11

Decker wollte gerade nach der Autotür greifen, als diese aufflog und ihm fast gegen die Rippen geknallt wäre. Er stolperte etwas zurück, dann forderte ihn eine verführerische Stimme auf einzusteigen. Er rutschte auf den Rücksitz der Limousine und schloß die Tür. Davida hatte ihren Schleier abgenommen. Die Trauerphase war offensichtlich vorbei.

»Darf ich Sie Peter nennen?« fragte Davida. »So nennt Lilah Sie doch auch, oder?«

Decker, der sich bemühen mußte, die Augen nicht zu verdrehen, antwortete mit Ja.

»Peter.« Davida legte eine Hand auf sein Knie. »Für mich sind Sie eher ein Pete.«

Wie auch immer sie ihn nennen wollte, es juckte ihn in den Fingern, ihr die Hand zurück in den Schoß zu befördern. Aber warum sollte er das Verhältnis zwischen ihnen ruinieren, bevor das Gespräch überhaupt begonnen hatte?

»Ein Pete?«

»Ja, eindeutig ein Pete«, sagte sie. »Natürlich nicht in diesen Klamotten. Was tragen Sie da eigentlich? Die Standard-Detective-Kluft? Ich würde Sie nie einen Polizisten spielen lassen. Sie sind zwar groß und so, aber vom Typ her völlig verkehrt. Bei Rothaarigen denkt man nicht an einen ›taffen Kerl‹. Und Ihre Haut ist auch zu glatt und zu hell. Sie wirken nicht finster genug, um einen Cop zu spielen … abgesehen von den Augen. Sie haben sehr durchdringende Augen.«

Decker dachte: Das kommt daher, weil Sie in einen Spiegel gucken, Lady. Was redete die über durchdringende Augen? Mit den ihren hätte man Diamanten schneiden können. Sie war von einem ausgezeichneten Schönheitschirurgen geliftet worden. Obwohl ihre Haut an den richtigen Stellen straff gespannt war, sah sie nicht so aus, als ob sie beim Lächeln aufplatzen würde. Das Chirurgenmesser hatte ihre besonderen Vorzüge noch betont – die großartige Schädelform, das kantige Kinn, den breiten Mund. Ihre Lippen waren immer noch voll und sinnlich. Vermutlich war da mit Kollagenspritzen nachgeholfen worden. Selbst aus der Nähe sah sie immer noch recht gut aus – abgesehen von den Augen. Kein Skalpell wäre scharf genug, um die Härte herauszuschneiden, die darin lauerte.

»Also wenn ich Ihnen eine Rolle geben müßte«, fuhr sie fort, »würde ich Sie in Jeans stecken, kariertes Hemd und einen Cowboyhut.« Sie legte den Kopf schief. »Ihr Gesicht ist zwar nicht wettergegerbt, aber das kriegt man mit Make-up schon hin.« Sie drückte sein Knie. »Was meinen Sie dazu?«

Decker lachte. »Ich glaube, es ist schon ganz gut, daß ich nicht zum Film gegangen bin. Darf ich Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen? Ich weiß, daß Ihre Zeit begrenzt ist.«

Davida tätschelte sein Knie und zog ihre Hand zurück. »Ich mag Männer, die sofort auf den Punkt kommen. Ich will meinen Schmuck wiederhaben, Peter.«

»Und ich will, daß Sie ihn zurückbekommen. Möchten Sie mir nicht was darüber erzählen?«

»Und ob, da können Sie Ihren Hintern drauf verwetten. Das wichtigste Stück ist eine Smaragdbrosche mit einem fünfkarätigen kolumbianischen Smaragd mit Tafelschliff, umgeben von rundgeschliffenen Diamanten von jeweils einem Fünftelkarat – insgesamt vielleicht vier Karat. Dann drei Paar Ohrringe aus Mabe-Perlen – ein Paar tränenförmig und von Smaragden umgeben, die anderen beiden rund, eins davon mit Diamanten, das andere mit Rubinen umgeben – für den Fall, daß mir nach Rot war.«

