31

Davidas Bungalow lag, eingezäunt und durch wildwuchernde, blühende Büsche vor neugierigen Blicken verborgen, auf einer Anhöhe etwa hundert Meter hinter dem Haupthaus der Beauty-Farm. Decker kam sich vor als wäre er auf Safari, als er mit Marge über den Plattenweg hinauf zum Eingangstor ging. An einem Zaunpfosten war die Sprechanlage angebracht. Marge drückte den roten Knopf, und eine kratzige Stimme fragte, wer da sei. Decker nannte seinen Namen. Das Tor wurde aufgedrückt, und sie betraten das Grundstück – ein grünes hügeliges Gelände im Schatten einer riesigen Eiche. Davidas Haus war auf der Spitze des Hügels. Er und Marge begannen die Natursteintreppe hinaufzusteigen.

»Ich fang schon an zu schwitzen«, sagte Marge.

»Das ist die Nachmittagshitze«, sagte Decker. »Die raubt einem die ganze Energie.«

»Dieser ganze Fall raubt mir meine Energie.«

»Was du nicht sagst.«

»Was hat denn Morrison gesagt, als du ihn auf den Durchsuchungsbefehl angesprochen hast?«

»Er war nicht sehr glücklich darüber«, sagte Decker. »Aber schließlich ist er ein guter Cop. Hat gleich gesagt, ich soll ihn mir besorgen, aber dann hinzugefügt, es möglichst vor der Presse geheim zu halten.«

»Und was passiert, wenn wir Davida zum Verhör mitnehmen?«

Decker machte ein säuerliches Gesicht. »Darüber machen wir uns Gedanken, wenn es soweit ist. Erst mal durchsuchen wir das Haus, dann werd ich irgendwie zur Befragung übergehen und versuchen, sie zu irgendeiner unbedachten Äußerung zu verleiten.«

»Viel haben wir ja gerade nicht gegen sie in der Hand.«

»Noch nicht.«

Davida erwartete sie an der Tür. Ihr Lächeln war in etwa so einladend wie ein Eimer eiskaltes Wasser ins Gesicht.

»Da haben wir Sie ja endlich erwischt«, stellte Marge fest.

Davidas Lächeln wurde breiter. »Mich erwischt? Das klingt aber bedrohlich.«

Decker präsentierte ihr den Durchsuchungsbefehl für den Bungalow. Davida warf einen flüchtigen Blick darauf, dann trat sie zur Seite. »Kommen Sie doch herein.«

Sie betraten ein völlig überladenes, aber teuer eingerichtetes Wohnzimmer. Decker bemerkte die Bilder -englische Maler, berühmte Namen. An den Wänden hingen mehrere Millionen Dollar.

»Möchten Sie eine Tasse Kaffee?« schnurrte Davida.

Jetzt war sie ganz Gastgeberin, dachte Decker. Schauspielerinnen. Spielen die jemals sich selbst? Wissen sie überhaupt, wie das geht? »Nein, danke.« Er sah auf die Uhr. Noch fünf Stunden bis zum Sabbat. Zu Marge gewandt, sagte er: »Ich nehm das Wohnzimmer, du das Schlafzimmer.«

»Du hast es erfaßt, Pete.«

»Darf ich fragen, wonach Sie suchen?« sagte Davida.

Decker betrachtete die alte Frau. Sie war amüsiert. Er entfernte ein Rückenpolster von dem pinkfarbenen Diwan. »Wir versuchen, es so schnell und ordentlich wie möglich zu machen.«

»Stehe ich wegen irgendwas unter Anklage?« fragte Davida.

»Im Augenblick nicht.« Decker fühlte in den Spalt hinten an der Couch. Nicht ein Krümel, geschweige denn Papiere oder eine Waffe. Er nahm das Polster, drückte es Zentimeter für Zentimeter, dann zog er den Reißverschluß des Überzugs auf und sah hinein. »Aber gehen Sie nicht weg. Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Was für Fragen?«

»Lassen Sie mich erst die Durchsuchung beenden, Ms. Eversong. Ich kann mich nur schwer auf zwei Dinge gleichzeitig konzentrieren.«

Davida stiefelte zur Bar und schenkte sich einen Schuß Wild Turkey ein. »Wenn ich nicht unter Anklage stehe, warum durchsuchen Sie dann mein Anwesen?«

Decker schenkte ihr ein rätselhaftes Lächeln und dachte: Ich nehm dir die Bude auseinander, weil ich schon immer gern Schatzsuche gespielt hab. Aber eigentlich war es eine durchaus berechtigte Frage. Jedenfalls würde er ihr nicht erzählen, daß sie nach Beweisen suchten.

