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Der Essensgeruch aus dem Ofen ließ Decker das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er stellte die Tüten mit den Backwaren auf den Eßzimmertisch und zog sein Jackett aus. Ginger kam aufgeregt bellend aus dem Nebenzimmer gerast.

»Rina?«

Keine Antwort.

»Was kocht Mama denn da Schönes, mein Mädchen?« sagte Decker und streichelte die irische Setterhündin. Er ging in die Küche. Der Hund folgte ihm auf den Fersen. Auf den Anrichten standen Backbleche mit Hunderten winziger Knisches – kleine Blätterteigpasteten mit Kartoffel, Spinat oder Buchweizen gefüllt. Er nahm sich zwei davon, steckte sie in den Mund und spülte sie mit einem großen Glas Orangensaft herunter.

Er warf einen Blick aus dem Fenster auf sein Land, dann öffnete er die Hintertür und ließ den Hund raus. Rina war nirgends zu sehen. Vielleicht war sie in der Scheune. Er rief noch einmal ihren Namen. Keine Antwort.

Die Schaltuhr am Herd klingelte. Er öffnete die Herdklappe, sah, daß der Knischteig obendrauf goldbraun geworden war, und stellte die Hitze ab. Wenn sie Sachen im Ofen hatte, würde sie ja jeden Moment auftauchen müssen. Das sagte er sich zumindest. Jedenfalls war er entschlossen, ruhig zu bleiben. Es gelang ihm allmählich besser, sich nicht ständig Sorgen um sie zu machen, doch wie das Verheilen der Wunden war auch das ein langwieriger Prozeß.

Er zog eine Küchenschublade auf, fischte eine Jarmulke heraus, die zwischen einem Zollstock und einem Hammer steckte, und befestigte sie sich mit einer Klammer im Haar. Dann belud er sich einen Teller mit Knisches und goß sich ein Glas Milch ein. Er aß im Stehen, während er das Krankenhaus anrief. Alles war zum Mittagessen gegangen. Nachdem er sechsmal auf Warteschleife gelegt und zweimal abgehängt worden war, wurde er schließlich mit dem Vorzimmer von Dr. Kessler verbunden. Die Sekretärin erklärte, Kessler sei in einer Besprechung, doch Decker machte ein bißchen Druck, und kurz darauf kam der Gynäkologe an den Apparat.

»Sergeant Decker?«

»Tag, Doctor«, sagte Decker. »Danke, daß Sie sich für mich Zeit nehmen.«

»Sergeant, Sie haben mich gerade von einer Ausschußsitzung erlöst«, sagte Kessler. »Sie haben eine große mitzwa getan.«

Decker lachte. Das mußte man sich mal vorstellen, ein jüdischer Arzt behandelte ihn als ein Mitglied des Stammes. Natürlich war er Jude. Aber es überraschte ihn immer noch, daß andere ihn als solchen sahen.

»Gern geschehen, Doc«, sagte er. »Haben Sie zufällig heute morgen Lilah Brecht aufgenommen?«

»Klar hab ich das«, sagte Kessler. »Ist das nicht die Tochter von dieser berühmten Schauspielerin?«

»Davida Eversong«, sagte Decker.

»Yeah, genau die. Star der Mitternachtssendungen im Fernsehen. Die hat doch immer Vamps gespielt, oder?«

»Ich glaub ja. Davida war ein bißchen vor meiner Zeit.«

»Vor meiner auch. Bleiben Sie bitte einen Augenblick dran, ich hole Lilahs Krankenblatt.«

»Danke. Wie geht es ihr?«

»Den Umständen entsprechend sehr gut. Wir haben eine Computertomographie gemacht und ihren Kopf geröntgt. Wir haben nichts festgestellt, aber das hat nichts zu sagen. Bei subduralen Blutungen im Gehirn dauert es eine Weile, bis das Blut gerinnt, deshalb können wir erst nach vierundzwanzig Stunden ganz sicher sein. Aber ich bin ganz zuversichtlich. Vor einer Stunde war sie zwar noch etwas benommen, aber sie wußte, wo sie war. Wußte ihren Namen und ihre Adresse.«

