6

Eine winzige Sekunde, um zu entscheiden, wie er sich verhalten sollte. Überrascht, resigniert, empört oder kooperativ, vielleicht sogar freundlich? Nein, freundlich konnte er streichen. Bullen werden mißtrauisch, wenn sich jemand zu sehr anbiedert. Und wenn diese Frau gut war – Kelley hatte sie neugierig genannt –, dann hatte sie vermutlich gehört, wie sein Name über die Lautsprecheranlage ausgerufen wurde, und sich gefragt, was das sollte. Ness wußte, er würde es wahrscheinlich schaffen, sich dumm zu stellen, aber das hier war keine Sprechprobe für den Oscar. Also kompliziere nichts, und paß auf, daß sie nicht mißtrauisch wird. Zumindest war er durch Kelleys Anruf vorbereitet. Keine zitternden Knie und keine schwitzigen Hände.

»Hi«, sagte Ness. »Ich nehm an, Sie sind die Polizistin, da Sie nicht für die Yogastunde angezogen sind.«

Marge stutzte einen Augenblick, überrascht, daß er wußte, wer sie war, und überrascht, wie locker er sich in ihrer Gegenwart verhielt. Die meisten Leute wurden in der Gegenwart von Cops nervös. »Haben Sie gerade mit Ihrer Schwester gesprochen?«

»Yeah. Sie ist völlig ausgerastet. Redete ziemlich wirres Zeug, muß ich gestehen. Irgendwas, daß Lilah überfallen worden wäre und Sie die Sache untersuchen. Wenn Kelley durchdreht, ruft sie nach ihrem großen Bruder. Was ist denn nun passiert?«

»Kann ich mich kurz mit Ihnen unterhalten?«

»Jetzt?«

»Ja, jetzt.«

»Ich hab ungefähr eine halbe Stunde Zeit bis zum nächsten Kurs.« Ness schluckte heftig, trat dann zurück in die Jazzarena und legte seinen Camcorder vorsichtig auf eine Matte. »Ich bin völlig ausgedörrt. Haben Sie was dagegen, wenn ich mir schnell einen Becher Brühe hole? Wir können uns hier drinnen unterhalten. In diesem Hause ist man kaum irgendwo ungestört.«

»Ihre Schwester hat mir erzählt, daß Sie auf dem Gelände wohnen. Wir könnten uns bei Ihnen unterhalten.«

»Nee, das ist zu weit zu laufen. Bin sofort zurück. Halten Sie die Stellung.«

Er war aus der Tür, bevor Marge protestieren konnte. Sie sah sich in der Turnhalle um. An einer Seitenwand lag ein Stapel frischer Handtücher, daneben stand ein großer Wäschekorb mit schmutzigen Handtüchern sowie ein Haufen blauer Übungsmatten. Vor der Spiegelwand stand ein CD-Player auf dem Boden. Da es keine Stühle gab, lehnte Marge sich gegen die Ballettstange.

Von der Statur her entsprach Mike Ness überhaupt nicht dem, was Marge erwartet hatte. Sie hatte sich einen Muskelmann vorgestellt, und nicht jemanden, der so zierlich war. Tatsächlich wirkte er sogar ein bißchen androgyn bis auf den akkurat getrimmten Zweitagebart. Glänzendes schwarzes Haar fiel ihm in die großen blauen Augen. Man mußte ehrlicherweise zugeben, daß er fast so hübsch wie seine Schwester war. Er hatte zwar keine übertriebenen, aber gut durchtrainierte Muskeln, die sich deutlich an Bizeps und Waden abzeichneten.

Es dauerte nicht lange, da kam er mit zwei dampfenden Bechern zurück und trat die Tür mit dem Fuß zu. Wenn der Typ irgendwie Dreck am Stecken hatte, dann hatte seine liebe Schwester Kelley Marge das Überraschungsmoment vermasselt.