Der Fall steckte auf frustrierende Weise in einer Sackgasse. Sie hatten von Frederick Brecht erfahren, daß Davida sowohl ihn als auch Kingston bestochen hatte, für sie die schmutzige Arbeit zu erledigen. Brecht sollte Lilah den ganzen Abend beschäftigen, damit Kingston einen sauberen kleinen Einbruch machen und die Memoiren von Hermann Brecht mitnehmen konnte. Der ursprüngliche Plan war, daß Kingston der alten Dame die Memoiren übergeben würde und dafür Geld für seine Forschungen bekäme. Doch der gute King besann sich eines anderen, nachdem er mit Lilah gesprochen hatte. Plötzlich wollte er mehr als nur Geld. Er wollte die Beziehung zu seiner Schwester/Tochter wiederherstellen. Mit solchen familiären Bindungen hatte Davida nicht gerechnet, weil ihr so etwas fremd war.

Den Rest konnte Brecht nur mutmaßen. Er war sich ziemlich sicher, daß seine Mutter Russ Donnally zu Merritts Praxis geschickt hatte. Die große Frage war nur, warum. Sollte Donnally die Memoiren klauen? Das durchwühlte Büro deutete zweifellos darauf hin. Oder sollte er vielleicht noch mehr tun?

Decker suchte beharrlich weiter, ohne sich seinen Frust anmerken zu lassen.

Die Aussage von Freddy Brecht war Deckers einzige Quelle. Er hatte keinerlei konkreten Beweis – nur Davidas Wort gegen das von Freddy. Kaum genug, um einen Richter zu überzeugen, einen Durchsuchungsbefehl zu unterschreiben, damit man nach den verdammten Papieren suchen konnte und nach den Waffen, mit denen King und/oder Russ Donnally ermordet worden waren. Wo die Papiere waren, das wußten die Götter. Decker befürchtete, daß er zu guter Letzt wahrscheinlich mit leeren Händen dastehen würde. Aber man sollte ja nichts unversucht lassen.

Sein Blick schweifte zu Davida. Sie trug einen flamingofarbenen seidenen Morgenmantel mit einer breiten Schärpe. Ihre weißen Füße steckten in Pelzpantoffeln -vermutlich gefärbter Nerz. Ihr Gesicht war sorgfältig geschminkt. Klare Augen ohne Tränensäcke, darüber fedrig zarte Wimpern. Ein wenig Rouge auf den Wangen. Die Lippen herzförmig nachgezogen und mit Gloss geschminkt. Ihre Haare waren erst kürzlich gemacht worden, kurze schwarze Fransen, die ihr Gesicht bis zum Kinn einrahmten. Sie sah aus wie ein Mittfünfzigerin, eine attraktive Mittfünfzigerin. Sie schien zu merken, wie sie begutachtet wurde und klapperte mit den Wimpern.

»Wenn Sie mir einfach sagen, was Sie suchen, könnte ich Ihnen vielleicht einige Mühe ersparen.«

Decker wandte sich wieder der Couch zu. Er kippte sie nach hinten, um die Unterseite zu untersuchen. Keine Anzeichen, daß sich jemand daran zu schaffen gemacht hatte.

»Es geht um diese völlig frei erfundenen Memoiren. Hab ich recht?«

Decker antwortete nicht.

»Peter, hören Sie doch um Himmels willen auf, Ihre Zeit mit ein paar dummen alten Papieren zu vertrödeln, suchen Sie lieber nach meinem Schmuck. Damit haben Sie bestimmt noch keinerlei Fortschritte gemacht, was?«

»Doch, haben wir. An Ihrer Stelle würd ich mal mit Lilah reden.«

»Lilah? Lilah hat ihn? Sie hat meine kleinen kostbaren Schnuckelchen gestohlen?« Ihre Finger ballten sich zur Faust. »Ich bringe dieses kleine, undankbare Wesen um!«

»Wenn sie sich nicht vorher selbst umbringt«, fügte Decker hinzu.

