10

Davida akzeptierte gnädig die Hand ihres Chauffeurs und legte ihre Finger leicht auf sein Handgelenk, als ob sie mit ihm Menuett tanzen wollte. Behutsam setzte sie einen Fuß vom Bordstein in die Limousine. Dann wandte sie sich ihrem jungen Fahrer zu, ließ ihren Blick an seinem gut gebauten Körper hinuntergleiten und reichte ihm zwanzig Dollar.

»Es wird noch ein bißchen dauern, Albert. Gehen Sie sich doch was zu essen holen.«

Der Chauffeur, der eigentlich Russ Donnally hieß, dankte ihr und steckte den Geldschein in die Hosentasche seiner Uniform. Nachdem er sich jahrelang irgendwie durchgeschlagen hatte, hatte Donnally hier einen echt guten Job gelandet. Ein Freund von einem Freund hatte ihm von der Stelle erzählt. Die alte Dame zahlte nicht nur anständig, sie hatte auch einige klasse Wagen in der Garage stehen – einen todschicken Rolls Silver Cloud III, einen Bentley Flying Spur, einen neuen Bentley Turbo und zwei alte Packards. Und natürlich die Limousinen. Autos, die er auch für sich privat benutzen durfte. Er genoß es, durch die Straßen zu fahren und sich von den Mädchen bewundernde Blicke zuwerfen zu lassen. Solche großen Superschlitten brachten eindeutig ihre Vorteile. Er hatte schon etliche Miezen auf den Rücksitzen gebumst, die breiter als ein Doppelbett waren.

Und was Davida selbst betraf – die Alte war ganz okay. Sie stellte ihm keine persönlichen Fragen –, war zu sehr damit beschäftigt, über sich selbst zu reden oder seinen Schritt zu mustern. Solange er tat, was die alte Dame von ihm wollte, und ihr Komplimente machte, war sie glücklich wie ein Drogensüchtiger in einer Apotheke. Donnally gefiel es zwar nicht, Albert genannt zu werden – Alberts waren dünne, alte, glatzköpfige Typen mit englischem Akzent –, aber was soll’s, kein Job war perfekt.

»Danke, Miss Eversong.« Donnally half seiner Chefin behutsam in das Auto und fuhr sich dann mit einer Hand über seine angeklatschten schwarzen Haare. »Soll ich Ihnen was zu essen mitbringen?«

»Nein danke, Albert. Ich darf erst am Mittag wieder was essen. Ich will doch meine Traumfigur nicht ruinieren.«

»Das wäre kriminell, Madam.«

»Albert, Sie sind ein schamloser Schmeichler. Machen Sie weiter so.«

Donnally lächelte. »Wann soll ich zurück sein?«

»In einer halben Stunde. Seien Sie pünktlich.«

»Alles klar, Miss Eversong.« Er verabschiedete sich mit einem Winken und warf die Tür zu.

Seufzend betrachtete Davida ihre Fingernägel.

»Dieser Junge ist ein widerlicher Schleimer, Mutter. Ich verstehe gar nicht, warum du ihn behältst.«

»Weil es mir so paßt.« Sie wandte sich ihrem Sohn zu. »Und er erledigt seine Aufgaben gut. Was ich von dir nicht gerade behaupten kann, Frederick. Sie wurde zusammengeschlagen, das arme Kind! Was ist passiert?«

»Das weiß ich nicht!«

»Das solltest du aber wissen!« Davida öffnete ein Fach mit einem eingebauten Nagelpflegeset und nahm eine Papiernagelfeile heraus. »Du hast sie als letzter gesehen.«

»Ihr fehlte absolut nichts, als ich sie zu Hause abgesetzt habe. Was sollen diese furchtbaren Anspielungen, Mutter? Ich würde ihr niemals weh tun …«

»Halt die Klappe, Freddy, und mach das Licht unter der Decke an. Hier drinnen ist es so dunkel, ich kann überhaupt nichts sehen.«