»Ich hab für Sie auch einen Becher mitgebracht, Detective.«

»Danke, aber ich passe.«

Mit beiden Bechern in der Hand ging Ness in den Schneidersitz, ohne einen Tropfen zu verschütten. »Ich kenn’ mich zwar nicht aus, aber ich könnte mir vorstellen, daß es in Ihrem Job einigen Streß gibt. Die Brühe hat eine gute spannungslösende Wirkung. Außerdem hat sie wenig Kalorien.«

Marge setzte sich neben ihn und nahm ihr Notizbuch heraus. »Ich bin nicht auf Diät.«

»Trinken Sie’s trotzdem. Es wird Sie nicht umbringen.« Ness’ Lippen verzogen sich zu einem vagen Lächeln. »War wohl keine ganz glückliche Wortwahl.«

Marge deutete ebenfalls ein Lächeln an. »Trinken Sie meine für mich mit, Bruder. Ich bin schon mit Saft abgefüllt.«

Ness fing überraschend an zu lachen. »Höre ich da etwa Sarkasmus? Sie wissen doch, daß Zynismus einer der Haupterzeuger von Toxinen ist, Detective.«

»Das ist Körperverletzung auch.«

Ness wurde ernst. »Was ist denn nun letzte Nacht mit Lilah passiert?«

»Sie wurde überfallen.«

»Vergewaltigt?«

»Ein vollständiger Bericht liegt noch nicht vor. Wissen Sie was über die Sache?«

»Ich? Ich habe keinen blassen Schimmer.«

Marge betrachtete sein Gesicht. Es drückte eine gewisse Betroffenheit aus, aber er übertrieb es nicht. Keine Probleme, einem in die Augen zu sehen. Wirkte eigentlich nicht nervös. Entweder hatte er keinen Dreck am Stecken, oder er war ein absoluter Psychopath. »Wie kommen Sie mit Lilah klar?«

»Ich bete sie an.« Er lächelte bedächtig. »Rein freundschaftlich. Sie ist der beste Chef, den ich je hatte. Ich kann mir meine Arbeitszeiten selbst einteilen, und sie ist großzügig, wenn man mal freihaben will. Die Bezahlung ist allerdings nicht so toll, muß ich zugeben. Doch wenn man die Vergünstigungen einrechnet – freie Unterkunft und Verpflegung –, ist es doch nicht so wenig, wie’s auf dem Papier aussieht. Ich möchte den Job zwar nicht mein ganzes Leben lang machen, aber es ist eine wunderbare Zwischenlösung.«

Mr. Aufrichtig.

»Wie lange arbeiten Sie schon hier?« fragte Marge.

»Ich hab vor etwa acht Monaten angefangen.« Ness hatte eine Brühe ausgetrunken und zerknüllte den Pappbecher in der Hand. »Meine Schwester hat mich hier reingebracht. Sie arbeitet schon seit fast zwei Jahren hier und liebt ihren Job. Kelley ist ein großartiges Mädchen, aber sie macht sich zu viele Sorgen um mich. Vor ungefähr einem Jahr wurde ich arbeitslos. Hat mich nicht gestört, aber sie hat es verrückt gemacht. Sie hat mich überredet, hierher zu kommen. Hat mich fast hierher gezerrt. Aber es tut mir nicht leid. Wie ich schon sagte, der Job ist okay, bis sich was Besseres findet.«

»Was würden Sie denn gern machen?«

»Ich hätte ganz bestimmt nichts dagegen, so ’nen Laden wie diesen zu besitzen«, sagte Ness melancholisch. »Aber da das wohl kaum passieren wird, hätte ich gern genug Kundinnen, um mich als Privattrainer selbstständig zu machen. Man kriegt hier eine Menge Kontakte. Dienstags und samstags abends bin ich bereits ausgebucht. Lilah ist wirklich sehr entgegenkommend und gibt mir dafür frei. Aber zur Zeit hab ich noch nicht genug Kundschaft und nicht genug Einkommen, um allein zurechtzukommen.«

»Haben Sie Ihre Kundinnen hier auf der Beauty-Farm kennengelernt?«

»Die meisten ja. In letzter Zeit sind ein paar auf Empfehlung gekommen. Das Ganze entwickelt sich allmählich, sehen Sie.«

»Hat denn Lilah nichts dagegen, wenn Sie ihr Kundinnen abspenstig machen?«

»Ich mache ihr keine Kundinnen abspenstig …«

»Wenn Sie die Frauen zu Hause trainieren, wer braucht denn dann noch die Beauty-Farm?«

Ness nippte bedächtig an seinem zweiten Becher Brühe. »So läuft das nicht, Detective. Die Beauty-Farm und ich sind synergetisch. Wir profitieren voneinander. Sehen Sie sich doch mal um. Die meisten Frauen hier sind phantastisch in Form. Sie kommen hierher, um Ruhe und Frieden zu finden, und wollen eine sichere Umgebung, in der sie sich entspannen können, ohne zuzunehmen. Wir haben zwar auch einige Männer hier – größtenteils Ehemänner, die von ihren Frauen mitgeschleift werden –, aber der größte Teil unserer Klientel ist weiblich. Sie können hier relaxen, ohne sich vor irgendwelchen Männern in acht nehmen zu müssen.«