»Diese alberne Geste?« Davida ließ sich in einen Sessel fallen. »Also bitte! Lilah ist eine sehr kompetente Frau und eine wunderbare Schauspielerin. Sie hat ihre Berufung verfehlt. Wenn sie sich wirklich hätte umbringen wollen, hätte sie es auch geschafft. Das war nichts weiter als ein Versuch, auf sich aufmerksam zu machen. Gewiß ein oscarreifer Versuch, aber ich durchschaue das natürlich. Und Sie marschieren jetzt sofort zu ihr, Peter, und verlangen, daß sie Ihnen meinen Schmuck gibt!«

»Möchten Sie, daß wir Ihre Tochter offiziell wegen des Diebstahls festnehmen?«

»Festneh … sagen Sie ihr nur, sie soll mir den Schmuck zurückgeben.«

»Möchten Sie Anzeige …«

»Hören Sie endlich auf!« sagte Davida in scharfem Ton. »Sie reden wie in einem schlechten Film.«

Decker antwortete nicht, sondern suchte weiter. Jetzt kam es darauf an, wer wen psychisch kleinkriegen konnte. Die Chancen standen ganz gut für Davida, aufgrund ihrer jahrelangen Erfahrungen mit dem ausgeflippten Hollywood. Aber man sollte auch Rabbi Pete nicht unterschätzen … all die Jahre, in denen er Verbrecher verhört hatte …

»Wenn Sie Ihren Schmuck wiederhaben wollen, Davida«, sagte Decker, »ist es vermutlich einfacher, wenn Sie selbst mit Lilah reden. Aber das ist Ihre Entscheidung. Ich bin nur ein bezahlter Staatsdiener. Rein persönlich interessiert Ihr Schmuck mich überhaupt nicht. Aber Hermanns Papiere, die interessieren mich. Und ich glaube, Sie auch.«

Die alte Frau lachte höhnisch. Ein richtig verächtliches Gackern. Ein Punkt für die Schauspielerin.

»Wissen Sie, was ich denke«, fuhr Decker fort, »nein, ich weiß es sogar, daß nämlich King für Sie die Papiere geklaut hat. Aber in letzter Minute hat er beschlossen, sie zu behalten, statt sie Ihnen für die versprochenen Forschungsgelder auszuhändigen.«

Davida schlenderte zur Bar und schenkte sich einen weiteren Bourbon ein. »Wo haben Sie denn diesen Unsinn her?«

Wieder dieser sarkastische Unterton in der Stimme. Aber diesmal ohne echte Überzeugung. Ein Punkt für den Detective.

»Dr. Brecht«, sagte Decker.

»Freddy?« Davida runzelte die Stirn. »Was führt der denn jetzt im Schilde? Dieser Junge bringt mich noch mal ins Grab. Das hat man davon, wenn man Kinder zweifelhafter Herkunft adoptiert.«

Decker nahm sich einen Ohrensessel vor. Er hörte, wie Davida mit einem Fuß auf den Boden stampfte. »Wenn Freddy sich schon so eine abenteuerliche Geschichte zusammengesponnen hat, die mich in Konflikt mit dem Gesetz bringt, warum stehe ich dann nicht unter Anklage?«

Decker grinste. »In Konflikt mit dem Gesetz. Das gefällt mir.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

Decker bückte sich und sah unter das Sofa – nichts, noch nicht mal Staubflocken. Die Frau mußte gut zahlen, um so ein sauberes Haus zu haben.

»Sie haben nichts gegen mich in der Hand, stimmt’s?« behauptete Davida. »Danach suchen Sie also! Irgendwas Belastendes gegen mich! Also, Peter, ich werde Ihnen jetzt einen großen Gefallen tun. Sie verschwenden Ihre Zeit. Hier werden Sie nichts finden … keine Memoiren … gar nichts. Wenn Sie glauben, daß Kingston die Papiere an sich genommen hat, dann suchen Sie doch bei ihm.«

Decker antwortete nicht. Burbank hatte Kingstons sämtliche Adressen durchkämmt … nichts.

