27
Die Beleuchtung war sanft und indirekt, im Kamin züngelten blauweiße Gasflammen um künstliche Holzscheite. Auf jedem Couchtisch stand eine Schüssel mit Potpourri, das einen Duft nach Apfel und Zimt verströmte, der schon fast penetrant war. Um den Kamin saß eine Gruppe von zwanzig Frauen. Einige hatten noch ihre Sportsachen an – Strumpfhosen, Trikots und Sweatshirts. Ihre Haare waren immer noch zu Pferdeschwänzen gebunden oder wurden von Schweißbändern aus der Stirn gehalten. Andere trugen übergroße Pullover, Leggings, Knöchelwärmer und Turnschuhe. Alle hatten Make-up im Gesicht, und die Haare waren perfekt gefönt. Sie hörten einer jungen Frau zu, die in der Mitte des Halbkreises stand und mit mehreren Stücken durchsichtigen Stoffs herumwedelte. Ihre blonden Haare reichten ihr bis zur Taille, und sie trug ein schwarzes Minikleid, in dem sich jede Kurve abzeichnete.
Oliver lehnte sich gegen die Eingangstür und sah Decker an. »Würden Sie nicht auch gern mit der Tussi in der Mitte tauschen?«
Decker steckte die Hände in die Jackentasche. »Wissen Sie, was ich echt zum Kotzen finde?«
»Abgesehen von der Tatsache, daß Sie diese wunderbaren Exemplare nicht alle auf einmal bumsen können?«
»Sehen Sie sich das doch mal an, Scottie. Hier läuft die Klimaanlage auf vollen Touren, damit es kalt genug ist, um ein Feuer anzumachen. Mein Gott, draußen ist es dreißig Grad. Wenn man’s warm haben will, macht man ein Fenster auf. Verstoßen die nicht gegen irgendeine idiotische Gesundheitsverordnung?«
»Was halten Sie davon, Pete?« Oliver legte Decker eine Hand auf die Schultern. »Sie sehen die Gesetzesvorschriften durch, und ich interviewe die Frauen.«
Sie hörten einen Augenblick der blonden Frau zu. Sie reichte quadratische Stücke Stoff und einen Handspiegel herum und bat die Frauen, sich den Stoff ans Gesicht zu halten. Decker hörte gerade, daß Creme- und Pfirsichfarben die Rosttöne milderten, als eine verkniffen wirkende junge Frau mit einer rosa Brille auf sie zukam. Sie trug ein gestärktes weißes Leinenkostüm mit einem kurzen, engen Rock. Sie hatte keine Strümpfe an, und ihre Füße steckten in fersenfreien Schuhen. »Guten Abend, Gentlemen. Mein Name ist Fern Purcel. Kann ich ihnen helfen?«
»Yeah, das können Sie.« Olivers Augen schweiften von Ferns Beinen zu dem Kreis von Frauen. Er zeigte auf sie. »Was machen die da?«
Ferns Züge verhärteten sich. »Das ist Elizabeth Dumay – von Dumay Cosmetics. Sie war so freundlich vorbeizukommen, um die Frauen in Farben zu unterrichten.«
Oliver sah Decker an. »Was zum Teufel ist denn Farben?«
»Rot, blau, grün …«
»Dann kommt Ihnen das auch spanisch vor.«
»Nee, ich kenn mich da schon schwer aus.« Decker holte seine Dienstmarke heraus und zeigte sie Fern.
»Nein, nicht schon wieder!« sagte sie. »Worum geht es denn diesmal? … Nein, ich will es gar nicht wissen. Warten Sie bitte hier, ich hole Ms. Ness.«
Oliver horchte auf. »Ms. Ness?«
»Mikes Schwester«, sagte Decker. »Soweit ich weiß, ist sie Geschäftsführerin hier.«
»Haben Sie schon mal mit ihr gesprochen?«
»Ich nicht, aber meine Partnerin.«
»Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, geh ich sie holen«, sagte Fern.
