21
Marge gähnte und rieb sich die Hände. Es war immer noch dunkel, eine gute halbe Stunde bis zum Morgengrauen. Sie saß in ihrem Zivilfahrzeug und lauschte auf das Rauschen des Sprechfunkgerätes. Um diese Uhrzeit kamen nicht viele Meldungen. Selbst Verbrecher wurden mal müde.
Sie starrte durch die Windschutzscheibe. Der Mercedes 450 SL hatte Gesellschaft bekommen – drei Streifenwagen mit angeschaltetem Blaulicht, ein Leichenwagen, der Camry des Polizeifotografen, ein Kastenwagen vom Labor und Petes alter Plymouth.
»Willst du deinen Dinosaurierbecher wiederhaben?« fragte sie Decker. »Er liegt im Kofferraum.«
Decker kippte die Lehne des Fahrersitzes so weit es ging nach hinten. »Behalt ihn.«
»Die vorläufige DNA-Analyse von Ness und Co. sollte heute vorliegen«, sagte Marge. »Vielleicht ergibt sich daraus im Zusammenhang mit dieser Sache hier ein konkreter Hinweis.«
»Das wäre schön.« Decker verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Merritts Hauptpraxis und seine Eigentumswohnung sollten möglichst bald durchsucht werden. Vielleicht finden wir ja dort was. Die Befragung der Familie wird vermutlich Burbank übernehmen. Das fällt in deren Zuständigkeitsbereich. Es ist zwar nur eine kleine Dienststelle, aber in der Abteilung arbeiten sieben Leute, die im Wechsel auch die Mordfälle übernehmen.«
»Die Mordkommission gehört zu den Personendelikten?«
»Yeah, die Dienststelle ist zu klein für eine eigenständige Mordkommission. Jedenfalls schicken die zwei Leute raus. Der Typ, mit dem ich gesprochen hab, ist ganz wild darauf, aber er ist auch bereit, mit uns zu kooperieren, besonders nachdem ich ihm die Situation erklärt hab. Sie sollten in ein paar Minuten hier sein.«
»Wie heißen die beiden?«
Decker nahm sein Notizbuch aus der Tasche. »Der, mit dem ich geredet hab, hieß Justice Ferris.«
»Justice oder Justin?«
»Justice – wie Gerechtigkeit.« Decker richtete sich auf. »Was für ein Schlamassel!«
»Soll ich Merritts Patientenakten durchgehen?«
»Yeah, wir sollten ganz von vorn anfangen … obwohl ich glaube, daß die Verbrechen zusammenhängen.«
»Wir haben also einen Einbruch, eine Vergewaltigung und jetzt auch noch einen Mord.«
»Einen widerlichen Mord. Ganz zu schweigen von einem durchgedrehten Pferd.« Decker strich seinen Schnurrbart glatt.
»Marge, warum wollte Lilah bloß nach all diesen Jahren plötzlich mit Merritt essen gehen?«
»Wie sie schon sagte, sie braucht doch wohl keine Entschuldigung, um sich mit ihrem Bruder zu treffen. Besonders nachdem er am Telefon so beruhigend auf sie eingeredet hat.«
Decker lachte leise.
»Was ist?«
»Apropos beruhigend eingeredet«, sagte Decker. »Als ich mit Goldin sprach, hat er Kingston Merritts Verhalten seinen Patientinnen gegenüber wortwörtlich als beruhigend charakterisiert. Offenbar konnte Merritt durchaus charmant sein, wenn er nur wollte.«
»Glaubst du, er wollte was von Lilah?« fragte Marge.
»Kann schon sein.«
»Weißt du, Pete, als ich Merritt das erste Mal gesehen hab, behauptete er, er hätte von der Vergewaltigung nichts gewußt. Er sei auf Davidas Wunsch zur Beauty-Farm gekommen.«
Decker nickte. »Was könnte denn Merritt mit Davida zu besprechen gehabt haben?«
»Wer sagt denn, daß sie was zu besprechen hatten, Rabbi? Vielleicht wollte er nur seine Ma besuchen.«
»Hat Merritt nicht gesagt, seine Mutter hätte ihn herbestellt?«
»Yeah.«
»Also hatte er was mit Davida zu besprechen«, sagte Decker. »Und dann will er sich nach all den Jahren plötzlich mit seiner Schwester versöhnen. Ich glaube immer mehr, daß Freddy Brecht recht hat, daß nämlich Davida und Merritt etwas im Schilde führten. Und ich glaube, daß Merritt was von Lilah wollte.«
»Pete, er war echt schockiert, als er von dem Angriff auf Lilah erfuhr.«
»Oder er hat es überzeugend vorgetäuscht. Die Schauspielerei liegt denen im Blut.«
»Ich hab schon alles mögliche erlebt, deshalb wundere ich mich über gar nichts mehr. Aber mein Gefühl sagt mir, daß Kingston seine Schwester nicht vergewaltigt hat.«
»Aber vielleicht hatte er was mit dem Diebstahl zu tun. Wie ich schon sagte, jemand hat ein paar Schlägertypen angeheuert, und die sind dann auf die Idee gekommen, Lilah auch noch zu vergewaltigen.«
Marge griff in ihre Tasche und holte einen Kaugummi heraus.