»Peter, ich schwöre Ihnen, ich habe diese Memorien nie gesehen.«

Decker betrachtete die alte Frau. Sie war nervös. Sie biß auf ihren Daumennagel, dann fuhr sie mit den Fingerspitzen über ihr Kinn. »Wenn Sie diese angeblichen Papiere finden, was werden Sie dann damit tun?«

»Sie dem rechtmäßigen Besitzer geben.«

»Es wäre nicht gut für Lilah, sie zu lesen.«

»Aber es wäre vielleicht gut für Dr. Brecht. Für ihn waren Sie doch überhaupt bestimmt. Schließlich war Hermann Brecht ja Fredericks Vater, nicht wahr?«

Davida verharrte einen Augenblick reglos. Dann stürzte sie ihren Drink hinunter. »Sie reden Unsinn, mein Freund. Das ist ein Euphemismus für Scheiße! Wenn Sie noch weiter grundlose Behauptungen aufstellen wollen, bitte sehr. Aber an Ihrer Stelle würde ich mich zurückhalten. Ich habe nämlich einen sehr guten Anwalt unter Vertrag – für verleumderische Hunde wie Sie. Ich rate Ihnen, vorsichtig zu sein, Peter.«

»Wo waren Sie am Mittwoch zwischen drei und sechs, Davida?«

»Oh, jetzt werde ich also offiziell verhört? Brauche ich einen Anwalt, Detective?«

»Warum nicht, Davida? Wenn er eh unter Vertrag steht.«

»Scheren Sie sich zum Teufel!«

»Ganz ruhig.« Decker rief Marge aus dem Nebenzimmer herein, dann nahm er eine Karte aus der Tasche und las der alten Dame ihre Rechte vor. Außerdem zog er einen Minikassettenrecorder hervor und stellte ihn an.

»Haben Sie was dagegen?«

»Kein Problem.« Davida betrachtete ihre Fingernägel. »Wird Ihre kleine Spießgesellin mir jetzt Handschellen anlegen?«

»Nein, sie wird Ihnen keine Handschellen anlegen. Sie stehen nicht unter Anklage.«

»Warum haben Sie mir dann meine Rechte vorgelesen?«

»Ich geh wieder ins Schlafzimmer«, sagte Marge. »Ruf mich, wenn du mich brauchst, Pete.«

Decker nickte. »Was wollen Sie denn von mir?« fragte Davida.

»Warum haben Sie Kingston umbringen lassen?«

»Haben Sie den Verstand verloren, Peter?« Davida warf den Kopf zurück. »Ich habe ihn nicht umbringen lassen.«

»Wie ist er denn dann gestorben?«

»Wie zum Teufel soll ich das wissen? Ich war nicht dort!«

»Wenn Sie nicht dort waren, wo waren Sie denn dann letzten Mittwoch zwischen drei und sechs?«

»Ich muß Ihre Fragen nicht beantworten.«

»Nein, das müssen Sie nicht.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen.

»Wenn Sie es unbedingt wissen müssen, ich fuhr vermutlich gerade nach Malibu raus.«

Decker setzte sich auf das Sofa. »Sie sind mit Ihrer tollen Limousine nach Malibu gefahren, was?«

»Ich reise immer äußerst stilvoll.«

»Nur komisch, wie Sie zur gleichen Zeit mit der Limousine nach Malibu fahren konnten, wo doch Russ Donnally mit der Limousine auf dem Parkplatz von Kingston Merritt stand.«

Die alte Frau lehnte sich gegen die Wand und schloß die Augen. »Sie sind sehr gut.«

»Sie haben Donnally Kingston auf den Hals gehetzt«, sagte Decker.

»Ich habe Albert niemandem auf den Hals gehetzt!«

»Albert?«

»Russ.« Davida lächelte. »Ich hab ihn Albert genannt. Ich fand, der Name paßte besser auf einen Chauffeur.« Erneut klapperte sie mit den Wimpern. »Finden Sie nicht auch?«

Decker verdrehte die Augen.

»Und wenn Albert beschlossen hatte, zu Kingstons Praxis zu fahren«, sagte Davida, »und wenn Albert mit Kingston in Streit geraten ist, dann ist das doch nicht meine Schuld.«

»Russ Donnally war bei Ihnen angestellt, Davida. Hier geht es möglicherweise um Anstiftung zum Mord …«

»Das ist doch absurd! Ich will mit meinem Anwalt reden.«

»Sie wissen, wo das Telefon steht.«

»Ach, Sie können mich mal!« Davida begann, auf und ab zu gehen. »Okay, also vielleicht ist Albert tatsächlich zu Kingstons Praxis gefahren. Nur um mit ihm zu reden … ihn verdammt noch mal zur Vernunft zu bringen. Zum Teufel mit Kingston. Er war sozusagen dabei, die Büchse der Pandora zu öffnen. Ich hatte keine Lust, mich jetzt noch mit diesem Mist auseinanderzusetzen. Man wird schließlich nicht jünger. Das können Sie sicher verstehen.«

Decker schwieg.