Decker faßte sie vorsichtig am Arm und ließ sie wieder los. »Ich möchte Ihnen nicht die Zeit stehlen. Wie wär’s, wenn Sie uns persönlich zu Ms. Ness’ Büro führen?« Er deutete mit dem Kopf zu den Frauen hin. »Wir wollen doch hier kein Aufsehen erregen.«
Die dunklen Augen hinter der rosa Brille wanderten vom Kamin zu dem Treppenabsatz im Obergeschoß. Dort muß Kelleys Büro liegen, dachte Decker und wies mit einem Arm schwungvoll auf das Treppengeländer. »Nach Ihnen, Ma’am.«
Zunächst rührte sich niemand. Dann ging Fem zögernd auf die Treppe zu und begann hinaufzusteigen. Die Männer folgten ihr in einem gewissen Abstand.
»Was sollte das denn?« flüsterte Oliver.
»Schwesterchen hat mal ihren Bruder gewarnt, daß Polizei im Haus sei«, sagte Decker. »Also dachte ich, daß die Gute diesmal die Überraschung auf ihrer Seite haben sollte.«
»Klar doch.«
Fern führte sie in einen keilförmigen Raum. Im Gegensatz zu der sanften Beleuchtung in der überkuppelten Empfangshalle wirkte das Büro im grellen Licht der Leuchtstoffröhren äußerst uneinladend. Eine junge Frau mit glatten braunen Haaren saß tief über den Schreibtisch gebeugt. Sie steckte sich eine lange Haarsträhne hinters Ohr, dann klopfte sie mit einem Bleistift auf die Schreibtischplatte. Als Fern sich räusperte, blickte sie noch nicht mal auf.
»Was gibt’s, Fern?«
»Polizei, Ms. Ness.«
Kelley Ness fuhr mit dem Kopf hoch. Sie trug ein rotes Top mit rundem Ausschnitt. Eine dünne, eng anliegende Goldkette stellte ihren langen, schlanken Hals heraus. Decker hielt ihr seine Dienstmarke hin. »Detective Sergeant Decker. Und das ist Detective Oliver.«
Kelley schwieg. Sieht nicht schlecht aus, das Mädel, dachte Decker. Wär sogar ganz hübsch, wenn sie nicht so ein finsteres Gesicht machen würde. Sie ähnelte ihrem Bruder, aber er war als Mann attraktiver als sie als Frau. Decker fragte sich, ob das zu Spannungen zwischen den beiden führte. Er fand, daß Kelley ziemlich verängstigt guckte, und fragte sich, warum. Während er seine Dienstmarke wieder in die Brusttasche seines Hemds schob, sagte er: »Wir möchten mit Ihrem Bruder Mike reden. Ist er da?«
Kelley schwieg beharrlich.
»Ms. Ness?« sagte Oliver.
Kelley biß sich auf die Lippe. Ihr Blick raste zwischen den beiden Männern hin und her. »Ich … ich ruf in seinem Zimmer an …«
Decker legte eine Hand auf den Telefonhörer. »Warum bringen Sie uns nicht einfach zu ihm? Sie arbeiten doch so hart. Sie könnten bestimmt eine Pause vertragen.«
»Ich … ich habe keine Zeit …«
»Nehmen Sie sich Zeit, Ms. Ness.« Olivers Lächeln war zum Dahinschmelzen. »Bitte.«
Kelley richtete sich langsam von ihrem Stuhl auf. Das rund ausgeschnittene Top stellte sich als Kleid heraus. »Ich weiß nicht genau, wo er ist.«
»Wir haben Zeit für eine ausgedehnte Führung«, sagte Decker.
Kelley nahm plötzlich eine straffere Haltung an. »Decker … Sie sind doch derjenige, der Lilah gestern gerettet hat.«
Yeah, das ist tatsächlich erst gestern passiert, dachte Decker. Scheint schon Wochen her zu sein. Das kommt davon, wenn man von achtundvierzig Stunden vierzig arbeitet.
»Lilah hat mir aufgetragen, Sie nicht ins Haus zu lassen.«
»Das wäre aber nicht sehr klug.«
»Ganz und gar nicht«, pflichtete Oliver bei.