»Was sind Mabe-Perlen?«

»Die großen glatten, die auf einer Seite flach sind.«

»Die hab ich immer für Modeschmuck gehalten.«

»O nein, mein Guter, das sind echte Perlen.«

»Wie viel sind die Ohrringe pro Paar etwa wert?«

»Vielleicht fünf- bis sechstausend. Außerdem hatte ich noch einen Halsreif, besetzt mit Rubinen – das heißt, abwechselnd mit Rubinen und Diamanten. Eine Kette aus Saphiren und gelben Diamanten, die ist etwa fünfzigtausend wert. Fünf unterschiedlich lange Ketten aus rosafarbenen Perlen mit dazu passenden, in Diamanten eingefaßten Perlensteckern. Und eine diamantene Anstecknadel – ein antikes Tiffanystück.« Sie seufzte.

»Gott, das macht mich ganz krank! Sie denken bestimmt, die alte Zicke ist doch sowieso versichert. Wo liegt das Problem? Es geht nicht ums Geld, es geht um die Stücke. Jedes erzählt eine andere Geschichte aus meinem Leben. Meine Geschichte … einfach rausgerissen. Ich bin außer mir!«

Decker nickte. Davida machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber was bedeutet das schon für Sie?«

»Ob Sie’s glauben oder nicht, Ms. Eversong, ich kann Sie gut verstehen.«

Sie betrachtete ihn prüfend. »Vielleicht tun Sie das ja. Sie wirken … sensibel.«

»Was wurde Ihnen noch gestohlen, Ms. Eversong?«

»Ich hatte außerdem noch Ohrgehänge aus Perlen, mit Smaragden und Rubinen durchsetzt. Meine Weihnachtsohrringe. Mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken, daß meine schnuckeligen Klunkerchen sich in den Fingern irgendeines Rotzlöffels befinden könnten, der einen Diamanten nicht von einem Quarzkristall unterscheiden kann.«

Plötzlich wurden die Augen der alten Dame feucht. Sie nahm ein schwarzes Spitzentaschentuch heraus und betupfte sie sich vorsichtig. »Ich bin völlig fertig.«

»Es tut mir leid um Ihren Verlust«, sagte Decker. »Lilah ist sicher auch ziemlich fertig.«

»Warum das denn? Sie hat doch keinen Schmuck verloren.« Einen Augenblick herrschte Schweigen. »Oh … das war schrecklich von mir. Die arme Kleine. Aber sie ist noch jung, Peter. Die Jugend ist unverwüstlich. Sie wird darüber hinwegkommen. Für Leute wie mich ist das sehr viel schwerer.«

»Ich denke, es wäre jetzt sehr hart für Sie, wenn Sie geschlagen worden wären«, sagte Decker. »Aber das wurden Sie nicht, Ms. Eversong, sondern Lilah. Und ich werde den Täter finden.«

Davida blickte nach oben und sah ihm in die Augen. »Sagen Sie mir bitte folgendes, Peter. Werden Sie mit dem gleichen Eifer nach meinem Schmuck suchen, wie Sie es nach Lilahs Vergewaltiger tun?«

»Wir werden allem auf den Grund gehen.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

»Lassen Sie uns noch ein wenig über Ihren Schmuck reden, Ms. Eversong. Wer außer Lilah wußte, daß Sie in Lilahs Safe Schmuck aufbewahrten?«

»Alle meine Kinder. Und ich würde es jedem von ihnen durchaus zutrauen, mich hinterhältig zu berauben.«

Diese Bemerkung ließ in Deckers Gehirn eine Lampe aufleuchten. Genau wie Freddy Brecht anklagend auf Kingston Merritt wies, beschuldigte die alte Mom jetzt ihre Kinder. Das machte ihn wahnsinnig neugierig auf den ganzen Haufen.

»Sie glauben, Ihre Kinder würden Sie bestehlen?«

»Nein, eigentlich nicht. War nur so dahingeplappert.«

Doch da war sich Decker nicht so sicher. Das klang jetzt eher, als wollte sie etwas runterspielen, das ihr herausgerutscht war. Dabei schien sie so gelassen zu sein. Allerdings war die Frau ja auch Schauspielerin.