Brecht wischte sich mit einem Taschentuch durch das Gesicht und knipste den Schalter an. »Irgendwas muß schiefgegangen sein …«

»Wohl wahr, irgendwas ist verdammt schief gegangen. Abgesehen von dieser Scheiße mit Lilah, ist auch noch mein Schmuck weg.« Sie feilte wütend an einem Zeigefinger. »Gott, wie mich das ankotzt!«

»Wer auch immer deinen Schmuck gestohlen hat, muß auch Lilah weh getan haben.«

»Die ganze Angelegenheit macht mich krank!«

»Worauf warten wir hier eigentlich, Mutter?«

»Ein Detective will mich wegen des Schmucks sprechen.«

»Dieser große rothaarige Mann?«

»Ja.«

»Ich mag ihn nicht.«

»Natürlich nicht. Er ist ja kompetent.«

»Beleidige mich nur weiter, Mutter. Wenn du das nächste Mal einen Laufburschen brauchst, kannst du Kingston anrufen. Mal sehen, ob er nach Malibu rausfährt.«

Davida lachte laut und tätschelte sein Knie. »Höre ich da einen Anflug von brüderlichem Konkurrenzkampf in deiner Stimme? Bloß weil du adoptiert bist, heißt das doch nicht, daß ich dich weniger liebe …«

»Mutter, wenn ich diesen Sermon noch mal höre, fang’ ich an zu kotzen!«

Sie tätschelte erneut sein Knie. »Armer Freddy. Ich tanze wirklich auf deinen Nerven herum. Der Detective sollte bald hier sein. Ich hab ziemlich deutlich gemacht, daß mir meine Zeit kostbar ist. Ich werde ihm meinen Schmuck beschreiben, und dann können wir alle nach Hause gehen und diesen Schlamassel vergessen.«

»Mir ist nicht sehr wohl dabei, daß die Polizei in unseren Angelegenheiten herumschnüffelt«, sagte Brecht. »Ich bin überrascht, daß es dir anscheinend nichts ausmacht.«

»Frederick, Darling, denk doch mal logisch. Er schnüffelt nicht in unseren familiären Angelegenheiten herum, er versucht, ein Verbrechen aufzuklären. Er interessiert sich für Lilah … und vielleicht interessiert er sich auch für meinen Schmuck. Wenn er auf Abwege gerät, hetze ich ihm ein paar Reporter auf den Hals. Das letzte, was die Polizei nämlich brauchen kann – besonders hier in der Gegend –, ist Presse. Bis dahin lassen wir ihn nach den Männern suchen, die Lilah überfallen haben. Ich hab jedenfalls nichts zu verbergen.«

»Ich auch nicht, Mutter.«

Davida pustete auf ihre Fingernägel. »Dann haben wir ja beide keinen Grund, uns aufzuregen. Sei nicht so nervös, Freddy. Wenn’s kompliziert wird, kümmere ich mich darum – und um dich. Dazu sind Mütter schließlich da.«

»Verzeih mir, wenn ich dich nicht als Mutter des Jahres vorschlage.«

»Freddy, sei nicht so biestig. Das liegt dir nicht.« Sie küßte ihn auf die Wange. »Du kennst doch meine scharfe Zunge. Ich bin eben hemmungslos auf meinem Ego-Trip.«

Brecht ließ einen Arm vorschnellen und sah auf seine Rolex.

»Bist du in Eile?«

»Ein bißchen.«

»Du hast also tatsächlich Patienten?«

Brecht wurde rot im Gesicht. »Lilah hat mich gebeten, in der Beauty-Farm vorbeizufahren und zu gucken, ob alles reibungslos läuft. Und danach, Mutter, habe ich tatsächlich Patienten. Außerdem habe ich unermeßliche Patience mit dir.«

Davida betrachtete ihn. »Ein Wortspiel, Frederick! Hätte fast von Noël Coward sein können!«

Brecht starrte sie wütend an. »Mutter, ich glaub, ich fahr mit dem Taxi zurück zur Beauty-Farm. Wenn du mich bitte entschuldigst …«