»Das ist gut zu hören. Sie schien ziemlich übel dran zu sein, als man sie in den Krankenwagen lud.«

»Yeah, sie stand vermutlich unter Schock. Wenn man die Leute behandeln kann, bevor die Körpertemperatur sinkt, erholen sie sich erstaunlich schnell. Sie wußte nicht nur, wer sie war, sondern auch, warum sie im Krankenhaus ist.«

»Sie wußte, daß sie überfallen worden ist?«

»Sie wußte, daß man sie vergewaltigt hat. Moment mal, ich hol das Krankenblatt.«

Während Decker wartete, hörte er die Haustür zuschlagen, und dann Rinas Stimme, die seinen Namen rief.

»Ich bin in der Küche.«

Sie kam mit Einkaufstüten bepackt herein, sah Deckers vollen Teller und legte ihre Lebensmittel auf die Arbeitsplatte.

»Peter, was machst du da?« Sie zog ihm den Teller weg. »Siehst du denn nicht, daß das nicht für dich ist? Wie kannst du dir einfach was davon nehmen, ohne zu fragen?«

Decker verdrehte die Augen. »Tut mir leid.«

Seufzend ließ Rina die Schultern hängen. »Mir tut es leid. Ich verhalte mich lächerlich. Es ist mehr als genug da.« Sie schob ihm den Teller wieder hin. »Iß, soviel du willst.«

»Schon gut, ich hol mir was anderes.«

»Nein, nimm es«, beharrte Rina. »Nimm dir noch mehr. Nimm, soviel wie du willst.«

»Ich hab genug, Rina. Ich bin schon satt.«

Sie lud ein weiteres halbes Dutzend Knisches auf seinen Teller. »Da. Iß.«

»Ich möchte nichts mehr«, sagte Decker.

Rina sah ihn an. Plötzlich wurden ihre Augen feucht. »Schmecken sie dir nicht?«

»Doch«, widersprach Decker. »Sie sind köstlich.«

»Schmecken sie dir wirklich?«

»Ja.«

»Ganz ehrlich?«

»Rina, du bist eine hervorragende Köchin. Ich mag alles, was du kochst. Für wen backst du denn eigentlich?«

»Ich werde sie einfrieren«, sagte Rina. Dann fügte sie rasch hinzu. »Sie sind für die briss … oder die Namensgebung, wenn es ein Mädchen ist.«

Decker mußte an sich halten. »Ich dachte, wir wären uns einig gewesen, daß die ganze Kocherei zu viel für dich ist. Wir wollten doch eine Firma beauftragen …«

»Nur ein paar Appetithappen.«

»Du solltest dich ausruhen. Hat der Arzt das nicht gesagt?«

»Was weiß ein Mann schon über Schwangerschaften?«

Decker hatte keine Lust, sich auf diese Diskussion einzulassen. »Du überanstrengst dich.«

»Warum sagst du das? Sehe ich müde aus?«

»Nein, Rina. Du siehst großartig aus.«

Und das tat sie auch. Von hinten konnte Decker nicht erkennen, daß sie schwanger war. Von vorne war es allerdings eine andere Sache. Sie war im sechsten Monat, doch ihr Gesicht war so zart und schön wie immer. Ihre milchige Haut war makellos, und ihre tiefblauen Augen waren leuchtend und klar. Ihre Haare waren sehr lang geworden. Sie hatte sie geflochten und trug eine Baskenmütze auf dem Kopf. Nach jüdischem Gesetz müssen verheiratete Frauen ihr Haar bedecken, doch im Augenblick ließ Rina den pechschwarzen Zopf über ihren Rücken baumeln. Er war dick und glänzte. Sie sah aus wie das blühende Leben.

Kessler meldete sich wieder am Telefon. Decker hob eine Hand.