»Lilah ist im Augenblick ein bißchen sauer auf mich«, sagte Decker. »Aber ich möchte ja auch gar nicht zu ihr. Ich möchte mit Ihrem Bruder reden.«
»Worüber?«
Oliver kratzte sich am Kopf und stellte sich rechts neben Kelley. »Über dies und das, Ms. Ness.«
Decker stellte sich auf ihre linke Seite. »Wird nicht allzu lange dauern.«
»Wir sind gleich wieder weg«, sagte Oliver und schob sie vorsichtig zur Tür.
»Ein bißchen länger dauert’s vielleicht doch.« Decker machte das Licht im Büro aus.
»Yeah, ein bißchen länger vielleicht schon.« Oliver machte die Tür hinter ihm zu. »Aber nicht viel länger.«
Kelley schaute so traurig zu ihrem Büro zurück wie ein Kind, das gezwungen wird, das Sommerlager zu verlassen.
»Nach Ihnen, Ms. Ness«, sagte Decker.
Kelley seufzte, dann ging sie die Treppe hinunter. Links von der Treppe führte eine offene Tür in einen schwach erleuchteten, mit Teppichboden ausgelegten Flur.
»Sollen wir die Geschwister trennen?« flüsterte Oliver.
Decker schüttelte den Kopf. »Ich möchte sehen, wie sie sich gemeinsam aufführen.«
»Stecken sie unter einer Decke?«
Decker zuckte die Achseln.
Kelley blieb am Ende des Flurs stehen – vor Zimmer 12. Sie hob die Faust, um zu klopfen, tat es aber nicht. Oliver klopfte für sie. Eine gedämpfte männliche Stimme sagte, es sei offen. Decker drehte den Knauf und ließ Kelley vorgehen.
Innerhalb weniger Sekunden hatten Bruder und Schwester sich eine Menge mitgeteilt, ohne ein Wort zu sagen. Keiner schien sonderlich erfreut über die Situation, aber Ness machte einen gelassenen Eindruck. Er trug eine graue Trainingshose und ein hautenges, schwarz-rosafarbiges Muskelshirt und saß im Lotussitz auf dem Bett. »Wo ist denn Ihre Kollegin? Die gefiel mir. Sie war richtig süß.«
Oliver steckte die Hände in die Tasche und schwieg. Decker lehnte sich gegen die Wand. Kelley setzte sich auf das Bett und tätschelte ihren Bruder am Bein.
»Wo waren Sie gestern, Mike?« fragte Decker.
»Hier.«
»Den ganzen Tag?« sagte Decker.
»Ja, den ganzen Tag. Wo sollte ich denn sonst …?« Mist! Ness ermahnte sich zur Beherrschung, sonst würde er sich schon wieder verplappern. »Nein, natürlich nicht den ganzen Tag. Wir haben uns doch gestern bei Lilahs Ranch getroffen. Nach dem Unfall. Ich wollte dort Gemüse ernten, erinnern Sie sich?«
»Anschließend sind Sie hierher zurückgekommen?« fragte Oliver.
»Yeah, ich mußte am Nachmittag meinen Aerobic-Kurs geben.«
»Wo sind Sie danach hingegangen?« fragte Decker.
»Ich hab Pause gemacht, und dann hatte ich noch einen Yoga-Kurs.«
»Und dann?«
Ness löste seine Beine ganz langsam aus dem Lotussitz und stand auf. »Was soll das alles?«
»Wir haben es nicht auf Sie abgesehen, Mike«, sagte Decker. »Wir wollen nur wissen, was Sie den ganzen Tag gemacht haben, Ihnen vielleicht sogar helfen. Also wie wär’s, wenn Sie sich uns gegenüber etwas kooperativer verhielten?«
Ness schwieg einen Augenblick. »Kein Problem. Sie wollen also wissen, was ich den ganzen Tag gemacht hab. Mal sehen, ob ich’s noch zusammen krieg. Ich weiß nicht genau, was ich nach dem Yoga-Kurs gemacht hab. Das heißt wahrscheinlich, daß ich direkt in mein Zimmer gegangen und den ganzen Abend dort geblieben bin. Kell hat mich besucht.«
»Ja, das hab ich«, sagte Kelley und nickte mehrmals mit dem Kopf.