»Hat Ms. Betham das auch so empfunden?«

»Ich wußte, daß Sie davon anfangen würden«, sagte Ness. »Sind Sie Miz Betham je begegnet?«

»Nein.«

»Sie ist um die Fünfzig und hat ein Gesicht wie eine Ananas. Ich hab nichts gegen häßliche Menschen, außer wenn sie mir Ärger machen. Keine Ahnung, was ihr Problem ist, aber an mir läßt sie das nicht aus. Ich hoffe, daß der Blödsinn, den die erzählt, bei Ihnen keinen komischen Eindruck von mir erweckt. Ich stelle keinen Frauen nach. Und Lilah würd ich ganz bestimmt nichts tun. Sie haben mir bisher ja noch nicht viel darüber erzählt.«

»Lilah wird sich wieder erholen«, sagte Marge. »Wenn sie Ihnen die Einzelheiten erzählen will, wird sie das sicher tun.«

»Weiß sie, wer sie überfallen hat?«

Marge schwieg.

»Vermutlich nicht«, sagte Ness. »Sonst würden Sie mich ja nicht vernehmen. Fragen Sie mich, was Sie wollen. Ich tu alles, um Ihnen zu helfen, das Schwein zu finden.«

»Sie mögen sie sehr gern.«

»Ich sagte doch, daß ich sie anbete.«

»Aber rein freundschaftlich.«

»Yep.«

»Hat es je sexuelle Kontakte zwischen Ihnen gegeben?«

»Nein. Nicht daß ich was dagegen hätte, aber …«

Marge wartete ab.

»Ich bin wohl nicht ihr Typ.«

»Wer ist denn ihr Typ?«

»Lilahs?« Ness zögerte. »Keine Ahnung. Ich hab gehört, sie wär mal verheiratet gewesen. Ich versuche mich möglichst aus den privaten Angelegenheiten meiner Chefin rauszuhalten. Ich denke, das ist ganz vernünftig.«

»Waren Sie gestern hier auf der Beauty-Farm, Mike?«

»Gestern hatten wir was? Sonntag? Yep, da war ich hier. Ich bin zu dem Vortrag um sieben gegangen. Ehrlich gesagt, kann ich mich noch nicht mal erinnern, worüber der war. Die gehn bei mir alle durcheinander. Danach hab ich eine Stunde allein trainiert. Dann hab ich mit einigen der Damen Kräutertee getrunken.« Er lächelte. »Sie wissen schon, ein bißchen Kundschaft werben. Gegen elf bin ich ins Bett gegangen, kann aber auch schon fast zwölf gewesen sein.«

»Haben Sie Lilah irgendwann im Laufe des Abends gesehen?«

»Kann mich nicht daran erinnern.«

»War sie bei dem Vortrag?«

»War sie? Ich kann es beim besten Willen nicht sagen. Meine Schwester Kelley weiß das vielleicht. Sie behält solche Sachen.«

»Es kann also niemand bestätigen, wo Sie zwischen zwölf und sieben waren.«

»Nein, niemand. Da hab ich nämlich in meinem einsamen Bettchen geschlafen.« Ness zuckte die Schultern. »Ist Lilah bewußtlos oder was? Warum fragen Sie mich das alles? Sie könnte Ihnen sonst sagen, daß ich ihr nichts getan habe.«

»Sie ist bei Bewußtsein.«

Ness nickte. »Das ist gut. Dann fragen Sie sie doch einfach …«

»Wir haben vor, sie ausführlich zu befragen, wenn es ihr besser geht. Bis dahin schließen wir niemanden aus. Wissen Sie, ob jemand eventuell ein Hühnchen mit Lilah zu rupfen hatte. Ein verärgerter Mitarbeiter vielleicht?«

Ness schüttelte den Kopf. »Alle mögen sie. Hab noch nie einen ein böses Wort sagen hören … außer … nun ja, er hat eigentlich nichts Schlechtes über sie gesagt. Er hat überhaupt nichts über sie gesagt … was ziemlich merkwürdig war.«

Marge sah ihn fragend an.