»Ich weiß nicht …« Davida holte tief Luft. »Ich weiß nicht, was passiert ist. Wenn Albert von sich aus zu Kings Praxis gefahren ist und sich wie ein Vollstrecker der Mafia verhalten hat, dann ist das nicht meine Schuld.«

Davida fuhr mit der Hand an ihre Kehle.

»Mein Sohn hatte immer eine Waffe in seinem Büro. Und Albert … er … war auch immer bewaffnet. Da kam er sich ganz toll vor, der kleine Mistkerl. Vielleicht hat Albert irgendwelche Forderungen an King gestellt. Und King war furchtbar jähzornig. Vermutlich geriet die Situation außer Kontrolle. Vermutlich haben sie … beide aufeinander losgeballert … wie in einem schlechten Western.«

»Kings Büro wurde durchwühlt, Davida«, sagte Decker.

»Sicher gab es einen furchtbaren … Kampf.« Erneut biß sie auf ihrem Daumennagel herum. »Ich weiß nicht, was passiert ist, weil ich nicht drinnen war. Ich bin rausgegangen, als ich …«

Sie verstummte. »Sie sind rausgegangen, als Sie Schüsse hörten?« sagte Decker.

Im Zimmer wurde es still. Die alte Frau ließ sich auf den Diwan sinken. Rosa Morgenrock auf rosafarbenen Polstern. Sie schien mit dem Sofa zu verschmelzen – eine Frau, die einerseits sehr präsent war, sich andererseits kaum von ihrer Umgebung abhob. Wie ein Basrelief. Doch ihre Stimme hatte sie immer noch unter Kontrolle – kein Zittern oder Jammern.

»Russ wollte nur mit Kingston reden, Sergeant.«

»Worüber wollte er mit ihm reden?«

»Kingston behauptete, er hätte die Memoiren.«

»Und Sie wollten Sie haben, stimmt’s?« sagte Decker.

Sie schwieg.

»Warum?« fragte Decker.

»Das geht Sie verdammt noch mal nichts an.«

»Sie haben Kingston beauftragt, sie zu stehlen …«

»Hab ich nicht!« Davida schien beleidigt. »Ich plappere eben manchmal so Sachen … so Sachen wie ›Gott, ich wünschte, ich hätte diese Papiere.‹ Ich kann doch nichts dazu, daß mein Sohn mich so sehr liebt, daß er mir jeden Wunsch zu erfüllen versucht.«

»Warum hat er es sich dann anders überlegt und beschlossen, die Papiere zu behalten, Davida?« sagte Decker.

»Das weiß ich nicht. Ich hab versucht, ihn anzurufen, um ihn genau das zu fragen. Aber er wollte nicht am Telefon mit mir darüber reden. Und ich war nicht bereit, in seine Praxis zu gehen, wo er diese ganzen Föten abschlachtet. Seine Forschungen haben mich ganz krank gemacht!«

»Was haben Sie mit der Waffe gemacht, die Sie Donnally gegeben haben?«

Ihr Blick wurde hart. »Was für eine Waffe? Ich besitze keine Waffe. Ich hab Ihnen doch gesagt, daß Albert immer bewaffnet war. Ich nicht. Ich habe keine Waffen. Das wird Ihre Durchsuchung bestätigen.«

Was bedeutete, wenn sich Waffen am Tatort befunden hatten, dann hatte sie vermutlich Kelley und Eubie beauftragt, sie zu beseitigen, als sie Russ’ Leiche holten. Allerdings schworen beide, sie hätten keine Waffen gesehen. Darüber würde er sich später Gedanken machen.

»Kingston hat Ihnen also nie erzählt, warum er es sich anders überlegt und beschlossen hatte, die Memoiren zu behalten?« sagte Decker.

Davida schwieg.

»Kennen Sie eine Frau namens Greta Millstein, Davida?«

Sie warf den Kopf in den Nacken und stieß ein schallendes, aber freudloses Gelächter aus.