Mit einem Blick forderte Ness sie auf, den Mund zu halten. »Kell war bei mir, Eubie Jeffers kam mal vorbei. Aber die meiste Zeit war ich allein. Ich hab ein bißchen Fernsehen geguckt, ein paar Videos eingelegt. Was soll ich Ihnen sonst noch erzählen?«
»Was für Filme haben Sie sich angeschaut?« fragte Oliver.
»Keine Filme«, sagte Ness. »Videos von mir, wie ich meine Übungen mache. Das hat nichts mit Narzißmus zu tun. Ich seh mir gerne an, welche Muskeln ich trainiere. Wenn ich feststelle, daß ich nicht genug für den Trizeps tue, bau ich mehr Übungen dafür ein. Wenn die Achillessehne überstrapaziert wird, versuch ich, sie etwas weniger anzustrengen. Wollen Sie die Videos sehen?«
Decker erinnerte sich daran, was Marge ihm von den Videos erzählt hatte, und schüttelte den Kopf. »Wo haben Sie zu Abend gegessen, Mike?«
Ness betrachtete ihn einen Augenblick. »Abendessen?«
»Yeah, Abendessen. Eine einfache Frage. Wo haben Sie gegessen?«
»Er hat mit mir zu Abend gegessen«, sagte Kelley.
Beide Detectives sahen sie an. Ness verzog das Gesicht, als hätte er auf eine Zitrone gebissen.
»Mit Ihnen?« sagte Oliver.
»Ja, mit mir«, sagte Kelley mit leiser Stimme. »Was ist denn daran so merkwürdig, daß ein Bruder mit seiner Schwester zusammen zu Abend ißt?«
»Sie haben also gestern mit Ihrer Schwester zu Abend gegessen, Mike?« sagte Oliver.
»Ja.«
»Sind Sie ganz sicher?«
»Natürlich ist er sich sicher!« sagte Kelley.
»Haben Sie hier in der Beauty-Farm gegessen?« fragte Decker.
»In meinem Büro«, sagte Kelley.
»Aber hier auf dem Gelände«, sagte Decker.
»Mein Büro ist doch wohl Teil der Beauty-Farm, Detective«, sagte Kelley.
»Wenn ich also Leute von der Beauty-Farm fragen würde, wo Sie zur Abendessenszeit waren, Kelley, würde sich kein Mensch daran erinnern, Sie im Speisesaal gesehen zu haben«, sagte Decker.
Kelley klappte der Mund auf, und ihre Wangen wurden rosa. »Nun ja, vielleicht hab ich mich mit ein paar von den Frauen unterhalten.«
»Aber Sie haben nicht mit ihnen zusammen gegessen«, sagte Oliver.
»Vielleicht hab ich ein, zwei Häppchen genommen …«
»Aber kein richtiges Abendessen«, sagte Decker.
»Vielleicht hab ich was bestellt, nur um höflich zu sein …«
»Kelley, halt den Mund!« brüllte Ness.
Decker starrte sie an. »Ms. Ness, wenn Sie nicht genau wissen, was Sie da sagen, könnten Sie sich in große Schwierigkeiten bringen.«
»Lassen Sie sie in Ruhe. Sie versucht mir nur zu helfen. Sie hat überhaupt keine Ahnung.«
»Wovon, Mike?«
»Woher soll ich das denn wissen. Um was geht’s hier überhaupt? Sind wir wieder bei Lilahs Vergewaltigung? Ich dachte, Sie hätten Totes heute morgen deswegen verhaftet. Was wollen Sie von mir?«
»Wie alt sind Sie, Mike?« fragte Decker.
Ness beäugte ihn wieder mißtrauisch. »Achtundzwanzig.«
»Achtundzwanzig?« fragte Decker. »Sind Sie sicher?«
»Natürlich bin ich mir sicher. Was soll das? Wollen Sie meinen Ausweis sehen oder was?«
Oliver grinste Decker an. »Das wäre nett.«
Ness schloß die Augen, öffnete sie wieder und lächelte. »Ganz schön clever. Dann müssen Sie also meine Brieftasche gefunden haben. Warum haben Sie mich nicht gleich gefragt, wo ich sie verloren hab? Warum dieses ganze Gerede drum herum?«
Niemand sagte etwas.