»Frederick, bevor du gehst, könntest du mir noch die Nagelhaut zurückschieben. Ich möchte, daß meine Nägel schön sind, wenn ich dem rothaarigen Detective die Hand schüttele.«

 

Zehn Uhr dreißig, und die Frauen trainierten schon seit dreieinhalb Stunden, dachte Marge. Schweiß strömte ihre Haut hinunter, während sie marschierten, die Beine hochwarfen, in die Hocke gingen und hunderte Male die Arme kreisen ließen – und das alles zu ohrenbetäubender Heavy-Metal-Musik. Genug körperliche Aktivität, um ein Herz auf Hochtouren zu bringen. Doch für die Beauty-Farm war der Tag noch jung. Vier weitere Unterrichtsstunden waren für den Nachmittag angesetzt. Wie hielten diese Frauen das aus? Die Strapazen schienen besonders lächerlich, weil diese Mädels alles andere als dick waren. Das waren dürre Frauen. Und sie zahlten reichlich Geld für diese Tortur. Verdammt, sie hätten genauso gut zur Armee gehen und viele Dollar sparen können.

Die junge Frau, die diese Stunde leitete, war stämmig, aber gelenkig. Ihr schwitzendes Gesicht war ernst und konzentriert, während sie ihre Anweisungen rief, die trotz der lauten Musik klar und deutlich zu hören waren. Marge hatte noch nicht mit ihr gesprochen, beschloß jedoch, daß es nichts bringen würde, sie zu unterbrechen. Kelley Ness hatte sich am Morgen zwar kooperativ verhalten, aber freundlich war sie nicht gewesen.

Marge beschloß, zunächst ihr Glück bei Eubie Jeffers, dem Tennislehrer, zu versuchen. Vielleicht konnte sie ihn zwischen zwei Kursen erwischen. Am Empfang würde bestimmt ein Stundenplan ausliegen. Also schlenderte sie durch die prunkvolle Eingangshalle zur Rezeption, die jedoch nicht besetzt war. Sie widerstand dem Drang, die kleine schwarze Glocke zu läuten, sondern lehnte sich nur gegen die Theke. Dabei schweifte ihr Blick automatisch zu dem Mann links neben ihr. Er war hellhäutig, hatte eine Glatze und wirkte erregt. Er wippte auf den Fußballen und läutete dann mehrmals rasch hintereinander die Glocke.

»Wo ist schon Hilfe, wenn man sie braucht?« sagte Marge.

Der Mann zuckte beim Klang von Marges Stimme zusammen. Er trug ein schwarzes Seidenhemd über einer Jeans und offene Sandalen.

»Normalerweise sind die Mitarbeiter hier äußerst hilfsbereit.« Er drehte sich zu Marge um. »Ich bin Dr. Frederick Brecht, ich arbeite hier als Arzt. Kann ich Ihnen helfen?«

»Schon möglich.« Marge streckte ihre Hand aus. »Detective Dunn. Vielleicht könnten wir uns kurz unterhalten.«

Brecht sah auf ihre Hand, dann schüttelte er sie schließlich. »Ich habe schon mit der Polizei gesprochen. Ich kann Ihnen nichts sagen. Ich wünschte, ich könnte, aber ich weiß nichts.«

Marge richtete den Blick auf sein Gesicht. Der Mann war zwar leger gekleidet, doch er wirkte verkrampft wie jemand, der an einem nervösen Magen leidet. »Ich würde mich gern mit Ihnen über die Beauty-Farm unterhalten und über die Leute, die hier arbeiten. Schließlich liegt die Kurklinik direkt neben dem Haus Ihrer Schwester.«

»Niemand hier würde meiner Schwester auch nur ein Haar krümmen. Alle ihre Angestellten lieben sie. Auf den Straßen von Los Angeles laufen doch Tausende von Wahnsinnigen herum. Warum fangen Sie nicht an, die zu überprüfen?«

Marge wollte gerade antworten, als die scharfzügige Ms.