»Mein Gott, wo haben Sie denn diese senile Sauerkrautfresserin ausgebuddelt? Die muß doch mindestens hundert Jahre alt sein.«

»Nee, so alt nicht. Nicht viel älter als Sie, würd’ ich sagen.«

Das saß. Mal wieder schmiß sie ihr leeres Glas quer durch das Zimmer. »Was für Märchen hat dieses verschrumpelte Naziweib Ihnen denn aufgetischt?«

»Diese Memoiren müssen für Sie ein großes Problem darstellen, Davida«, sagte Decker. »Nachdem Sie all die Jahre Freddy eingeredet haben, er sei adoptiert, könnte er nun seine wahre Herkunft erfahren. Und dann war da natürlich noch Lilah. Plus all die anderen Dinge, von denen in den Papieren die Rede ist, die Sie nicht ans Licht kommen lassen wollen – Dinge, die Sie sonst noch getan haben.«

Davida blickte verstört auf. »Was für andere Dinge?«

»Den Mord an Heidi Millstein.«

»Den Mord an Heidi … hat dieses alte Miststück etwa behauptet, ich sei für den Tod ihrer Tochter verantwortlich?« Davida begann auf und ab zu gehen. »Ich will Ihnen mal was sagen, Sergeant. Es war Heidis Entscheidung, mit meinem Mann zu bumsen. Es war Heidis Entscheidung, mit meinem Mann zu trinken. Und es war Heidis Entscheidung, sich Pillen reinzuziehen, während sie mit meinem Mann getrunken und gebumst hat. Mit meinem Mann, verstehen Sie das? MEIN Mann! Und selbst wenn sie ein paar törichte Entscheidungen getroffen hat, habe ich für dieses kleine Flittchen keine Tränen übrig. Ich bin froh, daß sie gestorben ist. Und wenn Hermann in seiner Gefühlsduselei das anders beschrieben hat, dann ist er nicht nur ein Arschloch, sondern auch ein Lügner!«

Außer Atem blieb sie stehen und ließ sich wieder auf das Sofa plumpsen. »Gießen Sie mir einen Drink ein, Peter.«

»Das gehört nicht zu meinem Job, Davida.«

»Tun Sie’s trotzdem für mich … bitte?«

Decker betrachtete ihr Gesicht – urplötzlich alt und besiegt. Er stand auf und schenkte ihr einen Fingerbreit Bourbon ein. Davida hielt das Glas mit zitternden Händen und trank in hastigen Schlucken.

»Der gute alte Freddy. Er muß mich verachten.«

Sie klang traurig. Aber mehr aus Selbstmitleid als aus Bedauern. »Ja, ich glaube, das tut er«, sagte Decker.

»Ich mußte … die Wahrheit verbergen. Das hätte zu viele Fragen ausgelöst.«

»Die Wahrheit wäre vielleicht einfacher gewesen, Davida. Täuschen ist immer anstrengend.«

»Ich hatte meine Gründe.«

»Das müssen aber sehr gute Gründe gewesen sein, daß Sie sich all die Mühe gemacht haben – Geheimnisse wahren und Papiere stehlen. Was wäre denn so schlimm daran gewesen, Freddy zu sagen, daß er Hermanns Sohn ist?«

Die alte Frau starrte ihn an. Tränen traten ihr in die Augen. »Es ging nicht um Freddy. Es ging um Lilah! Ich konnte nicht zulassen, daß sie die Wahrheit erfährt!«

Decker dachte daran, wie sehr Lilah Hermann Brecht verehrte. Was für ein Schock es für sie gewesen wäre, wenn sie erfahren hätte, daß Brecht gar nicht ihr Vater ist. Vielleicht hatte selbst eine so egozentrische Frau wie Davida das richtig eingeschätzt. Decker spürte, wie seine Arme fest umklammert wurden. Davida schüttelte ihn.

»Verstehen Sie das denn nicht, Peter? Ich hätte alles getan, um zu verhindern, daß Lilah …« Die alte Frau schloß die Augen. Ihre Wangen waren feucht und glänzten. »Diesen Gedanken konnte ich nicht ertragen!«

Sie senkte das Kinn auf ihre Brust und schluchzte ganz ungeniert.

Decker tätschelte ihre Schulter. »Was für einen Gedanken konnten Sie nicht ertragen, Davida?«

»Ich konnte es nicht …« Sie sah ihn mit verquollenen Augen an. »Ich hätte Lilah … nicht in die Augen sehen können … weil jedes Mal, wenn sie mich ansieht … hätte ich gewußt … daß sie denkt: Das ist meine Großmutter.«