»Kennt Dr. Brecht die Kombination vom Safe?«

»Ich glaube nicht. Er ist mein kleiner Laufbursche. Er bringt meine Sachen zu Lilah, damit sie sie wegschließt.«

Also wußte der genau, was im Safe lag, dachte Decker. Er erinnerte sich, wie Brecht vehement bestritten hatte, den Inhalt von Lilahs Safe zu kennen, und notierte sich diesen Widerspruch. Die Familienangehörigen wurden immer interessanter. Er beschloß, sich zunächst auf sie zu konzentrieren.

»Glauben Sie, Ihre Kinder könnten sich einen solchen Raubüberfall ausdenken, Ms. Eversong?«

Davida lachte böse. »Das möchte ich bezweifeln. Nicht daß sie was gegen mein Geld hätten. Ich geb ihnen ab und zu eine Finanzspritze, aber es scheint nie zu reichen … diese Aasgeier.«

»Wie hoch sind solche Finanzspritzen?«

»Ein- bis zweitausend hier und da.«

»Auch für Lilah?«

»Nein, sie hat ihr eigenes Geld. Außerdem, warum sollte sie mich bestehlen, wo sie doch weiß, daß sie den ganzen Kram eh kriegt, wenn ich mich in die nächste Welt begebe?«

»Sie erbt alles?«

»Nein, ich vermache ihr nicht alles. Ich hab auch an meine Jungs gedacht, aber die kriegen längst nicht so viel wie mein kleines Mädchen, und wenn ihnen das nicht paßt, haben sie eben Pech gehabt. Männer haben es leichter in dieser Gesellschaft. Keiner rümpft die Nase, wenn ein alter Frosch sich eine Prinzessin angelt, die fünfzig Jahre jünger ist als er. Frauen hingegen – alternde Frauen – brauchen einen zusätzlichen Anreiz, um interessant zu sein, und dieser Anreiz ist Geld. Lilah versteht das noch nicht. Sie glaubt, sie wird ewig so aussehen wie jetzt. Eines Tages, wenn sie alt und grau ist, wird sie zu schätzen wissen, was ich für sie getan habe. Obwohl ich zugegebenermaßen total auf mich selbst fixiert bin, liegt mir ihr Wohl am Herzen.«

Decker antwortete nicht. Davida nahm eine Papierfeile und begann, sich die Nägel zu feilen. »Nicht daß ich behaupte, eine Mutter Teresa zu sein. Ja, ich bin egoistisch. Na und? Warum sollte ich nicht für mich sorgen? Hat nicht irgendein alter Philosoph gesagt: Wenn ich nicht für mich selbst da bin, wer ist dann für mich da?«

»Rabbi Hillel«, sagte Decker.

»Was?«

»Rabbi Hillel hat das gesagt.«

»Ein Jude hat das gesagt?«

Decker nickte.

»Das paßt.« Davida hörte mit dem Feilen auf und sah Decker an. »Sind Sie Jude?«

»Ja.«

»Hab ich Sie jetzt beleidigt?«

»Eigentlich nicht.«

Davida betrachtete ihn. »Sie sehen nicht jüdisch aus. Sind Sie sicher, daß Sie nicht adoptiert wurden?«

Decker fing schallend an zu lachen.

»So komisch war das doch gar nicht«, sagte Davida.

War es wohl. Die alte Dame hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Er hatte eine jüdische Mutter, war aber als Säugling von einer guten baptistischen Familie adoptiert worden. Erst als er Rina kennenlernte, war er zu seiner ursprünglichen Religion zurückgekehrt.