»Okay«, sagte der Arzt. »Ich hab alle Tests durchgeführt, die Sie wollten, und die Ergebnisse ins Labor geschickt. Sie war an der Vagina verletzt, aber es gab keinerlei Spermaspuren.«

Decker sah zu seiner Frau. »Könnten Sie einen Augenblick warten, Doc? Ich möchte an einen anderen Apparat gehen.«

»Mach dir wegen mir keinen Streß«, schmollte Rina. »Ich geh ins Nebenzimmer.«

»Rina …«

»Nein, ich bestehe darauf.« Sie öffnete die Hintertür, um den Hund hereinzulassen. »Komm, Ginger. Du kannst mir Gesellschaft leisten.«

Decker wußte, daß es keinen Zweck hatte zu protestieren, und wartete, bis sie außer Hörweite war. Dann sagte er: »Sie haben auch einen Abstrich von Mund und Anus gemacht?«

»Haben wir. Niemand hat in irgendeine ihrer Körperöffnungen ejakuliert.«

»Die Bettlaken rochen nach Sperma.«

»Dann ist er auf dem Laken gekommen, aber nicht in ihr«, sagte Kessler. »Ich habe ein wenig getrocknete Samenflüssigkeit an ihrem Bein gefunden. Die hab ich auf einen Objektträger getan und ins Labor geschickt.«

»Doc, haben Sie sie gefragt, ob zuvor ein freiwilliger Geschlechtsverkehr stattgefunden hat?«

»Ich hab alles im Griff, Sarge. Ich wußte doch, daß Sie unverfälschte Ergebnisse wollten. Sie hat gesagt, nein.«

Ein Vergewaltiger mit vorzeitigem Samenerguß? Decker wußte, daß viele von ihnen unter diesem Problem litten. »Gab es irgendwelche Verletzungen im analen oder oralen Bereich?«

»Jedenfalls keine klinisch relevanten.«

»Irgendwelche fremden Haare?«

»Nichts Offenkundiges – weder am Schambein noch auf dem Kopf. Sie ist überall blond, irgendwas Dunkles wäre mir also sofort ins Auge gesprungen. Beim Kämmen zieht man immer irgendwelche Haare heraus. Ob sie von ihr stammen oder nicht, wird das Labor feststellen. Aber wenn auf dem Bettlaken Sperma ist, dann haben Sie doch was in der Hand.«

»Was haben Sie mit ihrer Kleidung gemacht?«

»Alles in Plastiktüten verpackt«, sagte Kessler. »Der Fahrer des Krankenwagens hat mir gesagt, Sie wollten die Sachen selbst abholen.«

»Yeah, ich bin in zirka zwei Stunden da. Glauben Sie, daß ich mit ihr reden kann?«

»Wie bereits gesagt, sie ist zwar noch ein bißchen benommen. Aber sie wird wohl in der Lage sein, einige Fragen zu beantworten. Da fällt mir gerade ein, sie hat nach Ihnen gefragt.«

»Tatsächlich?«

»Ja, sie hat sogar namentlich nach Ihnen gefragt. Zweimal. ›Ist Sergeant Deckman hier?«‹

»Deckman«, sagte Decker. »Ist ja ziemlich nah dran. Sie kann sich also von heute morgen an mich erinnern?«

»Sieht so aus«, sagte Kessler. »Wenn ihr Verstand klar bleibt, sollte sie sehr bald wieder gesund werden. Sie ist in ausgezeichneter körperlicher Verfassung – ihr Puls war langsam, ihr Blutdruck schön niedrig. Ihre Lungen sind in Ordnung. Sie hatte heute früh eine kurze neurologische Untersuchung, und für morgen ist noch eine vorgesehen. Ihre Reflexe sind normal, und sie hat ein gutes Gesichtsfeld. Im fein- wie im grobmotorischen Bereich hat sie völlig normal reagiert. Der Muskeltonus ist auch gut.«

Decker erinnerte sich an ihren Griff. Ihr Muskeltonus war mehr als gut gewesen.