»Okay, nehmen wir mal an, daß Merritt hinter dem Einbruch steckte.«
»Was den Inhalt des Safes betrifft, wissen wir nur von dem Schmuck und den Papieren«, sagte Decker. »Fangen wir mit dem Schmuck an. Mal angenommen, Merritt hat den Schmuck gestohlen, um an Geld zu kommen. Laut Brecht war er immer knapp dran, und sein Bankkonto war ja auch nicht so gut gepolstert. Davida ist dahintergekommen, deshalb hat sie ihn ins Sanatorium bestellt. Sie wollte ihren Schmuck zurück. Merritt hat sich dumm gestellt, Davida ist wütend geworden und hat ihren eigenen Sohn umbringen lassen. Das würde den Raub und Merritts Tod erklären. Wenn Merritt tatsächlich Schlägertypen angeheuert hat, wäre das auch eine Erklärung für die Vergewaltigung.« Er hielt inne. »Das einzige Problem bei diesem Szenario ist allerdings, daß Davida, selbst wenn sie Merritt umbringen ließ, ihren Schmuck immer noch nicht zurück hätte.«
»Sein Büro wurde durchwühlt, Pete. Vielleicht hat jemand danach gesucht.«
»Aber nur sein Büro. Weder das Büro der Empfangssekretärin noch die Operationsräume wurden durchwühlt.«
»Wenn ich Davida wär und meinen Schmuck wiederhaben wollte und vermutete, daß mein Sohn ihn geklaut hat, hätt ich ihn einfach angezeigt.«
»Sie wollte vermutlich nicht, daß eine Familienangelegenheit an die Öffentlichkeit dringt.«
»Aber sie war bereit, dafür zu morden? Wenn das nicht für Aufmerksamkeit sorgt …«
»Okay«, sagte Decker. »Streich das mit dem Mord an Kingston wegen des Schmucks. Ich bin übermüdet und hab nur beschissene Ideen.«
Marge lachte.
»Versuchen wir’s mal mit den Memoiren«, sagte Decker. »Und zwar mit einem ganz einfachen Szenario. Mal angenommen, Merritt hat die Memoiren gestohlen. Wir wissen, wieviel Lilah diese Papiere bedeuteten. Und ich kann mich erinnern, daß Lilah mir erzählt hat, ihre Mutter hätte einen Anfall gekriegt, als sie von ihrer Existenz erfuhr. Mal angenommen, Davida wollte sie ebenfalls haben. Also beschloß Merritt, die beiden gegeneinander auszuspielen – was sehr einfach ist, da Mutter und Tochter in knallhartem Konkurrenzkampf stehen. In der Hoffnung auf reichlich Schotter wartet Merritt Däumchen drehend auf das höchste Angebot. Deshalb hat er plötzlich wieder Kontakt zu Mutter und Schwester.«
Marge dachte über seine Argumentation nach. »Dann müßten wir annehmen, daß etwas sehr Wichtiges in diesen Memoiren steht – vermutlich etwas, das Davida schaden könnte. Und wir müßten annehmen, daß King wußte, daß etwas für sie sehr Nachteiliges da drin steht. Aber wie sollte er das wissen, wo sich die Memoiren doch all die Jahre in Lilahs Besitz befanden?«
»Er hat die Memoiren gestohlen und sie gelesen.«
»Aber warum sollte er sie stehlen, wenn er nicht bereits wußte, daß sie etwas Pikantes enthalten, Pete? Etwas, wofür Davida bereit wäre zu zahlen.«
Decker schwirrte der Kopf. Nun mal langsam. Er mußte ja nicht gleich eine Erklärung für alles finden. Es reichte, wenn er erst mal einiges erklären konnte.
»Neuer Versuch«, sagte Decker. »Merritt braucht dringend Geld, also beauftragt er irgendwelche Typen, den Schmuck zu stehlen. Die Typen stehlen den Schmuck, vergewaltigen Lilah, und da der innere Safe zufällig auf war, nehmen sie auch die Memoiren mit. Einfach nur so. Merritt liest die Memoiren. Bingo. Er hat etwas, das noch mehr wert ist als der Schmuck – etwas, womit er richtig Geld machen kann.«
»Okay«, sagte Marge. »Er wußte also, daß Davida reichlich für diese Memoiren zahlen würde. Aber warum sollte Lilah dafür zahlen wollen?«
»Merritt wußte, daß Lilah absolut fixiert auf ihren Vater ist, Marge. Du hättest mal hören sollen, wie sie über ihn redet. Sie vergöttert ihn. Ihr Exmann hat mir erzählt, daß das schon damals so war, als er mit ihr verheiratet war.« Decker hielt inne. »Also spielt Merritt die beiden Frauen gegeneinander aus. Eine von ihnen hat irgendwann die Nase davon voll und läßt ihn umbringen.«
Marge schwieg.