Purcel an ihren Platz hinter dem Empfangstisch zurückkehrte.

»Nett, daß du uns Gesellschaft leistest, Fern«, sagte Brecht.

Marge lächelte, als Ferniemausi rot wurde.

»Ich … es tut mir furchtbar leid …«

Brecht brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen, dann sah er Marge an. »Irgendwo da draußen läuft ein Wahnsinniger herum, der Frauen schlägt und vergewaltigt. Finden Sie ihn.«

»Sie können sich darauf verlassen, daß wir intensiv ermitteln«, sagte Marge. »Doch im Augenblick würde ich mich ganz gern mit den männlichen Mitarbeitern von Miss Brecht unterhalten. Nur um ganz … gründlich zu sein.«

Brecht seufzte gequält. »Ich nehme an, daß es machbar ist. Aber versuchen Sie, diskret zu sein, Detective. Wir haben hier eine sehr exklusive Klientel.«

»Na so was!« dröhnte eine tiefe Baritonstimme. »Wer hat dich denn aus der Gosse gezogen?«

Marge und Brecht drehten sich zu der Stimme um. Der Mann war groß und hatte eine gute Figur. Er schien Mitte bis Ende Vierzig zu sein, hatte eisblaue Augen, blasse Lippen und eine römische Nase. Sein Gesicht zeigte eine kräftige Farbe und war an Nase und Wangen kreuz und quer von winzigen Äderchen durchzogen. Seine grau melierten Haare waren lang genug, daß sie lockig herunterfielen, aber gerade noch kurz genug, um ordentlich zu wirken. Er trug einen dunkelblauen Leinenblazer, ein weißes Hemd, eine blaue Seidenkrawatte im Jacquardmuster und eine blau-weiß gestreifte Leinenhose. Um die schlanke Taille hatte er einen weißen Eidechsgürtel mit goldener Schnalle. Seine Füße steckten in weißen Cole-Haan-Slippern aus Kalbsleder. Aus seiner Brusttasche guckte ein weißes Einstecktuch aus Seide. Marge sah ihn an, dann schaute sie wieder zu Brecht, dessen kahler Schädel rot vor Wut geworden war.

»Was zum Teufel willst du denn hier?« fauchte Brecht.

»Mutter besuchen, Frederick.«

»Du bist hier aber nicht willkommen«, schoß Brecht zurück. »Verschwinde sofort, oder ich laß dich rausschmeißen.« Er sah zu Marge. »Machen Sie sich nützlich, Detective, und verhaften Sie diesen Mann. Dr. Merritt betritt widerrechtlich privates Gelände.«

»Ich wurde hierher gebeten …«

»Verhaften Sie ihn, Detective!«

»Dr. Brecht …«, sagte Marge.

»Verhaften Sie ihn sofort«, sagte Brecht mit kläglicher Stimme.

Merritts schmale Lippen verzogen sich zu einem kalten Lächeln. Er trat einen Schritt vor; Marge stellte sich ihm in den Weg. Merritts Augen verengten sich.

»Wer zum Teufel sind Sie?«

»Ich bin von der Polizei, Dr. Merritt«, sagte Marge. »Warum setzen wir uns nicht hin und versuchen, uns wie zivilisierte Menschen zu unterhalten …«

»Sie kennen diesen Mann nicht«, sagte Brecht. »Mit ihm kann man nicht zivilisiert reden.«

Merritt warf ihm einen verächtlichen Blick zu, dann wandte er sich an Marge. »Warum ist die Polizei hier?«

»Wir ermitteln wegen Ihrer Schwester …«, sagte Marge.

»Was hat Lilah denn nun schon wieder angestellt?« fragte Merritt.

»Sie hat überhaupt nichts angestellt«, sagte Brecht.

Merritts Augen hatten ein wenig von ihrem selbstbewußten Ausdruck verloren. »Weshalb ermitteln Sie dann?« fragte er Marge.