»Ihr Gesicht ist geschwollen«, fuhr Kessler fort. »Subkutane Blutungen unterhalb der Augen. Sieht aus, als hätte ihr jemand auf die Augen geschlagen. Sie sind grün und blau und verquollen. Aber es sind keine Gesichtsknochen gebrochen. Das ist gut. Sie ist eine äußerst attraktive Frau. Man kann ihre Schönheit trotz der Blutergüsse und Schnittwunden erkennen.«

»Das stimmt. Ich wäre sehr dankbar, wenn ihr jemand sagen könnte, daß ich am späten Nachmittag vorbeikomme.«

»Mach ich.«

»Danke.« Decker hängte ein und ging ins Wohnzimmer. Bei der Hitze schien der Raum den Geruch von Kiefer und Leder zu verströmen. Ginger hatte einen der Ledersessel in Beschlag genommen; Rina saß auf dem anderen, die Füße auf die Ottomane gelegt. Sie sah aus, als hätte sie eine Wassermelone verschluckt. Er ging zu ihr und küßte sie auf die Stirn. Sie schlang einen Arm um seinen Hals, zog ihn zu sich herunter und fuhr mit den Fingern durch sein dichtes rotes Haar.

»Du hast recht, ich bin müde. Ich hab es übertrieben. Aber ich fühlte mich heute morgen so voller Energie. Ich hab sogar kleine Napfküchlein für die Jungs gebacken. Möchtest du eins?«

»Nein, danke.«

»Hattest du genug zu essen?«

»Alles wunderbar.«

»Ganz sicher?«

»Absolut.«

Sie schob eine Hand unter sein Hemd. Decker wurde vom Duft ihrer Haut ganz schwindlig. »Willst du mir was sagen, Darling?«

»Hast du Zeit, Peter?«

Er richtete sich auf und lockerte seine Krawatte. »Honey, ich nehm’ mir Zeit.«

»Hab ich ein Glück, daß ich einen Mann hab, der seine Arbeitszeit selbst bestimmt.«

»Gute Sache, was?«

»Allerdings.«

Decker knöpfte sein Hemd auf. Er war froh, daß Marge nicht mitgekommen war.

 

Den Planet VULCAN zu betreten war, als käme man in eine andere Welt.

In eine Welt, die zumindest Marge noch nie gesehen hatte.

Die Eingangshalle der Beauty-Farm war ein Rundbau von den Ausmaßen eines Ballsaals. Die Decke war gewölbt und mit leicht gold getönten Weinranken und Blumen bemalt, die sich auch die verputzten Wände hinunterschlängelten. Der Boden war aus von pfirsichfarbenen Adern durchzogenem Marmor, der teilweise von einem dicken, grün- und pfirsichfarbenem chinesischen Teppich bedeckt war, der einen Durchmesser von zehn Metern hatte. Auf dem Teppich standen mehrere Sitzgruppen. Auf einem Brokatsofa, flankiert von goldumrandeten Beistelltischchen, saßen drei sonnenbankgebräunte Frauen Mitte Dreißig. Sie trugen kurze Shorts und T-Shirts und kicherten wie junge Mädchen. Außerdem hatten sie perfekte Figuren – zu perfekt, nirgends ein unerwünschtes Pölsterchen. In zwei mit Velours bezogenen Ohrensesseln saßen zwei junge Mädchen in Trikots, jeweils ein Handtuch lässig um die Schultern gelegt. Sie nippten an einem tropischen Saft mit reichlich zerstoßenem Eis und begutachteten ihre langen roten Fingernägel.

Drei Frauen mittleren Alters saßen in Clubsesseln aus genarbtem Leder um einen überdimensionalen Backgammontisch aus Onyx. Auf zwei zweisitzigen Sofas am Kamin saßen jeweils eine ältere und eine jüngere Frau – Mutter und Tochter vermutlich.

Der Kamin war dem Eingang gegenüber, sein aus Marmor gehauener Sims der Rundung des Raumes angepaßt. Auf der linken Seite führte eine auf Hochglanz polierte Mahagonitreppe in den ersten Stock. Der Empfangstisch – ebenfalls aus von pfirsichfarbenen Adern durchzogenem Marmor – befand sich auf der rechten Seite.