»Da bin ich ja erleichtert!« sagte Ness. »Ich bin nämlich nicht durchgekommen, um meine Kreditkarte sperren zu lassen. Jetzt bin ich froh, daß ich es nicht weiter versucht habe. Wo haben Sie sie gefunden?«
Locker, dachte Decker, natürlich. Der Junge war gut.
»Wo haben Sie sie denn verloren?« fragte Oliver.
»Wenn ich das wüßte, hätte ich sie selbst wiedergefunden.«
»Merkwürdig«, sagte Decker. »Sie waren den ganzen Tag hier, und die Brieftasche wurde ganz woanders gefunden, Michael.«
Ness zuckte die Achseln. »Wo wurde sie denn gefunden?«
Decker zuckte ebenfalls die Achseln. »An einem Mordschauplatz.«
Kelley stöhnte unwillkürlich auf. Ness starrte erst sie an, dann Decker.
»Haben Sie dafür eine Erklärung, Mike?« fragte Oliver.
»Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden!«
»Möchten Sie einen Anwalt?« fragte Decker.
»Einen Anw … Wozu sollte ich einen Anwalt …?«
»Wie Sie wollen«, sagte Decker.
»Michael, sag nichts mehr.« Kelley stand auf. »Ich besorge dir einen Anwalt.«
»Aber ich brauche keinen … Ich weiß nicht, wie meine Brieftasche an einen Mord … was … wer wurde überhaupt ermordet?«
»Gute Frage«, sagte Oliver.
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
»Von wie viel Morden wissen Sie denn, Mike?« sagte Decker.
»Reden Sie von Kingston Merritt?«
»Michael, halt den Mund!« befahl Kelley.
»Na hör mal, jeder, der Lilah und Davida nahesteht, weiß, daß Kingston letzte Nacht ermordet wurde. Das ist furchtbar, aber ich habe nichts damit zu tun. Ich weiß nicht, wie meine Brieftasche dahingekommen ist. Mein Gott, ich hab den Mann vor ein paar Tagen überhaupt erst kennengelernt. Wir hatten einen kleinen Streit. Ihre Kollegin war doch sogar dabei. Vielleicht war Merritt so sauer auf mich, daß er meine Brieftasche gestohlen hat.«
»Kingston Merritt soll Ihre Brieftasche gestohlen haben?« sagte Oliver.
»Ich weiß es nicht.« Ness begann auf und ab zu gehen. »Ich weiß es nicht, okay?«
Decker bemerkte die Panik in der Stimme des jungen Mannes. Sein Gefühl sagte ihm, daß Ness in die Sache verstrickt war. Jetzt mußte er nur noch herausfinden, wie tief. »Wo waren Sie gestern, Mike?«
»Ist das ein offizielles Verhör?« verlangte Kelley zu wissen.
»Wenn Sie wollen, Ma’am, kann ich ihm seine Rechte vorlesen«, sagte Oliver.
»Das ist doch absolut absurd!« sagte Kelley.
»Nein, Ms. Ness, so sieht es das Gesetz vor.« Oliver las Ness seine Rechte vor. »Okay, dann werden wir Sie jetzt festnehmen …«
»Festnehmen?« schrie Kelley. »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst!«
»Ich schwöre, ich hab keine blasse Ahnung«, sagte Ness. »Ich war nicht dort … ich meine, meine Brieftasche …« Er begrub das Gesicht in den Händen. »Hören Sie, wenn Sie mich festnehmen wollen …«
»Michael, halt den Mund!« brüllte Kelley.
»Kelley, besorg mir einen Anwalt. Er soll zur Polizei kommen …«
Kelley sprang vom Bett auf und stellte sich vor die Tür. »Ich laß dich nicht mit ihnen gehen, Michael! Das kannst du nicht machen!«
»Kelley …«
Sie wurden durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen.
»Erwarten Sie jemanden?« fragte Oliver.