»Wenn sie gewollt hätte, daß du es erfährst, hätte sie es dir schon gesagt, Kingston. Warum läßt du die arme Lilah nicht in Ruhe? Sie braucht dich nicht mehr.«

Merritts Nase zuckte. Er ging um Marge herum und baute sich vor Brecht auf. »Du dämlicher Trottel, du wagst mir zu sagen, wie ich meine kleine Schwester behandeln soll …«

»Was fällt dir ein, so mit mir zu reden!« sagte Brecht.

»Meine Herren …«

»Ich rede mit dir so, wie es mir paßt!« Merritt gab Brecht einen heftigen Stoß. »Und jetzt geh mir aus dem Weg!«

»Nimm die Finger von mir!«

»Ich mach, mit meinen Fingern, was ich will!«

Marge trat zwischen die beiden Männer und hielt sie mit beiden Armen auf Distanz. »ZURÜCK! ALLE BEIDE! SOFORT AUSEINANDER!«

Erschrocken von Marges lauter Stimme, ließen sie voneinander ab.

»Was zum Teufel ist denn hier los?«

Marge drehte sich zu der neu hinzugekommenen Männerstimme um. Mike Ness – und hinter ihm eine sehr besorgt aussehende Ms. Purcel. Sie hatte also den Wachhund geholt. Na prima! Noch ein aufgeplustertes männliches Ego zu beschwichtigen!

»Dr. Brecht, ist alles in Ordnung?« fragte Ness, starrte dabei aber Merritt an. Er trug ein Muskelshirt und Shorts und rieb sich mit einem Handtuch den Hals. »Ich muß Sie leider bitten zu gehen, Sir!«

»Einen Teufel werden Sie tun!« sagte Merritt. »Meine Mutter, Davida Eversong, hat mich hergebeten, und ich habe die Absicht, mit ihr zu reden.«

»Ms. Eversong ist nicht da«, sagte Ness mit ruhiger Stimme. »Ich richte ihr aus, daß Sie vorbeigekommen sind.«

»Nein, ich werde auf sie warten … junger Mann!« sagte Merritt.

»Das wäre wohl keine so gute Idee … Sir!«

»Mike«, meldete sich Marge zu Wort, »warum nehmen Sie Dr. Brecht nicht mit und geben ihm was von Ihrem stressabbauenden Consommé? Ich bleibe solange hier und unterhalte mich mit Dr. Merritt, bis Ms. Eversong zurückkommt. Wann wird sie denn erwartet?«

»Keine Ahnung«, sagte Brecht. »Jedenfalls ist dieser Mann hier nicht willkommen.«

»Die Beauty-Farm gehört doch nicht dir, Freddy!« brüllte Merritt. »Sie gehört Lilah!«

»Lilah verachtet dich!«

»Dann soll sie es mir persönlich sagen!«

»Sie beide verursachen ja einen ganz schönen Aufruhr.« Marge wies grinsend mit dem Kopf auf die kleine Ansammlung, die sich um den marmornen Kamin gebildet hatte. Die Männer folgten schweigend ihrem Blick.

Ness’ Augen schossen zwischen Brecht und Merritt hin und her. Dann sagte er zu Ms. Purcel: »Es ist okay, Fern, alles unter Kontrolle. Du kannst wieder an deine Arbeit gehen.«

Ms. Purcel eilte hinter die schützende Empfangstheke.

»Dr. Brecht«, sagte Ness, »ich hab eh ein paar Fragen an Sie. Wenn Sie ein paar Minuten Zeit haben …«

Brecht wischte über seine Hose, sagte aber nichts.

Ness warf Merritt einen flüchtigen Blick zu, dann sagte er zu Brecht: »Sie wissen doch, wie die Damen sind. Sie stellen mir so knifflige Fragen, die ich einfach nicht beantworten kann. Am besten unterhalten wir uns in Ihrem Büro.«

Brecht nickte. Gemächlich geleitete Ness ihn die Treppe hinauf.

Marge dachte über die Konfrontation nach. Was sie am meisten beunruhigte, waren nicht Merritt und Brecht, sondern Merritt und Ness. Sie gingen wie Fremde miteinander um, aber Marge hatte das Gefühl, daß sie sich kannten. »… verabscheue diesen Jammerlappen«, sagte Merritt gerade.