»Nun ja, Ihr Rabbi Sowieso hatte in diesem Fall recht«, sagte Davida. »Man muß sich zuallererst um sich selbst kümmern.«

»Sie haben die zweite Zeile des Zitats ausgelassen, Ms. Eversong. Hillel hat nämlich auch gesagt: ›Aber wenn ich nur für mich da bin, wer bin ich dann?«‹

Davida sah ihn mit säuerlicher Miene an, die sich langsam in ein Grinsen verwandelte. »Wer ich bin? Eine biestige, berühmte, reiche alte Frau, das bin ich. Sind Sie hier, um tote Rabbis zu zitieren, Sergeant, oder um meinen Schmuck zu finden?«

»Waren noch weitere Stücke in dem Safe?«

»Mal überlegen. Wir haben die Ohrringe, die Perlenketten, die Brosche. Hab ich Ihnen schon von dem Diamantarmband erzählt?«

»Nein.«

»Ein schweres, geflochtenes Goldarmband, mit Diamanten besetzt. Außerdem ein Armband aus Rubinen und Smaragden, passend zu den Weihnachtsohrringen. Und natürlich noch einige weniger wertvolle Stücke. Einen Ring mit einem Amethyst, von kleinen länglichen Steinen umgeben, und eine Peridotbrosche, die mit der Smaragdbrosche identisch ist. Manchmal will ich sie tragen, aber mir ist nicht wohl dabei, mit einem fünfkarätigen kolumbianischen Smaragd herumzulaufen. Deshalb hab ich mir die Brosche aus Peridot und unechten Diamanten nachmachen lassen.«

Sie nahm seine Hand und tätschelte sie.

»Finden Sie meinen Schmuck, Peter. Ich werde dafür sorgen, daß Sie mehr als reichlich für Ihre Mühe entschädigt werden.«

Decker sah auf seine Hand, die sie mit beiden Händen hielt. Wie die Mutter, so die Tochter. Vorsichtig befreite er sich. »Mit meiner Arbeit zufrieden zu sein ist die einzige Entschädigung, die ich brauche. Ich würd gern noch mal kurz auf die Memoiren …«

»Gott, sind Sie nervig.« Sie starrte ihn an. »Was denn?«

»Sie wußten also davon, aber haben sie nie gesehen.«

»Ja, ja, das habe ich Ihnen doch alles schon gesagt. Ich hab keine Lust, mich zu wiederholen.«

»Wissen Ihre anderen Kinder von den Memoiren?«

»Woher soll ich das denn wissen? Fragen Sie sie doch!«

»Wer könnte Ihrer Meinung sonst noch davon wissen?«

»Weiß ich nicht und interessiert mich auch nicht. Unsere Zeit ist abgelaufen, Sergeant.«

Decker rückte ein Stückchen näher an die alte Frau heran. Er konnte ihren Schweiß riechen, vermischt mit dem Geruch eines viel zu süßen Parfüms, und sehen, wie die Poren durch ihr weißes Make-up durchschienen. »Nur noch ein paar Minuten? Bitte.«

Davida fuhr mit einem spitzen Fingernagel über ihr Kinn, dann ließ sie die Hand in den Schoß fallen. »Also gut, machen Sie weiter! Sie haben mir eh schon den Morgen versaut.«

»Sie sagen also, Sie haben nicht die geringste Ahnung, was in den Memoiren Ihres verstorbenen Mannes steht.«

»Das ist richtig. Hermann war ein total von sich eingenommenes Genie. Er hat nie mit mir oder mit jemand anderem über seine Kunst gesprochen. Ehrlich gesagt, ich war auch gar nicht an seiner Kunst interessiert, mir ging’s darum, wie er im Bett war. Und das war, wie ich mit Bedauern zugeben muß, nicht gerade reif für einen Oscar.«

»Oh?«

»Ja, oh?« Davida starrte ihn an. »Möchten Sie die schmierigen Details wissen?«

»Möchten Sie mir die denn erzählen?«

»Er war ein Säufer, deshalb fickte er hundsmiserabel. Wie gefällt Ihnen das?«

»Warum haben Sie ihn dann geheiratet?«

Davida zuckte die Achseln. »Aus einer Laune heraus. Außerdem … hat mich sein Ruf geblendet. Selbst ich war nicht immun gegen das, was andere dachten.«

»Glauben Sie, er könnte negative Dinge über Sie geschrieben haben, Ms. Eversong?«

Davida dachte über die Frage nach.