Ness schloß die Augen und sagte: »Nein, niemanden.«
Decker öffnete die Tür und sah überrascht Justice Ferris und Don Malone vor sich stehen. Die Detectives von Burbank hatten einen hellhäutigen Schwarzen zwischen sich, dessen Arme mit Nylon-Handschellen auf dem Rücken zusammengebunden waren. Donnie hatte den für Detectives typischen verknitterten braunen Anzug an. Justice hingegen trug einen schwarzen Anzug, dazu schwarzes Hemd, schwarze Eidechs-Stiefel und eine weiße Krawatte. Er sah aus wie ein Hollywoodproduzent oder ein Dealer.
»Wer sind denn Sie?« fragte Ferris Oliver.
»Devonshire – Mordkommission«, sagte Oliver.
Kelley stöhnte erneut auf, dann legte sie eine Hand auf ihren Mund und wich zur Wand zurück.
Nett, dachte Decker, sie war also auch in die Sache verwickelt. Ihre Hände zitterten, und ihre Stirn glänzte plötzlich vor Schweiß. Decker sah zu Ness. Dessen Gesicht war vor Wut verzerrt.
»Du verdammtes Schwein!« fauchte Ness. »Du hast mich reingelegt!«
»Es ist nicht so, wie du denkst, Mike!«
»Halt die Klappe, Eubie!« brüllte Kelley.
Jeffers preßte die Lippen zusammen. Decker stellte diejenigen, die sich noch nicht kannten, einander vor und fragte, was los sei.
»Mr. Jeffers steht in Verdacht, Kingston Merritt ermordet zu haben. Ihm wurden bereits seine Rechte vorgelesen. Er hat uns bereitwillig einige Informationen gegeben. Anscheinend hatte er einen Partner …«
»Du Schwein!« wiederholte Ness.
»Ich mußte es tun, Mike«, jammerte Jeffers. »Aber es ist nicht so, wie du denkst!«
»Eubie, halt die Klappe!« fuhr Kelley ihn wieder an.
»Was wollen Sie von Mr. Ness?« fragte Malone Decker.
»Vorsätzlicher Mord …«, sagte Oliver.
»Was!« schrie Ness. »Ich hab niemanden umgebracht!«
»Wie kam dann Ihre Brieftasche an den Tatort?« fragte Oliver.
»Ich war nicht dort. Nur meine Brieftasche.« Ness zeigte mit einem Finger auf Jeffers. »Dieses verdammte Arschloch hat sie mir gestohlen, um mir die Sache anzuhängen!«
»Hab ich nicht!« protestierte Jeffers.
»Brieftasche?« fragte Ferris. »Was für eine Brieftasche?«
»Wir tauschen später unsere Informationen aus«, sagte Decker zu Malone. »Haben Sie genug, um Ness festzunehmen?«
»Aufgrund von Jeffers Aussage können wir ihn auf jeden Fall vierundzwanzig Stunden festhalten.«
Kelley trat vor, warf sich in Rednerpose und verkündete: »Mike hat niemanden umgebracht, und Eubie auch nicht!«
»Kelley, halt den Mund!« sagte Ness.
Sie ignorierte ihren Bruder und sagte zu Malone: »Ich weiß nicht, was Sie gegen Eubie vorliegen haben, aber ich weiß, daß Eubie versucht hat, Mike was anzuhängen, um mich zu schützen …«
»Was?« sagte Ness.
»Michael, es tut mir ja so leid!« sagte Kelley. »Ich wollte es dir nicht erzählen, aber …« Sie senkte den Blick, dann schaute sie wieder auf. »Eubie hat mich gebeten, ihm zu helfen, eine Leiche aus dem Büro von Kingston Merritt zu entfernen …«
»Du hast meine Schwester in die Sache mit reingezogen, du Wichser?« brüllte Ness.
»Mike, bitte!« flehte Jeffers. »Ich hätte es allein nicht geschafft …«
»Halt deine verdammte Schnauze! Du kotzt mich an!« Dann sagte Ness mit leiserer Stimme zu seiner Schwester: »Und was dich betrifft …«
»Ich hab’s getan, ist das klar?« brüllte Kelley ihn nieder.
»Ich werde Ihnen jetzt Ihre Rechte vorlesen, Ms. Ness«, sagte Oliver.
»Ich hab die Leiche weggeschafft, mehr hab ich nicht …«
»Warten Sie, bis ich das rausgeholt hab, Ma’am«, sagte Oliver und zog eine Karte aus seiner Tasche.