»Vor zwei oder drei Monaten kam ein Typ hierher und behauptete, er wär ein Bruder von Lilah«, sagte Ness. »Eigentlich wollte er zu Davida, weil sie Geburtstag hatte. Er hatte ein Geschenk für sie. Es war aber niemand da. Also ließ er das Geschenk an der Rezeption und ging.«

»Das war alles?«

»Yeah, mehr oder weniger.«

»Warum erzählen Sie mir das?«

»Ich weiß nicht«, sagte Ness. »Ich hatte den Typ noch nie gesehen. Und er ist seitdem auch nicht mehr hier gewesen. Ich weiß, daß Lilah und Freddy ein enges Verhältnis zueinander haben. Mir kam es einfach merkwürdig vor, daß es da so einen mysteriösen ›Bruder‹ geben sollte. Er war ein ganzes Stück älter als sie und Freddy. Bestimmt Mitte Vierzig. Sehr merkwürdig.«

»Wie war sein Name?«

»Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur noch, daß es irgend so ein adeliger Name war – so was wie Thurston Howell der Dritte oder so.«

»Sagt Ihnen der Name King was?«

Ness zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »So hieß er nicht.«

Doch irgendein Funke des Erkennens war in Ness’ Augen erschienen. »Sie sind also ganz sicher, daß sein Name nicht King sowieso oder sowieso King war?« fragte Marge.

»Nein, das war nicht der Name auf der Karte.«

»Sie haben einen Blick auf die Geburtstagskarte geworfen?«

Ness lächelte. »Außer dem Geschenk hat er auch eine Visitenkarte da gelassen. Seltsam, nicht? Haben Sie je gehört, daß einer seine Visitenkarte zu einem Geschenk legt? Besonders innerhalb der Familie?«

Marge antwortete nicht.

»Wahrscheinlich hat er kein enges Verhältnis zur Familie«, sagte Ness. »Er ist übrigens Arzt. Auf der Karte stand Dr. med. vor seinem Namen.«

»Sie haben seine Karte gesehen, können sich aber nicht an den Namen erinnern.«

»Tut mir leid.«

»Was haben Sie mit der Karte gemacht?«

»Die hab ich Kelley gegeben. Sie hat sie vermutlich noch, wenn sie sie nicht weggeschmissen hat. Das glaub ich aber nicht. Sie hebt alles auf. Fragen Sie sie.«

»Das werd ich tun.« Marge legte eine große Hand auf seine knochige Schulter. »Bleiben Sie bis auf weiteres erreichbar, Mr. Ness.«

»Kein Problem, Detective. Ich wüßte gar nicht, wo ich hin sollte.«

Marge stand auf, schlug ihr Notizbuch zu und berührte mit der Fußspitze die Videokamera. »Was machen Sie damit?«

Ness hob die Kamera auf. »Ich filme mich bei der Arbeit. Um zu sehen, wie ich mich bewege. Ich nehme meinen Job ernst und möchte nicht wie ein Idiot vor den Frauen stehen. Möchten Sie mal gucken?«

Marge sah auf ihre Uhr. »Gern.«

Ness stand auf. Marge folgte ihm zur Rückwand der Jazzarena. Dort öffnete er einen Schrank. Drinnen stand ein Fernseher mit einem Dreizehn-Zoll-Bildschirm mit allem Drum und Dran. Ness machte die Kamera auf und schob die Kassette in das Videogerät. Sofort füllte sein Bild den Monitor. Er bewegte sich mit der Grazie eines Ballettänzers. Marge fragte ihn, ob er Ballettunterricht gehabt hätte.

»Vor langer Zeit.« Ness’ Augen klebten auf dem Bildschirm.

»Ungewöhnlich für einen Jungen.«

»Meine Eltern waren ungewöhnliche Leute.« Er sah sie an. »Kann ich das Video abstellen?«

»Bitte sehr.«

Ness betätigte einen Schalter, und der Bildschirm wurde dunkel.

»Danke für Ihre Hilfe, Mr. Ness.« Marge war schon fast an der Tür, da rief er ihren Namen. Sie drehte sich um.