»Ich red einfach nur, was mir so gerade einfällt«, sagte Decker. »Wir haben Freddy Brecht noch gar nicht in Betracht gezogen. Der scheint doch einen richtigen Haß auf Merritt zu haben.«
»Aber der reicht offenbar lange zurück. Warum sollte er deswegen plötzlich morden … und den Verdacht auf sich ziehen? Das wäre doch wohl ziemlich blöd, meinst du nicht?«
»Vielleicht war es eine ganz impulsive Sache. Freddy geht zu Merritt, sagt: Ich weiß, daß du und Mom etwas im Schilde führt. Ein Schubs ergibt den anderen, es kommt zu einem heftigen Gerangel, Freddy bringt seinen Bruder um.«
»Dann müßte man davon ausgehen, daß Freddy Merritt bereits umgebracht hatte, bevor wir ihn heute abend gesehen haben. Wenn das so war, dann hat er sich absolut cool verhalten. Er war zwar wütend, aber nervös schien er nicht.«
»Schauspielerei liegt denen eben im Blut«, sagte Decker.
»Bloß daß Freddy adoptiert wurde.«
Decker lächelte. »Vielleicht hatte Merritts Tod ja gar nichts mit dem Raub und der Vergewaltigung zu tun. Vielleicht paßte es irgendeinem fanatischen Abtreibungsgegner nicht, daß Merritt Föten einlegt.«
Marge verzog das Gesicht. »Warum hat Merritt die überhaupt alle aufbewahrt?«
»Weil er ’ne Macke hat.«
»Vielleicht hat Merritt Gewebe von Embryos an irgendein illegales Labor verkauft. Vielleicht war das Labor auf Klonen spezialisiert … ungeborene Babies, die man in den Weltraum schickt, um die Erde anzugreifen. Was hältst du davon?«
Ohne eine Miene zu verziehen, zog Marge ihren Parka enger um sich. »Das könnte man überprüfen … die Sache mit dem Verkauf von Gewebe.«
»Marge …«
»Es ist immerhin eine Möglichkeit.«
»Alles ist möglich. Aber ist es auch relevant?«
»Wenn es einen weiteren Hinweis dafür liefert, was Merritt für Geld alles bereit ist zu tun. Dreihundertfünfzigtausend bringt seine Praxis im Jahr ein, und er hat bloß fünftausend auf der Bank. Deshalb betreibt er zusätzlich eine Abtreibungsfabrik, deshalb verkauft er illegal Föten und klaut den Schmuck seiner Mutter …«
»Moment mal …«
»Okay, die Logik ist wohl nicht so ganz zwingend«, räumte Marge ein. »Aber wenn du dir blödsinnige Ideen erlauben kannst, kann ich das auch.« Sie hielt inne. »Weißt du, alles, was du bisher gesagt hast, erklärt noch nicht die Sache mit dem durchgedrehten Pferd. Es sei denn, du nimmst an, daß Merritt auch da hintersteckte.«
Decker zuckte die Achseln. »Ich will nicht behaupten, daß Merritt überhaupt hinter irgendwas steckte, obwohl sein Tod den Fall zweifellos komplizierter macht.«
»Wenn die Memoiren diese ganze Geschichte erst ausgelöst haben, dann sollten wir versuchen, mehr über Hermann Brecht herauszukriegen.«
»Gute Idee.«
Decker dachte an die alte Dame, die Lilah in jüngeren Jahren, als sie noch die Welt verbessern wollte, besucht hatte, die Frau, die Hermann Brecht in der alten Heimat gekannt hatte. Er würde sie morgen besuchen. Wenn sie noch am Leben war.
Und da sagt man immer, Frauen reden wie ein Wasserfall. Marge stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf die Erde. Pete und die Detectives von Burbank – Justice Ferris und sein Partner – redeten schon seit zwanzig Minuten über Autos. Der lockenköpfige Ferris, ein gut aussehender Typ Mitte Dreißig, fuhr eine 67er rote Corvette. Ferris’ Partner, Don Malone, war gut in Form für einen Mann über Fünfzig. Er fuhr einen alten Jaguar XKE. Die drei Jungs ließen sich endlos über die verschiedenen Schrottplätze in der Stadt aus, wo man die besten Ersatzteile bekommen konnte. Es war wirklich nervig, aber Marge wußte, daß Pete auf die Tour versuchte, das Vertrauen dieser Typen zu gewinnen. Als die Sonne aufging, kamen sie endlich zum eigentlichen Grund ihres Zusammentreffens.