»Wie bitte?« fragte Marge.

»Frederick«, murmelte Merritt. »Ich weiß nicht, wie er sich bei Lilah eingeschmeichelt hat. Aber sie hatte schon immer eine Schwäche für die Unterdrückten. Deshalb hat sie ja wohl auch diesen Juden geheiratet.«

»Welchen Juden?«

»Lilahs Exmann.«

»Ist er ebenfalls Arzt?«

»Perry? Gütiger Gott, nein!«

Marge grinste in sich hinein. Der einzige Semit in dem Haufen, und der war noch nicht mal Arzt. »Warum machen wir uns das Warten nicht angenehmer und setzen uns, Dr. Merritt?«

»Gute Idee.«

Merritt ließ sich in einem Ohrensessel nieder, Marge nahm im Gegenstück Platz. Zwischen den Sesseln stand ein Tisch mit einem Stapel VALCAN-Mitteilungsblätter – der Leitartikel trug die Überschrift: »Abbau von Zellulitis – Fakten und Märchen.« Merritt nahm eins der Blätter und überflog es geistesabwesend. Dann knüllte er es angewidert zusammen und warf es auf den Boden. »Quacksalberei, die sich als Medizin ausgibt. Wenn dieser Laden nicht meiner Schwester gehören würde, hätte ich denen längst die Ethikkommission auf den Hals gehetzt.«

»Wenn Perry kein Arzt ist, was macht er denn dann?« fragte Marge.

»Wie bitte?«

»Perry. Lilahs Exmann. Was ist er von Beruf?«

»Perry?« Merritt rutschte auf dem Sessel hin und her. »Das ist eine verkrachte Existenz – ein Bridgespieler, um präziser zu sein. Sogar einer der besten Bridgespieler überhaupt. Er arbeitet als Berufsspieler in einem Club in Westwood, und vermutlich macht er dort so viel Geld, daß er sich nicht mit ehrlicher Arbeit abzugeben braucht. Eine Schande. Perry ist ganz schön gewieft, das muß ich ihm lassen. Allerdings trifft das ja auf die meisten Juden zu.«

»Haben die beiden sich … gütlich getrennt?« Marge nahm ihr Notizbuch heraus.

Merritt antwortete nicht.

»Ist es zwischen Lilah und Perry zu Feindseligkeiten gekommen, Dr. Merritt?«

Merritt zuckte die Achseln. »Das nehm ich an. Warum fragen Sie?«

Weil Marge gerade auf einen neuen Verdächtigen gestoßen war. Viele verärgerte Expartner tun gemeine Dinge – falls Merritt überhaupt die Wahrheit sagte. »Wie hat Lilah ihn kennengelernt?« fragte sie.

»Das ist eine alte Geschichte.«

»Wie wär’s denn mit einer kleinen Geschichtsstunde?«

»Zuerst mal, junge Dame, sollten Sie mir sagen, was mit meiner Schwester los ist!«

»Erst Sie, dann ich.«

»Das ist aber reichlich kindisch, Detective. Da hätte ich vom LAPD wirklich mehr erwartet.«

»Dr. Merritt, viel kindischer ist, wenn zwei angeblich erwachsene und gebildete Männer – zudem auch noch Ärzte – wie zwei Jugendliche aufeinander losgehen.«

Merritt sah sie lächelnd an. »Treffer, Detective, eine sehr scharfsinnige Bemerkung. Doch Wut kann selbst die besonnensten Männer zur Raserei treiben. Auch wir aus den heilenden Berufen sind nicht immun gegen Gefühle.«

Marge schwieg.