»Das kann ich nicht!« Kelley wandte sich an Decker. »Hören Sie mir bitte zu! Dr. Merritt und Russ … Russ Donnally war die zweite Leiche … waren beide schon tot, als Eubie und ich dort hinkamen! Eubie und ich haben nichts weiter getan, als Russ aus Dr. Merritts Büro zu tragen. Er war bereits tot! Beide waren tot!«
»Warum haben Sie dann aufgestöhnt, als wir von Mord sprachen?« fragte Decker.
Kelley wischte sich die Tränen aus den Augen. »Ich hab Davidas Limousine in Brand gesetzt.«
»Mit Russ.«
»Er war bereits tot.«
»Warum haben Sie ihn denn dann verbrannt, Kelley?«
Kelley wirkte niedergeschlagen. »Damit es vielleicht nach einer Drogenrazzia aussieht, die schiefgegangen ist. Russ hat schließlich reichlich Speed und Koks genommen.« Sie ließ den Kopf hängen. »Es hätte vermutlich auch geklappt, wenn ich nicht die Brieftasche von meinem Bruder verloren hätte …«
»Warum hatten Sie denn die Brieftasche Ihres Bruders bei sich?«
»Ich hab Sachen von Michael angezogen. Falls mich jemand sehen würde, würde man mich für einen Mann halten und nach zwei Typen fahnden. Leider hab ich ausgerechnet die Jacke erwischt, in der Mikes Brieftasche war. Ich wußte überhaupt nicht, daß ich sie hatte, bis Mike mir erzählte, daß sie weg wär.«
»Um Himmels willen, warum hast du denn nichts …«
»Michael, bitte!« Kelley atmete tief durch. »Sie sollten also schon eindeutige Beweise haben, um Mike mit dem Verbrechen in Verbindung zu bringen – nicht nur seine Brieftasche und Eubies Aussage. Eubie hat einfach behauptet, Mike wär sein Komplize gewesen, um mich zu schützen.« Sie sah ihren Bruder an, dann senkte sie den Blick. »Eubie und ich lieben uns.«
Ness’ Gesicht wurde vollkommen ausdruckslos. Ganz langsam verzog sich sein Mund zu einem schiefen Grinsen. »Du bist so gut wie tot, Jeffers!«
»Mike, bitte«, flehte Jeffers. »Ich brauchte Hilfe.«
»Du bist … so gut wie … tot!«
Ness sprang so plötzlich nach vorn, daß er alle überrumpelte. Durch die Wucht, mit der er auf Jeffers prallte, wurde Malone umgerissen. Ferris konnte seinen Partner gerade noch auffangen, bevor er zu Boden ging. Mit einem Satz warf Decker sich auf Ness und zog dessen Hände von Jeffers Hals. Nachdem ihm das gelungen war, hatte er auch keine Mühe, Ness unter Kontrolle zu kriegen. Er zwang ihn, sich mit gespreizten Beinen auf den Bauch zu legen, die Hände auf den Rücken.
»Aufhören!« kreischte Kelley und hämmerte Decker auf den Rücken.
Oliver zog sie von Decker weg.
»Lassen Sie meinen Bruder los!« brüllte Kelley, während sie sich in Olivers Armen wand.
»Wenn Sie Ihrem Bruder helfen wollen, dann halten Sie sich zurück!« schrie Oliver.
Plötzlich war es ganz ruhig im Zimmer. Decker band Ness mit seinem Gürtel die Hände auf den Rücken und sorgte dafür, daß er auf dem Boden liegen blieb. Alles, was Kelley ausgeplaudert hatte, würde vor Gericht nicht zulässig sein, weil man ihr ihre Rechte nicht vorgelesen hatte. Aber zumindest würden sie wissen, wonach man sie fragen mußte.
»Wen nehmen wir denn jetzt alles fest?« fragte Malone.
Decker richtete Ness auf, hielt ihn aber am Arm fest. Dann sah er Jeffers an. »Wollen Sie ihn wegen tätlichem Angriff anzeigen?«
»Lassen Sie ihn los«, flüsterte Jeffers.