Die Arbeitsteilung war schnell geklärt. Ferris und Malone wollten unbedingt den Mordfall übernehmen, und sie und Decker waren gerne bereit, ihnen den zu überlassen, solange man ihnen Zugang zu allen Verdächtigen sowie zu den Akten und Laborberichten gewährte.
»Kein Problem«, sagte Ferris.
»Noch eine Sache«, sagte Marge. »Ich wär gern dabei, wenn ihr John Reed vernehmt, Merritts anderen Medizinerbruder. Wir haben ihn bisher noch nicht erreicht.«
»No problemo«, sagte Ferris.
»Und ihr überlaßt uns den Papierkram«, fügte Decker hinzu.
»Ce n’est pas un problème, mes amis«, sagte Ferris.
Alle lachten.
»Ihr revanchiert euch aber dafür, oder?« sagte Malone.
»Ich überlasse Ihnen gern meinen Schreibtisch«, sagte Decker.
»Mi files es su files«, sagte Ferris. »Oder vielleicht sollte ich besser sagen: Mi murder es su murder.«
Malone verdrehte die Augen. Eine Labortechnikerin kam kopfschüttelnd aus der Klinik. Sie war schwarz und sehr zierlich. Ihr Laborkittel reichte ihr fast bis an die Knöchel. Sie und Ferris begrüßten sich mit einem Klatschen der Handflächen.
»Gibt’s ein Problem, Sheri?« fragte Ferris.
»Justice, mein Junge, du und Donnie werdet alle Hände voll zu tun haben.«
»Was ist die schlechte Nachricht?« fragte Decker.
»Hab ich gesagt, es gäb ’ne schlechte Nachricht? Nur ein paar Neuigkeiten.«
»Was für Neuigkeiten?« fragte Marge.
»Ich bin froh, daß Sie fragen«, sagte Sheri. »Wir sind auf zwei völlig verschiedene Blutgruppen gestoßen. Eine paßt zu dem Opfer, aber da drinnen ist sehr viel Blut, das von jemand anders stammen muß.«
»Von dem Mörder«, sagte Ferris. »Er wurde verletzt und hat auf der Flucht Blut verloren.«
»Seine Adern müssen so gut wie leer sein«, sagte Sheri. »Allein in dem Mordzimmer hab ich mehr als einen Liter gefunden.«
»Mehr als einen Liter?« sagte Marge.
»Ja, Sir-Madam«, sagte Sheri. »Ein richtiger See. An eurer Stelle, Jungs, würd ich mich mal bei den Unfallstationen umhören. Dieser Typ – oder das Mädel – muß dringendst Blutplasma gebraucht haben.«
»Ich häng mich sofort ans Telefon«, sagte Malone.
»Scheiße!« Decker schlug sich an die Stirn. »Das ist es!«
»Was, Pete?«
»Die Blutspur«, sagte Decker. »Stell sie dir noch mal vor! Im Mordzimmer war eine riesige Lache. Dann einige kleinere Pfützen und verschmierte Stellen direkt vor dem Zimmer, ein bißchen Geschmier im Flur und noch was im Wartezimmer. Das Blut wurde dann immer weniger, und auf dem Parkplatz waren nur noch ein paar Tropfen. Margie, wenn der Mörder bei seiner Flucht geblutet hat, hätten wir weniger Blut in dem Zimmer gefunden und sehr viel mehr Blut auf dem Flur – und das meiste auf dem Parkplatz, als er dort ins Auto stieg, um abzuhauen!«
Marge schob sich die Haare aus den Augen. »Da hast du recht.«
»Es sei denn, er hat sich die Verletzungen verbunden«, sagte Ferris.
»Wie soll man sich denn eine Verletzung verbinden, aus der bereits ein Liter Blut geflossen ist?« sagte Decker.
»Okay«, sagte Malone. »Wie sieht denn Ihre Theorie aus?«
»Ganz einfach«, sagte Decker. »Jemand wurde aus dem Mordzimmer getragen, nachdem er dort eine Weile in seinem eigenen Blut gelegen hat. Er wurde durch den Flur gezogen – deshalb die verschmierten Stellen – und schließlich über den Parkplatz in ein Auto getragen. Dabei tropfte er noch ein bißchen, bis er richtig drinnen verstaut war. Wissen Sie, was ich glaube, was das bedeutet?«
»Was denn?« fragte Ferris.
»Ich glaube, es gibt irgendwo noch eine zweite Leiche.«