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß Hermann über seine billigen kleinen Affären geschrieben hat – oder über meine billigen kleinen Affären, wenn Sie so wollen. Affären hat man einfach, wenn man das Glück hat, ein kreativer Mensch zu sein. Ich persönlich vermute, daß Hermann ausschließlich über seine Kunst geschrieben hat. Sicher hat er ziemlich unfreundliche Dinge über einige seiner Zeitgenossen geschrieben. Hermann war sehr, sehr kritisch. Aber ich glaube kaum, daß irgendein erzürnter alter Regisseurskollege in Lilahs Safe einbricht und die Memoiren stiehlt, bloß um zu verhindern, daß bekannt wird, was Hermann möglicherweise vor dreißig Jahren über ihn geschrieben hat.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Aber ich hab schon verrücktere Sachen erlebt. In diesem Metier gibt es reichlich aufgeblasene Egos.«

Decker lächelte.

»Wir kommen vom Thema ab«, sagte Davida. »Diese Memoiren könnten durchaus eine Ausgeburt von Lilahs lebhafter Phantasie sein. Finden Sie meinen Schmuck. Wenn Sie den haben, wird es auch für alles andere eine Erklärung geben.«

»Vielleicht.« Decker bemerkte, daß Davida ihn anstarrte. »Möchten Sie dem noch etwas hinzufügen, Ms. Eversong?«

Davida klopfte mit ihren Fingernägeln auf das ausklappbare Tischchen. »Sie scheinen ein sehr skeptischer Mensch zu sein, Peter.«

Decker klappte seinen Notizblock zu und steckte ihn in die Jacke. »Deshalb bin ich ja auch Cop und kein Cowboy, Ms. Eversong.«

 

Ness saß im Lotussitz auf dem Fußboden und beobachtete, wie Freddy herumtobte. Da Freddy nicht in der Verfassung war, sich mit den Damen und ihren medizinischen Fragen zu beschäftigen, waren sie nicht in dessen Büro, sondern in das von Kell gegangen. Mann, Sonnyboy konnte ja ganz schön jähzornig werden, aber das war nichts im Vergleich mit den Wutausbrüchen der alten Dame. Diese Hexe konnte mit ihrer scharfen Zunge Glas schneiden. Ness fragte sich oft, ob es zischen würde, wenn man sie mit Wasser begösse.

»Ich rede mit dir!« brüllte Brecht.

»Ich hör dich, Doc«, sagte Ness ganz ruhig.

»Dann antworte mir gefälligst! Was will der hier?«

»Ich weiß es nicht.«

»Zum Teufel noch mal!« brüllte Brecht. »Du warst doch gestern Abend bei Mutter.«

»Sie hat nichts von irgendeinem Besuch erwähnt. Bis heute wußte ich ja noch nicht mal, daß Kingston überhaupt existiert.«

»Das ist Unsinn!«

Ness antwortete nicht, sondern beobachtete, wie Doc auf und ab ging. Die kleine Null konnte Druck nicht gut aushalten. Das war vermutlich der Grund, weshalb Davida ihm nicht traute.

»Was will er hier?« murmelte Brecht. »Er muß irgendwas mit der Sache mit Lilah zu tun haben!«

»Könnte schon sein.«

»Tu nicht so, als ob dich das nichts anginge. Oder ist dir etwa egal, daß Lilah geschlagen und … vergewaltigt wurde?«

»Natürlich ist mir das nicht egal, Doc. Du weißt doch, wie ich zu deiner Schwester stehe. Ich meine nur, daß es nichts bringt, sich wie ein Idiot …«

»Willst du damit sagen, ich war ein Idiot?«

»Also bitte, Doc, jetzt reg dich doch nicht so auf, okay?«

»Das liegt an Kingston«, tobte Brecht. »Er macht mich absolut wahnsinnig.« Dann berührte er mit den Fingerspitzen seine Stirn. »Ich hab mich wohl sehr blöde aufgeführt.«