Ein Kellner im Smoking, der ein Tablett mit Cocktailgläsern mit einer fleischfarbenen Flüssigkeit in der Hand hielt, kam auf Marge zu. Seine Augen strahlten Mißbilligung aus, doch er verzog keine Miene.

»Eine kleine Erfrischung aus Guajave und Passionsfrucht, Ma’am?« Er sprach mit einem aufgesetzt englischen Akzent.

»Ist irgendwo ein Schuß Stolichnaja drin?«

»Wie bitte?«

»Ein einfacher Wodka tut’s auch.«

»Alkohol ist hier nicht erlaubt …«

»Vergessen Sie’s, Jeeves.«

Sie klopfte ihm den Rücken und schlenderte hinüber zum Empfangstisch. Eine junge Frau mit Brille – ebenfalls im Trikot – blickte von der Kasse auf. Ihr anfängliches Lächeln verblaßte, als sie Marge sah.

»Kann ich Ihnen helfen, Madame?«

Nicht Madam, sondern Ma-dame. Französisch. Noch ein kleiner straffer Körper mit großen Titten. Diese Frau hier hatte sehr kurze Haare und so scharfe Gesichtszüge, daß man sich daran hätte schneiden können. Ihr Namensschild wies sie als Ms. F. Purcel aus.

»Streng genommen Mademoiselle«, sagte Marge, »und ja, Sie können mir helfen. Ich bin Detective Dunn vom LAPD. Ich hätte gerne Kelley Ness gesprochen.«

Die Lippen bewegend, betrachtete Purcel Marges Ausweis. »Darf ich fragen, worum es geht?«

»Warum lassen Sie mich nicht einfach mit Kelley Ness reden? Wenn sie will, kann sie’s Ihnen dann selbst erzählen.«

Purcel seufzte. »Einen Augenblick. Setzen Sie sich … Nein … vielleicht sollten Sie einfach da hinten warten.«

Marge lächelte, rührte sich aber nicht. Die Angestellte ging resigniert zur großen Schalttafel und drehte Marge den Rücken zu, während sie in das Telefon sprach. Nach etwa einer Minute hängte sie ein.

»Ich kann Ms. Ness nicht finden. Darf ich ihr etwas ausrichten?«

Marge beugte sich über den Empfangstisch. »Warum versuchen Sie’s nicht noch mal, Ma’am?«

»Es tut mir leid …«

»Rufen Sie noch mal an.«

Ms. Purcel klappte den Mund auf und zu, dann drehte sie sich abrupt um und nahm erneut den Hörer in die Hand. Eine weitere Minute verging, bevor sie sich wieder umwandte.

»Ich hab Ms. Ness gefunden.«

»Die Rückkehr des Phantoms.«

»Wie bitte?«

»Wo ist sie?«

Purcel wurde jetzt sehr förmlich. »Nehmen Sie die Treppe links zum ersten Stock. Ms. Ness ist in Büro B auf der rechten Seite.« Dann fügte sie hinzu: »Sie ist sehr beschäftigt.«

»Sind wir das nicht alle, Ma-dame?«

 

Das Büro war keilförmig und wirkte karg, besonders wenn man es mit der prunkvollen Empfangshalle verglich. An den Wänden hingen billige Poster. Durch kleine Fenster konnte man auf einen Pool von olympiawürdigen Ausmaßen sehen. Der Schreibtisch, auf dem sich lose Papiere stapelten, war völlig funktional. Die Frau hinter dem Schreibtisch schien um die Fünfundzwanzig zu sein. Sie hatte ein hübsches, aber zorniges Gesicht. Ihre braunen Augen glühten. Sie warf ihre glatten Haare über die Schultern und wühlte in den Papieren.

Marge wartete, bis die kleine, zornige Miss geruhte, sie zur Kenntnis zu nehmen. Das Machtspielchen dauerte etwa eine halbe Minute. Dann hob die zornige Miss den Blick und wartete, daß Marge etwas sagen würde.