»Wollen Sie nicht doch zum Yoga bleiben? Beruhigt das Gemüt.«

Marge lächelte. »Mein Gemüt kann gut ein bißchen Unruhe vertragen, Mr. Ness. Das hält mich auf Draht.«

 

Gegen eine rosafarbige Säule am Eingang der Beauty-Farm gelehnt, sah Decker auf die Visitenkarte, die Marge von Kelley Ness erhalten hatte:

 

Dr. med. John Reed

Fellow des American College für Gynäkologen

Frauenheilkunde, Geburtshilfe

Behandlungen gegen Unfruchtbarkeit

 

Unten rechts waren zwei Telefonnummern angegeben, unten links die ärztliche Zulassungsnummer. Er drehte die Karte um. Auf der Rückseite stand nichts.

Ein heißer, trockener Wind fegte um das Haus. Die Sonne blitzte auf den Chromstoßstangen, die dicht gedrängt auf dem Parkplatz standen. Decker lockerte seine Krawatte, dann knöpfte er die Hemdsärmel auf und rollte sie hoch.

»Ist die Karte echt?«

»Kurz bevor du gekommen bist, hab ich die Nummer angerufen.« Marge sah auf ihre Uhr. »Muß gegen halb fünf gewesen sein. Es ist tatsächlich eine Arztpraxis. Offenbar hat Reed alle Nachmittagstermine abgesagt, weil er wegen mehrerer Entbindungen im Krankenhaus festhängt.«

»Festhängt?« sagte Decker.

»Die Worte seiner Sekretärin, nicht meine.«

»Hast du rausgefunden, in welchem Krankenhaus?«

Marge schüttelte den Kopf. »Ich hab sie gefragt, aber sie wollte es nicht sagen, und ich hab sie auch nicht gedrängt. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob er überhaupt was mit der Sache zu tun hat. Aber wenn ich auch nicht viel aus der Sprechstundenhilfe rausgekriegt hab, eins hat sie mir jedenfalls gesagt: John Reed ist tatsächlich der Bruder von Lilah und Freddy.«

Zwei Frauen im Bikini kamen laut lachend, die Arme untergehakt, aus der Eingangshalle der Beauty-Farm. Beide waren jung und attraktiv – die eine blond, die andere brünett. Sie warfen ihre langen, feuchten Haare über die braun gebrannten Schultern.

Decker folgte ihnen mit den Augen, bis sie in einem silberfarbenen Porsche Carrera verschwanden. Der Wagen rauschte davon, und Decker starrte einen Augenblick auf den leeren Platz.

»Da drinnen gibt’s noch mehrere Dutzend von der Sorte«, sagte Marge.

»Wie gefällt dir diese Farbe für einen Porsche? Meiner könnte eine Lackierung vertragen. Ich bin das Rot leid.«

»Hast du nach den Mädchen oder nach dem Auto geguckt, Pete?«

»Zuerst hab ich nach den Mädchen geguckt. Dann wurde ich durch das Auto abgelenkt.«

Marge fing schallend an zu lachen. »Rina braucht sich wirklich keine Sorgen zu machen.«

Decker lächelte. »Das hätte ich dir auch so sagen können. Wenn also dieser Reed Lilahs zweiter Medizinerbruder ist, wer ist dann Totes’ Phantom namens King?«

»Ich hab Reeds Helferin nach ihm gefragt. Da fing sie an, mir Fragen zu stellen. Und als ich die nicht beantworten wollte, beantwortete sie auch meine nicht mehr. Aber ich hatte das Gefühl, daß es diesen King auf jeden Fall gibt. Ob er aber ein Bruder ist oder nicht, weiß ich nicht.«

»Also, demnach hat Lilah einschließlich des Phantombruders King … wie viel … drei Brüder, die Ärzte sind?« sagte Decker.

Marge zuckte die Achseln.

Decker fuhr fort: »Ich hab Hollander gebeten festzustellen, ob in der Gegend Leute wohnen, die schon mal sexuell straffällig geworden sind. Außerdem will er die Daten von unserem Fall in den Computer eingeben, um festzustellen, ob es Übereinstimmungen mit anderen Vorfällen in der Stadt gibt. Bis ich mit Lilah gesprochen hab, haben wir nicht viel, womit wir arbeiten können.«

»Hast du schon mit Davida Eversong gesprochen?« fragte Marge.