»Schon gut. Deine Schwester wurde vergewaltigt. Da erwartet niemand von dir, daß du dich normal verhältst.«

»Mutter hat also nicht erwähnt, daß ihr Sohn Kingston zu Besuch kommen würde?«

»Nein.«

»Bist du sicher?«

»Ja, ganz sicher.«

»Ich glaub dir nicht.«

»Das ist dein gutes Recht.«

»Warum will er denn Mutter besuchen?« tobte Brecht weiter. »Ausgerechnet jetzt! Und hier! Mutter würde ihn nie hierher bitten.«

»Ich weiß nicht.« Ness war genervt, beherrschte sich aber. »Warum fragst du sie nicht?«

»Das werde ich tun, sobald ich sie sehe.«

»Wo ist sie überhaupt?«

»Redet mit der Polizei über den Diebstahl ihres Schmucks.«

Plötzlich spürte Ness, wie Brecht ihn genau musterte. »Stimmt was nicht, Doc?«

»Du weißt nicht zufällig was über den Diebstahl, oder?«

»Glaubst du etwa, ich würde deine Mutter bestehlen?«

»Du würdest stehlen, ohne mit der Wimper zu zucken.«

»Klar würd ich stehlen.« Ness grinste. »Aber nicht von Davida. Ich bin doch nicht blöd.«

Brecht anwortete nicht, sondern begann wieder auf und ab zu gehen. Ness spreizte seine Finger über den Knien. »Beruhig dich, Doc, und meditier ein bißchen. Das ist Balsam für die Seele.«

Aber Brecht hörte ihm nicht zu. Ness schloß die Augen, hielt jedoch die Ohren offen.

»Kingston hat irgendwas vor. Das weiß ich einfach!« murmelte Brecht. »Er und Mutter intrigieren hinter meinem Rücken. Du hast nicht zufällig was davon gehört?«

Ness öffnete die Augen. »Nein, hab ich nicht.«

»Ich glaub’ dir nicht.«

Ness stand ohne die Hände zu benutzen auf. »Was willst du dann von mir, Doc?« Er legte eine Hand auf Brechts Schulter. »Was soll ich tun? Mir das Handgelenk aufschlitzen und mit meinem Blut eine Erklärung unterzeichnen? Bis heute wußte ich überhaupt nicht, daß du einen Bruder hast. Und über die Sache mit Lilah weiß ich ganz bestimmt nichts.«

Brecht schwieg.

Ness klopfte ihm auf die Schulter. »Willst du, daß ich deinen Bruder rausschmeiße?«

»Schaffst du das, ohne daß es zu einer Szene kommt?«

»Yeah, ich werd schon mit ihm fertig.«

»Warum hast du das denn dann vorhin nicht schon gemacht, Blödmann?«

»Weil man nicht zwischen zwei kämpfende Hunde packt.« Ness verschränkte die Arme über der Brust. »Ihr beide wart ja für keinerlei Rat empfänglich.« Er lachte. »Gott, ihr Jungs müßt euch ja wirklich hassen.«

»Du merkst aber auch alles.«

Ness zog die Augenbrauen hoch. »Willst du darüber reden?«

Brecht verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. »Nein, ich will mit dir über gar nichts reden! Sieh zu, daß du ihn hier rauskriegst. Sag mir Bescheid, wenn er weg ist. Und ich will nicht, daß Mutter erfährt, daß er hier war.«

»Der Typ wirkte sehr entschlossen, Doc. Er wird sie bestimmt anrufen.«

»Darum kümmere ich mich, wenn’s soweit ist. Sag auf jeden Fall meiner Mutter nichts von seinem Besuch. Ich brauche Zeit, um rauszufinden, was die beiden vorhaben.«

Ness grinste. »Verschwiegenheit ist teuer, Doc.«

»Du bist der letzte Dreck, Michael.«

Brecht nahm seine Brieftasche heraus. Ness streckte die Hand aus.