»Beantworten Sie meine Frage, Eubie«, sagte Decker. »Wollen Sie ihn anzeigen?«
»Nein.«
Decker riß Ness herum. »Sind Sie jetzt friedlich?«
»Ja, bin ich.« Ness starrte Jeffers wütend an.
»Ich mein das ernst, Mike«, sagte Decker. »Wagen Sie’s nicht, Eubie auch nur anzugucken. Wenn Sie nur eine falsche Bewegung machen, dann können sich diese Nacht ein paar richtig harte Jungs mit Ihrem Arsch amüsieren. Kapiert?«
»Ja.«
Decker ließ Ness los und sagte zu Malone und Ferris: »Gegen Jeffers haben Sie ja Beweise. Nehmen Sie ihn und die Frau mit.«
»Sie waren tot, als ich dort hinkam!« rief Kelley. »Sie müssen sich gegenseitig erschossen haben …«
»Kelley, halt den Mund!« sagte Ness.
»Ich lese Ihnen jetzt Ihre Rechte vor, Ms. Ness«, sagte Oliver. »Bis dahin sollten Sie lieber auf Ihren Bruder hören.«
»Ich hab doch keinen Mord zugegeben«, faselte sie, »bloß daß ich eine Leiche weggetragen und verbrannt hab …«
»Halten Sie den Mund, Ms. Ness, und lassen Sie mich Ihnen Ihre Rechte vorlesen.«
Oliver zog noch einmal seine Karte heraus und las ihr die Rechte vor. Darauf sagte Decker: »Ich habe noch eine kleine Frage an Sie beide. Wer hat Sie denn beauftragt, die Leiche zu entfernen?«
Kelley starrte Eubie an, dann senkte sie den Kopf. »Niemand.«
»Hier geht es um Mord, Ms. Ness«, sagte Oliver.
»Kelley, tu’s nicht!« fiel Ness ihm ins Wort.
»Mike, ich muß es tun!« Kelley dämpfte ihre Stimme. »Ich muß. Ist schon okay. Ich hab nur eine Leiche weggeschafft.«
»Wer hat Sie darum gebeten?« fragte Decker.
Kelley schwieg.
»Sie haben einfach beschlossen, eine Leiche zu verbrennen, Ms. Ness?« sagte Malone.
»Ich bin aus persönlichen Gründen zu Dr. Merritt gegangen«, sagte Kelley. »Ich … es war furchtbar. Ich hab gesehen …« Sie zögerte. »Das Image der Beauty-Farm ist mir sehr wichtig. Russ war ein Widerling. Ihn wird niemand vermissen. Warum sollte man die Beauty-Farm in die Sache hineinziehen. Ich hab’ es aus eigenem Antrieb getan.«
»Sie lügen«, sagte Oliver. »Wen wollen Sie schützen?«
»Niemand.«
»Warum sind Sie zu Dr. Merritt gegangen?« fragte Decker.
»Frauenprobleme.« Ihr Blick wurde hart. »Keine Abtreibung, falls Sie das meinen.«
Sie hatte wieder auf stur geschaltet. Das hatte sich wohl auch schon früher für sie bewährt. Bruder und Schwester tauschten Blicke – eine Verständigung ohne Worte. Decker fragte sich, was die beiden zu verbergen hatten. Er sah zu Jeffers. »Haben Sie was dazu zu sagen?«
»Sie ist der Boß«, flüsterte Jeffers.
»Gehn wir«, sagte Malone.
»Kelley«, rief Ness, »sag bloß nichts, und, Eubie, du auch nicht, bis ihr mit einem Anwalt gesprochen habt.« Er fuhr zu Decker herum. »Wollen Sie vielleicht Ihren Gürtel zurückhaben? Im Augenblick nützt er weder Ihnen noch mir was.«
Decker sah Ness ins Gesicht. Der pure Trotz. Gespeist von Wut oder von Angst oder von beidem? Er knotete seinen Gürtel auf und schlang ihn sich um die Taille.
Ness rieb sich die Handgelenke. »Dann bin ich also frei?«
»Frei würd ich das nicht unbedingt nennen, Mikey.« Decker lächelte. »Sagen wir mal so … vorläufig sind Sie aus dem Schneider.«