»Sie sind Miss Kelley?«

»Ganz recht.«

Marge machte Anstalten, sich einen Stuhl heranzuziehen.

»Sie brauchen sich gar nicht erst hinzusetzen, Detective. Die Schmerzensgeldklage war ja schon dreist genug. Ms. Betham wird sich nur noch weitere Probleme einhandeln, wenn sie die Polizei einschaltet. Miss Brecht wird heute nicht im Haus erwartet, aber wenn Sie mir Ihre Karte dalassen, werde ich sie ihr geben, und Miss Brecht kann dann Ihren Namen an unsere Anwälte weiterleiten. Die werden Ihnen dann sicher das Nötige sagen.«

Marge setzte sich und dachte einen Augenblick nach, bevor sie sprach. »Wissen Sie, wo Miss Brecht ist?«

»Sie kommt häufig bei uns vorbei. Ich versichere Ihnen, daß sie die Karte bekommen wird.«

»Hat sie heute schon vorbeigeschaut?«

Kelley zögerte. Ihre Augen wurden plötzlich nachdenklich.

»Ich gebe Ihre Karte weiter. Wenn Sie mich nun entschuldigen …«

»Wurde Miss Brecht heute hier erwartet?«

»Was soll das? Sie würde ohnehin nicht ohne den Rat eines Anwalts mit Ihnen reden …«

»Ich will überhaupt nicht mit Miss Brecht reden, Kelley. Ich will nur wissen, ob Miss Brecht heute hier erwartet wurde. Oder hat sie sich den Tag freigenommen?«

Kelley biß sich auf die Lippen. »Sie stellen seltsame Fragen.«

»Die sind überhaupt nicht seltsam. Es sind nur nicht die Fragen, die Sie erwartet haben. Also machen Sie die Sache nicht unnötig kompliziert, und antworten Sie einfach.«

Kelley zögerte. »Miss Brecht hat den Tag freigenommen.«

»Ist das ungewöhnlich?«

»Überhaupt nicht. Sie nimmt häufig mittwochs frei. Da probiert sie neue Rezepte für die Küche aus. Was soll das alles eigentlich?«

»Sie hat auch nicht angerufen, oder?«

»Nein, hat sie nicht.«

»Dann wissen Sie es vermutlich noch gar nicht.«

»Was weiß ich nicht?«

»Miss Brecht wurde letzte Nacht überfallen …«

»O Gott!« Kelley fuhr sich einer Hand an die Kehle.

»Was … Ist ihr was passiert?«

»Sie wird sich wieder erholen. Sie wurde niedergeschlagen. Sie ist jetzt im Krankenhaus, aber sie ist bei Bewußtsein. Ich brauche eine Liste der Gäste und Angestellten – alle Personen, die letzte Nacht auf dem Gelände waren. Besonders die männlichen.«

Kelley hielt eine Hand auf den Mund und schüttelte den Kopf. »Das ist ja ungeheu … Ich bin total schockiert. Das ist ja furchtbar. Weiß ihre Mutter …?«

»Wir kümmern uns um ihre Mutter. Ich möchte Sie bitten, mit niemandem darüber zu reden.«

»Selbstverständlich. Was ist mit Frederick? Weiß er es schon? Frederick ist ihr Bruder.«

»Er wird verständigt.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll …«, sagte Kelley. »Ich bin …«

»Waren Sie letzte Nacht hier?«

»Natürlich. Ich wohne auf dem Gelände.«

»Dann wissen Sie auch, wer sonst noch hier war. Ich brauche diese Liste so schnell wie möglich.«

»Sie verdächtigen doch keinen der Gäste …«

»Wir werden so diskret sein wie möglich.«

»Wo ist Miss Brecht?« fragte Kelley. »Kann ich sie anrufen?«

»Mein Partner wird sich in Kürze mit ihr unterhalten. Ich werde ihm sagen, daß Sie gerne mit Miss Brecht sprechen möchten. Doch zurück zu der Liste, Kelley. Ich interessiere mich besonders für die Männer, die hier arbeiten – Köche, Hausmeister, Hilfskräfte, Sportlehrer. Haben Sie männliche Lehrer hier?«