»Na schön«, sagte Merritt, als ob er zu einem Entschluß gekommen wäre. »Wie hat Lilah also Perry Goldin kennengelernt? Unglücklicherweise war ich derjenige, der ihn ins Haus gebracht hat. Mutter wollte ihre Bridgekünste verbessern, und als ich mich für sie umhörte, stieß ich immer wieder auf Perrys Namen. Er verkörperte alles, wovor man Lilah bei Männern gewarnt hatte – er war dreist, politisch links, hemmungslos und sagte immer offen seine Meinung. Ein penetranter Jude, wenn Sie mir das Klischee gestatten. Er legte demonstrativ keinen Wert auf sein Äußeres; seine Kleidung war immer alt und unmodern. Perry war kein übler Junge, er paßte nur einfach nicht zu Lilah. Doch da sie in ihrer Jugend selbst mit Rebellion geliebäugelt hatte, war Lilah sofort begeistert von ihm – verliebte sich in ihn. Es war zum Verrücktwerden, wie meine schöne, intelligente Schwester ihm wie ein ausgehungertes Hündchen nachlief, das scharf auf sein weltverbesserisches Gerede ist. Jedes Mal, wenn er sie anlächelte, schmolz sie dahin wie eine devote, viktorianische Dame. Später dann, während ihrer sogenannten Verlobungszeit, schloß sie sich häufig mit ihm in ein Zimmer ein, und dort haben sie dann stundenlang geredet. Ich hörte sie immer flüstern und kichern. Wie zwei Kinder. Weiß Gott, worüber die geredet haben. Sie hatten nichts miteinander gemein.«

Merritt seufzte tief.

»Mutter gab natürlich mir die Schuld. Mutter muß immer die Schuld auf jemanden schieben, wenn die Dinge nicht nach ihren Plänen laufen. Bis Perry auftauchte, hatte ich immer eine gute Beziehung zu Lilah. Mehr als gut, wir standen uns sehr nahe. Wir sind keine Familie, die ihre Gefühle offen zeigt, aber man hätte schon ein Idiot sein müssen, um nicht zu bemerken, wie viel meine kleine Schwester mir bedeutete. Ich war für sie gleichzeitig Vater und großer Bruder. Wir sind sechzehn Jahre auseinander. Was meinen Sie wohl, wer sich um das Kind gekümmert hat, während Mutter sich amüsierte? Ich hab dieses kleine Mädchen praktisch großgezogen, obwohl ich gleichzeitig studierte. Ich kann mich erinnern, wie ich ihr Fahrradfahren beibrachte, in der einen Hand den Lenker, in der anderen mein Lehrbuch für Biochemie. Sie lernte, wie man auf einem Zweirad fährt, während ich den Krebs-Zyklus studierte. Ist das nicht wahre Liebe? Als sie Perry heiraten wollte, besaß ich die Unverfrorenheit, mich auf Mutters Seite zu stellen, und seitdem ist es zwischen Lilah und mir nie mehr so wie früher gewesen.

Natürlich war die Verbindung ein Desaster. Zusammen herumzukichern reicht eben nicht für eine Ehe. Sie hielt zwei Jahre. Aber Lilah hätte nie zugegeben, daß ich recht und sie unrecht hatte. Irgendwie gab sie mir für das Scheitern ihrer Beziehung die Schuld. Vielleicht hat Mutter ihr das eingeredet, das würde mich überhaupt nicht wundern. Mutter hat so eine Art, die Leute gegeneinander aufzuhetzen.« Er sah Marge in die Augen. »Das war also die Geschichte von Lilah und Perry. Jetzt sind Sie dran. Was ist mit meiner Schwester los? Mir liegt immer noch viel an ihr, auch wenn sie nichts mehr mit mir zu tun haben will.«

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen das sagen muß, Dr. Merritt. Lilah wurde letzte Nacht überfallen …«

Merritt fuhr hoch. »O Gott, nein!«

Marge stand ebenfalls auf. »Es wird schon alles wieder gut, Doctor.«

»Nein!« Er begann auf und ab zu gehen. »Nein, das kann nicht … das ist unmöglich! Was um alles in der Welt ist passiert?«

»Ich weiß nicht …«

»Wer hat ihr weh getan? Haben Sie Perry im Verdacht? Haben Sie mich deshalb nach ihm gefragt? Ich bring ihn um …«

»Doctor …«

»Ich bring ihn um!«

»Ich weiß überhaupt nichts über diesen Perry, Doctor«, sagte Marge. »Nur was Sie mir gesagt haben …«

»Aber Sie vermuten …«

»Ich vermute gar nichts …«

»Wo ist meine Schwester?« fiel Merritt ihr ins Wort.