Decker runzelte die Stirn. »Hat Morrison sich schon wieder nach ihr erkundigt?«

»Ich hab angerufen, um zu fragen, ob irgendwas anliegt«, sagte Marge. »Er war bloß neugierig, ob wir schon Kontakt mit ihr aufgenommen haben.«

»Tja, die Tochter einer berühmten Schauspielerin wird vergewaltigt – das könnte einigen Wirbel geben, wenn’s in die Medien kommt. Die meisten Schauspielerinnen sind publicitysüchtig. Ich bin sicher, daß Morrison keine neuen Schlagzeilen will, nachdem er sich gerade mit den Folgen des Falls Rodney King herumgeschlagen hat.«

»Eine neue Variante der ›versteckten Kamera‹.« Marge legte die Stirn in Falten. »Glaubst du, du könntest je so ausrasten wie diese Typen, Pete?«

»Ich glaube, wir sind alle nur eine Stufe über den Affen.«

Marge lächelte. »Hast du Freddy Brecht erreicht?«

»Er war nicht da.« Decker berichtete ihr von seinem Gespräch mit Brechts Sekretärin. »Ich weiß nicht, warum er seine Termine abgesagt hat. Vielleicht hat er das mit Lilah erfahren und ist zu ihr gerast. Ich würde mich gern mit ihm unterhalten. Angeblich hat er sich gestern Abend mit ihr getroffen. Vielleicht ist ihm irgendwas aufgefallen.«

»Ich ruf im Krankenhaus an und frage, ob er sie besucht hat.«

»Danke.« Decker wischte sich die schweißnasse Stirn. Das Quecksilber mußte heute über dreißig Grad geklettert sein. Arme Rina. Die nächsten Monate würden für sie die Hölle sein. »Dann erzähl mir mal was über Kelleys Bruder Mike. Ist das derselbe Typ, der das Gemüse erntet?«

»Yeah. Er war mir irgendwie unheimlich. Doch du hast ja gesagt, daß Lilah nicht weiß, wer sie überfallen hat, und Mike kennt sie.«

»Sie hatte die Augen verbunden«, sagte Decker, »deshalb könnte es trotzdem jemand gewesen sein, den sie kennt. Ich hab die Frage einfach nur so auf gut Glück gestellt. Vermutlich hat sie gar nicht mitgekriegt, was ich von ihr wollte. Ich werde sie noch einmal fragen müssen.«

»Vielleicht weiß sie, wer er ist, und der Kerl hat ihr mit üblen Dingen gedroht.«

»Könnte Ness einem Angst einjagen?«

»Nein, er ist eher verschlagen – hinterlistig«, antwortete Marge. »Der Typ ist kein bißchen zusammengezuckt, als er sich umdrehte und sah, daß ich ihn anstarrte. Ich kann ihm nichts Konkretes nachsagen – er war durchaus kooperativ –, aber ich trau ihm nicht. Auf den ersten Blick stellt er körperlich nicht viel dar. Doch dann sieht man, wie er sich bewegt. Er nimmt sich beim Training auf Video auf.«

»Was?«

»Yeah, er hatte eine Videokamera. Da hab ich ihn gefragt, wozu er die braucht. Er filmt sich selbst. Hat mir auch ohne Zögern das Band, was gerade drin war, vorgespielt. Mann, wie der sich bewegt, vielleicht nicht gerade wie ein Löwe, aber bestimmt wie ein Jaguar. Der hat seinen Körper total unter Kontrolle.«

»Soll ich ihn mir noch mal ansehen?«

»Laß mich erst meine Erkundigungen über ihn beenden.« Marge erzählte Decker von dieser Ms. Betham. »Ich halte dich darüber auf dem laufenden. Mal gucken, ob an der Klage was dran ist.«

»Nichts wie ran, Marge«, sagte Decker. »Ich fahr jetzt ins Krankenhaus, um mit Lilah zu reden.«

Die Tür der Beauty-Farm öffnete sich erneut. Heraus kam ein junges Mädchen mit abgeschnittenen Jeans und einem Trägerhemdehen. Einem Trägerhemdehen, das viel zu klein für ihre Oberweite war. Und sie trug keinen BH. Decker fand, daß er auf diese Details achten müsse, denn ein Sinn für Details schärfte die Beobachtungsgabe – das wichtigste Werkzeug bei der Detektivarbeit.

Marge tippte ihn auf die Schulter. »Sollen wir die Aufgaben tauschen, Pete?«

»Nein.« Deckers Augen wanderten von dem hüpfenden Busen zu Marges Gesicht zurück. »Nein, Detective Dunn, das wäre keine effektive Arbeitsteilung. Du erledigst, was noch auf deiner Liste steht. Ich fahr ins Krankenhaus.«