenbinde hinein. Mit einem Fettstift skizzierte er, wo Lilah auf dem Boden gelegen hatte. Dann nahm er sein Sprechfunkgerät und bat, zu Detective Marge Dunn durchgestellt zu werden. Während er darauf wartete, daß sie sich meldete, holte er einen Stift und seine Checkliste für Vergewaltigungsfälle heraus und fing an, sich ausführliche Notizen zu machen.