»Nach meinen Informationen im Sun Valley Memorial.«

»Ich muß sofort zu ihr.«

»Wie Sie meinen!« Marge zögerte, dann sagte sie: »Und was ist mit Ihrer Mutter?«

»Was mit meiner Mutter ist?« ereiferte sich Merritt. »Meine Mutter kann verdammt noch mal warten – das ist mit meiner Mutter!«

 

Decker wußte, daß er den Anruf nicht unter Zeitdruck machen sollte. Davida hatte ihm zwanzig Minuten eingeräumt. Doch der Münzfernsprecher in der Eingangshalle des Krankenhauses war frei, wartete förmlich darauf, benutzt zu werden. Und erfahrungsgemäß würde das Gespräch eh nur wenige Minuten dauern.

Mach schon, Deck. Trau dich.

Er schob seine Telefonkarte in den Schlitz und wählte aus dem Kopf die Nummer in New York. Wie es das Schicksal wollte, war sie zu Hause. Ihr Hello klang atemlos.

»Hi. Stör ich dich?«

»Oh, hi, Dad. Ich hab in einer Stunde eine Prüfung. Ich versuch mir grad noch in letzter Minute was einzupauken.«

»Viel Glück. Du wirst es bestimmt schaffen.«

»Yeah, ich hoff’s.«

Sie klang, als ob sie mit den Gedanken woanders wäre. Immer, wenn sie mit ihm sprach, war sie mit den Gedanken woanders.

»Ich hab dich lieb, Kleines.«

»Ach, Dad?«

»Was denn?«

»Hast du in letzter Zeit mit Mom gesprochen?«

»Nein. Warum?«

»Ach nichts. Ich hab mich bloß gefragt, ob … ist nicht wichtig.«

»Was ist nicht wichtig?«

»Ich möchte da jetzt wirklich nicht weiter drüber sprechen. Schöne Grüße an deine Familie.«

»Cindy, erstens, du bist auch meine Familie. Zweitens, wenn du etwas ansprichst, fände ich es wirklich gut, wenn du das Gespräch auch zu Ende führen würdest.«

»Das ist wirklich super, Dad. Mich kurz vor einer Prüfung unter Druck zu setzen. Tausend Dank!«

Decker atmete heftig aus. »Du hast ja recht. War ein beschissener Zeitpunkt. Tut mir leid.«

Einen Augenblick sagte niemand etwas.

»Es tut mir auch leid, Daddy. Ich weiß, daß ich in letzter Zeit schwierig war. Manchmal merk ich ja auch was.«

»Du warst schon ganz okay.«

»Nein, war ich nicht, aber trotzdem nett, daß du das sagst. Kann ich dich in ein paar Tagen zurückrufen? Ich bin jetzt wirklich nervös.«

»Schatz, du kannst mich anrufen, wann du willst, vierundzwanzig Stunden am Tag. Ich bin immer für dich da.«

Ihre Stimme wurde kleinlaut. »Danke.«

»Ist wirklich alles in Ordnung, Cindy?«

»Mir geht’s gut.«

Dann brach sie in Tränen aus.

»Kann ich irgendwas für dich tun, Honey?«

»Nein.« Sie schniefte. »Ich sollte jetzt wirklich los.«

»Hab dich lieb.«

»Ich hab dich auch lieb, Daddy. Tschüs.«

Das Freizeichen ertönte. Das einzige, was ihm diese Aktion gebracht hatte, war ein Knoten im Magen. Er sah auf seine Uhr. Das Gespräch hatte genau achtundvierzig Sekunden gedauert. Wie gehabt.