»Nur Eubie Jeffers und meinen Bru … Sie nehmen doch wohl nicht an, daß die was mit der Sache zu tun haben?«

»Um was geht es bei der Klage von dieser Ms. Betham?«

Kelley runzelte die Stirn. »Ms. Betham ist eine verstörte alte Hexe. Sie hatte tatsächlich die Dreistigkeit zu behaupten … daß einer der Männer, die hier in der Beauty-Farm arbeiten, ihr zu nahe getreten ist.«

»Wer?«

»Die ganze Klage ist lächer …«

»Welcher Mann?« drängte Marge.

Kelley zögerte, dann sagte sie: »Mein Bruder Mike. Wenn Sie meinen Bruder kennen würden, wüßten Sie, wie hirnrissig diese Klage ist. Eigentlich sollte ich Ihnen das gar nicht erzählen, aber da Sie nicht in dem Fall ermitteln … Sie war diejenige, die versucht hat, meinen Bruder anzumachen. Und als er nicht wollte, wurde sie bösartig. So einen Unsinn dulden wir im Valley Canyon Spa nicht. Die meisten unserer Klienten werden von früheren Klienten empfohlen. Sie kam einfach so, ohne Empfehlung. Mit solchen Leuten haben wir immer den meisten Ärger.«

»War Ihr Bruder Mike vergangene Nacht hier?« fragte Marge.

Kelleys Augen verengten sich. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich will damit überhaupt nichts sagen. Ich will noch nicht mal etwas andeuten, Kelley. Ich stelle ganz einfach eine Frage. War Ihr Bruder letzte Nacht auf dem Gelände?«

»Er wohnt hier.«

»Ihr Bruder ist doch häufiger in Miss Brechts Haus, oder nicht?«

»Nein, er ist nicht häufig in Miss Brechts Haus!«

»Ich meine, um im Garten Gemüse zu ernten oder vielleicht irgendwas im Haus zu reparieren …«

»Ach so …« Kelley entspannte ihre Schultern. »Ja. Lilah gibt ihm schon mal solche Aufträge. Das zeigt doch nur, wie sehr sie ihm vertraut.«

Marge blieb ungerührt. »Wenn Sie jetzt bitte mit der Liste anfangen wollen, sehe ich mich etwas auf dem Gelände um, um mich ein bißchen zu orientieren. Sie haben doch wohl nichts dagegen?«

Kelley war blaß geworden. »Ich weiß nicht, ob ich ohne Miss Brechts Einverständnis überhaupt etwas tun sollte.«

»Ms. Ness, warum sind Sie so wenig bereit zu helfen? Ihre Arbeitgeberin wurde überfallen und zusammengeschlagen. Wollen Sie denn nicht wissen, wer das getan hat?«

»Natürlich will ich das! Es ist bloß der Schock … Mein Gott, das ist unvorstellbar!«

Marge stand auf und warf ihre Handtasche über die Schulter. »Wissen Sie, was das beste ist, wenn man so einen Schock erlebt? Was Konkretes tun. Zum Beispiel eine Liste aufstellen. Solche Details bringen einen immer in die Normalität zurück. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.«

»Vermutlich.«

»Ich lauf ein bißchen herum«, sagte Marge. »Piepsen Sie mich an, wenn Sie die Liste fertig haben.«

»Detective!« platzte Kelley heraus. »Detective, nehmen Sie’s mir nicht übel, aber ich möchte nicht, daß die Frauen einen Schrecken bekommen, wenn sie merken, daß die Polizei hier herumschnüffelt.«

»Das kann ich sehr gut verstehen. Ich garantiere Ihnen, daß ich mich ganz diskret verhalte.« Marge zwinkerte mit den Augen. »Hey, ich schnapp mir ’nen Guajavesaft und misch mich unters Volk.«